Till Angersbrecht

Im Schatten der Schuld


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schon für einen vollen Saal gesorgt, aber ein Anschlag geplant von einer jungen Frau aus bester Familie, das war eine Sensation, die auf Anhieb zum Gesprächsstoff für Millionen von Menschen wurde. Unbedingt wollte jeder wissen, was für ein Mensch oder besser, was für ein Unmensch diese Tochter aus bestem Hause war. ‚V. Hochreith’, diesen Namen hatte man bisher nur mit Ehrfurcht über die Lippen gebracht. Selbst als die meisten anderen Banken bereits ins Gerede gekommen waren, schien die Bank ‚Hochreith und Brüder’ jenseits allen Zweifels und aller Verdächtigungen zu stehen. V. Hochreith, dieser Name galt als Synonym für Seriosität und Anständigkeit - ein leuchtendes Gestirn an einem Himmel, an dem nur noch wenige Sterne glänzten, zu denen die Leute mit Vertrauen aufblicken konnten. Die Nachricht, dass eine Tochter aus diesem Haus beinahe ein unerhörtes Verbrechen begangen hätte, schlug deshalb im Bewusstsein der Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. Von einem Moment auf den anderen hatte der Name allen Glanz eingebüßt, sich schlagartig verdunkelt, statt Vertrauen erregte er nun äußerste Empörung. Dieser lief gleichsam mit einem Sprenggürtel herum. Auch wenn die Ordnungskräfte aufgrund ihres rechtzeitigen Eingreifens die Zündung dieses Gürtels verhindern konnten, der Name war ruiniert, in tausend unförmige Stücke zersprungen, zerfetzt und in den Dreck gezogen.

      Die im Gerichtssaal zusammengeströmten Menschen drängten sich in Erwartung auf einen Schauprozess. Sie hatten einem Namen vertraut und sahen sich in ihrem Vertrauen getäuscht. Das ist es, was Menschen am wenigsten vertragen und wogegen sie sich mit dem Bedürfnis nach Rache wehren. Wenn es kleine Leute, arme Teufel oder Irregeführte sind, die ein derartiges Verbrechen begehen, dann wird das allenfalls noch für begreiflich gehalten; von solchen Leuten kann man sich eben nichts Besseres erwarten. Aber eine Tochter aus einem Hause, das vielen bis dahin als Vorbild galt, das empfinden sie als Betrug, arglistige Täuschung oder schlimmer noch: als Verrat.

      Richterin Wollbruck hatte für solche Gefühle ein feines Gespür. Sie wusste, welche Erregung die Verletzung der öffentlichen Moral außerhalb des Gerichtssaal hervorzurufen vermag. Im Grunde, so ging es ihr durch den Kopf, erwartete die Menge im Saal und natürlich ebenso auch die durch die Presse seit Tagen aufgehetzte Öffentlichkeit eine Art staatlich inszenierter Hinrichtung von ihr, ähnlich wie während der Französischen Revolution, als eine sensationslüsterne Menge mit besonderem Genuss bei der Guillotinierung Dantons und Robespierres zusah, den einstigen Führern des Umsturzes. Die gleichen Gefühle waren auch in diesem Fall zu erwarten. Jemand, der bis dahin ganz oben stand und die besondere Achtung seiner Mitmenschen genoss, der sollte jetzt vor aller Augen ausgepeitscht werden; Julia v. Hochreith hatte die ihr entgegengebrachte Achtung schmählich missbraucht.

      Richterin Wollbruck war allerdings fest entschlossen, sich diesem Bedürfnis nach Rache energisch zu widersetzen. Sie war eine ruhige, nicht leicht zu irritierende Frau. Ihrer unbeirrbaren Gelassenheit und Selbstsicherheit verdankte sie die schnelle Beförderung auf den verantwortungsvollen Posten, den sie seit wenigen Jahren bekleidete. Es war sehr selten, dass jemand mit dreißig das Amt eines Richters übernehmen durfte. Es war außerdem nicht lange her, da wäre es noch undenkbar gewesen, dass die überwiegend maskuline Mannschaft der Jurisprudenz eine Frau mit diesem Amt betraut.

      Thea Wollbruck war sich gleichwohl sicher, dass der Prozess einfach verlaufen würde: eine reine Routine. Die Ausgangslage ließ ja keinerlei Zweifel zu. Julia Hochreith, die Angeklagte, hatte sich den Gürtel umgelegt und sich zu Fuß auf den Weg ins Zentrum der Stadt begeben. Wohin? Das hatte sie bis dato nicht sagen wollen, trotz intensiver Befragung durch die Kriminalpolizei, vielleicht war es der Gürtler Fleisch- und Gemüsemarkt, auf dem an einem Sonnabend Vormittag regelmäßig mehr als tausend Menschen zusammenströmen. Vielleicht war es die Kathedrale, die Folgen eines Terroranschlags wären dort noch viel grauenhafter gewesen. Die Angeklagte hatte nichts abgestritten, sie zeigte auch keinerlei Reue - eine solche Verbohrtheit sei ihm in seinem ganzen Berufsleben noch nicht vorgekommen, so der Polizeipräsident, der sich die Vernehmungsprotokolle hatte zur Durchsicht und Prüfung übermitteln lassen.

