Till Angersbrecht

Im Schatten der Schuld


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an sympathisch gewesen, gleich zu Beginn stand ich auf seiner Seite, versuchte sein Leben und Denken zu verstehen. Wenn irgendjemand schuldlos an dem versuchten Verbrechen ist, dann – so jedenfalls meine Meinung – gilt das von diesem Mann, dem Vater der Angeklagten.

      Niemand, der zuvor mit ihm Umgang pflegte, hätte Herrn v. Hochreith in seinem jetzigen Zustand wiedererkannt. Bis vor wenigen Tagen war er, was man eine Erscheinung nennt, ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und buschigen Augenbrauen, physisch imposant, geistig überlegen, aber ohne diesen Vorzug anderen gegensie rnehmer t, war genwar er . Hochreiths.über hervorzukehren. Anders gesagt, war er nie arrogant, sondern pflegte, wie man so sagt, gefällige Umgangsformen. Selbst wenn er in einer Sache unerbittlich sein musste, ließ er sich nie zu Anzeichen von Zorn oder gar Unmut hinreißen. Seine Waffen waren von feinerer, vornehmer Art. Es genügte, dass sich ein wenig Ironie in sein Lächeln mischte – die Kollegen und alle anderen, die ihm intellektuell das Wasser reichten, empfanden den Stich durch ein leicht belustigtes Lächeln nicht weniger tief, als wenn ein Tölpel sie mit einer Ohrfeige bedroht haben würde. Genau darin lag ja die Überlegenheit des Bankiers und ehemaligen Regierungsberaters Edwin v. Hochreiths, dass er nie laut werden, seinen Unmut nie nach außen zu kehren brauchte, um von jenen verstanden zu werden, die ihn verstehen sollten. Wenn man diesem Mann einen Mangel nachsagen konnte - einen sehr großen Mangel vermutlich -, dann war es nur der, dass er gar keinen Wert darauf legte, von anderen verstanden zu werden. Die anderen interessierten ihn nicht.

      Erst jetzt, sehr spät, wurde er sich bewusst, dass die anderen - all jene also, die seine Zurückhaltung und seine Ironie nicht verstanden – dass diese anderen die Mehrheit ausmachten, vor der ihn nun niemand mehr schützen würde. Die Mehrheit lauerte draußen vor seinem Haus, sie war frech genug, dauernd zu klingeln, ihm SMS auf sein Handy und Emails auf seinen Computer zu schicken.

      Woher hatten sie seine Nummer? Woher nahmen sie die Unverschämtheit, ihn mit Telefonanrufen und Botschaften zu belagern, seinen Namen in aller Öffentlichkeit in den Dreck zu ziehen, den Namen einer Familie, deren Stammbaum mit seinen tiefsten Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert reichte? Die ersten v. Hochreiths waren ein Rittergeschlecht aus dem südlichen Franken.

      Genau jene Mehrheit, die für ihn bis dahin keine Bedeutung besaß, die belagerte ihn nun. Es nützte ihm wenig, dass er drei Security-Leute damit beauftragt hatte, den Park vor der Villa und diese selbst gegen Eindringlinge zu schützen. Da hatte er immerhin das Recht und die Polizei auf seiner Seite. Auch wenn sein Anwesen nun ein Gefängnis war, aus dem man ihn morgens in einem dunklen Mercedes in die Bank im Zentrum der Stadt fahren musste, das Gefühl, in einem Gefängnis eingeschlossen zu sein, war nicht einmal das Schlimmste. Viel schlimmer war es, was sich gleich nach Bekanntwerden des Unfassbaren zeigte: Er musste erfahren, dass er, bisheriger Chef und Mittelpunkt der altehrwürdigen Hochreith-Bank, über Nacht zu einem existenziellen Risiko für die eigene Firma geworden war. Seine treuesten Mitarbeiter hatten ihn angefleht, öffentlich seinen Rücktritt bekanntzugeben. Nur einen knappen Augenblick lang währte seine Empörung. Dann war ihm klar, dass ihre Forderung nur zu berechtigt war. Die Aktien der Bank waren über Nacht auf ein Zehntel ihres Werts abgestürzt. Mancher Chef hatte schon allein deswegen zurücktreten müssen, weil die Kurve der Aktiennotierung nicht länger nach oben wies.

      Dies alles hätte Edwin v. Hochreith noch zu ertragen vermocht. Er war kein Schwächling, kein Mann, der vor Schicksalsschlägen feige zurückgeschreckt wäre. Zehn Jahre seines Lebens hatte er in Neu-Delhi verbracht, in einem Land, wo das Schicksal mit den Köpfen von mehr als einer halben Milliarde Menschen auf grausame Weise Würfel spielt. Von Hochreith kannte den Tod, er kannte die blutige Tatze des Ungeheuers, das sich in grimmiger Wut einen Spaß daraus macht, Menschen, die eben noch lachten und scherzten, zerfetzt in die Gosse zu schleudern. Vor dem Ungeheuren und Unberechenbaren hatte er nie die Augen verschlossen; er ahnte, dass niemand vor der Pranke eines mutwilligen Fatums vollkommen sicher war. Er ahnte es mit jenem ungläubigen Staunen und jenem Schauder, die ihn manchmal in Stunden der Muße heimsuchten, wenn er sich Fragen nach dem Wozu und Warum überließ, Fragen, die er in seinen Arbeitsstunden – und die machten den Großteil seines Lebens aus – weit von sich zu drängen vermochte.

      In solchen Stunden war er nicht länger der selbstbewusste, durch sein entschiedenes Handeln allen anderen überlegene Banker, als den man ihn draußen kannte, sondern ein Mann, den die Zweifel plagten. Schmerzhaft war er sich dann bewusst, dass es für ihn keine Erklärung gab, auch wenn andere, z.B. die Inder, in deren Land er mit seiner Familie ein ganzes Jahrzehnt verbrachte, alles so gut zu erklären glaubten. Dort waren sie überzeugt, dass es die Sünden oder Tugenden der eigenen vergangenen Existenzen waren, die den einen ins Unglück stießen, dem anderen Glück bescherten.

      Schön, wenn man eine so einfache Deutung besaß. Von Hochreith besaß sie nicht und machte sich auch nicht vor, sie zu besitzen. Ungläubig und manchmal fassungslos blickte er auf die Dinge, die sich in seinem Umfeld ereigneten.

      Oft war es ihm freilich eine Hilfe gewesen, die großartigen Verse jenes islamischen Mystikers Djalal od-Din Rumi aufzusagen, die in schöner Kalligraphie auf seinem Schreibtisch prangten:

      Ich bin das Sonnenstäubchen, ich bin der Sonnenball.

      Zum Stäubchen sag' ich: bleibe! und zu der Sonn': entwall!

      Ich bin der Morgenschimmer, ich bin der Abendhauch.

      Ich bin des Haines Säuseln, des Meeres Wogenschwall.

      Ich bin der Mast, das Steuer, der Steuermann, das Schiff;

      Ich bin, woran es scheitert, die Klippe von Korall'.

      Ich bin der Baum des Lebens und drauf der Papagei;

      Das Schweigen, der Gedanke, die Zunge und der Schall.

      Wenn er diese einzigartigen Verse sprach, dann geschah es fast immer, dass die beiden Moscheen links und rechts des Tadsch Mahals vor seinen Augen auftauchten. Er sah, wie ihre klaren Silhouetten im Dämmerlicht des Abends plötzlich zu leben und zu sprühen begannen und ihn in einen ganz seltsamen Zustand versetzten. Für einen flüchtigen Augenblick hatte er damals gefühlt, dass er selbst das Schweigen war und der Schall: die ganze ihn umschließende Welt und andererseits diese Welt nichts anderes als er selbst. Später, in seinen Mußestunden, versuchte er manchmal, die damalige Empfindung durch die Erinnerung erneut in sich zu beschwören, aber es gelang ihm nicht mehr, auch wenn die Verse Rumis ihn jedes Mal auf geheimnisvolle Weise berührten.

      Das Indien der Hindus und der Muslime lag bereits mehrere Jahre zurück. Edwin v. Hochreith war sich bewusst, dass die damaligen Gefühlsregungen eigentlich gar nicht zu einem Finanzfachmann passten. Seine tägliche Mission bestand darin, eine Vielzahl an praktischen Problemen zu lösen. Dennoch hatte Indien seine Spuren auch in ihm hinterlassen. Soweit es in seinen Kräften stand, hatte sich der Banker Edwin v. Hochreith vorgenommen, die Summe des Unglücks in dieser Welt nicht noch durch eigenes Tun zu vermehren. Das war sicher nicht immer leicht für den Chef eines Unternehmens, das einer überwiegend reichen Klientel zu Diensten sein musste. Doch war sich v. Hochreith zumindest keiner groben Verfehlungen bewusst; im übrigen schützte er sich durch wohlwollende Strenge und – wenn es sein musste – durch jenes ironische Lächeln, das ihn wie eine Festungsmauer umgab.

      Aber was war aus dieser Mauer geworden? Sie hatte ihn nicht vor dem größtmöglichen Unglück bewahrt: Jetzt, von einem Tag auf den anderen, stand seine Festung ohne alle schützenden Mauern da. Edwin v. Hochreith vermochte sich nicht länger zu wehren. Es war nicht so sehr der Verlust der Bank, seiner Bank, der ihn niederdrückte, obwohl ihn der erzwungene Rücktritt überaus schmerzte. Soviel hatte er in Indien gelernt, dass man jederzeit darauf gefasst und bereit sein musste, alles aufzugeben, was einem wichtig und teuer war. Aber eines konnte er nicht verschmerzen. Dieses eine hatte seine Schultern in wenigen Tagen gebeugt und zog ihn wie mit Bleigewichten hinab. Von diesem Schlag, so wusste er, würde er sich nie mehr erholen.

      Hochreith hatte sich aus dem Sessel erhoben; nach wenigen ziellosen Schritten durch den Raum blieb er vor dem ‚Zaubergarten’ von Emilie Rajputra stehen. Der Garten hatte ihm noch immer geholfen, er wusste selbst nicht warum. Waren es die feurigen Farben, diese rot und blau lodernden Bäume, die aus einem Labyrinth aufwuchsen? War es diese geheime Ordnung, die das scheinbar chaotische Wuchern beherrschte,