      Die Anwesenheit so vieler Menschen und der gespannte Blick der Öffentlichkeit auf den Prozess waren für Frau Dr. Wollbruck kein Anlass zu besonderer Besorgnis. Die Richterin war sich allerdings durchaus bewusst, dass der voraussehbare Andrang und der mögliche Einfluss, den die Volkswut auf das Verfahren ausüben könnte, vermutlich die Verantwortung dafür trugen, dass man gerade ihr den Prozess übertragen hatte. Gern hätte Thea Wollbruck darin einen Beweis besonderer Wertschätzung vonseiten ihrer Kollegen erblickt. Sie war aber Realistin genug, um zu wissen, dass man einen Fall wie diesen, der in der Öffentlichkeit höchstes Aufsehen erregt, gewöhnlich keinem Richter überträgt, der erst über ein halbes Jahrzehnt Berufserfahrung verfügt. Donnegat und Gersten, die beiden ältesten und wohl auch erfahrensten Richter des Hauses, wären zuallererst in Frage gekommen. Thea Wollbruck musste sich daher eingestehen, dass es weniger eine ihr entgegengebrachte besondere Wertschätzung als vielmehr das Bedürfnis der alten Herren war, das heiße Eisen möglichst weit von sich zu schieben, das sie veranlasst hatte, den Fall an sie abzutreten.

      Tatsache war dann aber, dass Thea Wollbruck den Casus sorg- und bedenkenlos übernommen hatte. Wenn ein Fall so eindeutig ist wie dieser, dann nimmt die Gerechtigkeit ihren durch nichts zu beirrenden Lauf - gerade dieser Umstand verschaffte der Richterin ein Gefühl von Verlässlichkeit und von Ordnung. Zwar war die Welt vorübergehend aus den Fugen geraten, aber sie, die Richterin, trug einen Anteil und ein Verdienst daran, dass die verletzte Ordnung anschließend wieder ins Lot gerät. Darin lag ihr eigener geringer Beitrag, der Beitrag der Jurisprudenz, so hatte es ihr Lehrer Prof. Kunz einmal großspurig, aber im Grunde ganz richtig ausgedrückt, zur Aufrechterhaltung dessen, was Theologen und Philosophen als Weltordnung bezeichnen. Darin liegt der eigentliche Sinn der Jurisprudenz.

      An diese Worte ihres damaligen Lehrers erinnerte sie sich gern. Selten waren ja die Momente echter Befriedigung, die sie mit der Gewissheit beschenkten, einen Beruf gewählt zu haben, mit dem sie nicht nur einverstanden sein konnte, sondern den sie auch wirklich liebte. In vielen Verfahren war es ja keineswegs ausgemacht, wo das Recht eigentlich lag, der Angeklagte war nur selten ein unzweideutiger Verbrecher, oft trugen auch Kläger und Opfer einen beträchtlichen Teil der Schuld. Eindeutig waren nur Paragraphen, die Wirklichkeit konnte bisweilen derart komplex aussehen, dass man nach einem Richtspruch mit einem unguten Gefühl, vielleicht sogar mit einem schwer zu verdrängenden Schuldbewusstsein das hohe Haus verließ.

      Insofern bedeutete der vorliegende Fall eine seltene Ausnahme. Wenn ein Mensch einen Sprenggürtel trägt, um unschuldige Mitmenschen mit sich in den Tod zu reißen, dann lassen die Fakten keinerlei Zweifel und Ungewissheiten zu. Dann durfte man zu hundert Prozent sicher sein, dass der eigene Beruf unverzichtbar und schlechthin notwendig ist und einen durch nichts zu ersetzenden Sinn besitzt.

      Richterin Wollbruck war sich ihrer Sache so vollkommen gewiss, dass sie sich sogar gewissen Erinnerungen überließ, die mit dem anstehenden Verfahren absolut nichts zu schaffen hatten. Es gab da einen Mann, Wendelin de la Mar, dem sie vor einer Woche im Reitclub begegnet war. Sie verhehlte sich nicht, dass sie zum ersten Mal nach dem unglücklichen Abenteuer einer kaum einjährigen Ehe gleich zum Beginn ihres Studiums, also nach beinahe dreizehn Jahren, eine gewisse Neigung in sich aufkeimen sah, deren sie sich nach der Trennung aus jener völlig verfrühten Verbindung überhaupt nicht mehr fähig glaubte. Während des Studiums, der darauf folgenden Assistenzzeit und in den vergangenen fünf Jahren ihrer Stellung als Richterin hatte sie für Männer absolut keinen Blick gehabt, ihn nicht einmal haben dürfen. In die hohe Stellung als Richter gelangte man nicht als eine Frau, die sich nebenbei noch Affären leistet. Männer, das war ein Luxus, der für sie seit damals nicht mehr in Frage kam – so hatte sie jedenfalls noch bis vor kurzem geglaubt. Doch dieser junge Mann – er war möglicherweise zwei, vielleicht sogar drei Jahre jünger als sie - hatte ein so vorzügliches Auftreten, so angenehme Manieren. Eleganz, nein, das war keine treffende Bezeichnung. Eleganz hätte sie eher misstrauisch gestimmt, eine schöne Fassade konnte sich leicht als potemkinsches Werk erweisen, hinter dem sich der Bluff versteckt, aber Wendelin zeichnete sich durch ein ebenso vornehmes wie zurückhaltendes Auftreten aus.

      Zunächst einmal war es ja überhaupt bloßer Zufall gewesen - natürlich war es ein Zufall! -, dass er vor einer Woche im Reitclub sich gerade an ihrem Tisch niedersetzte. Er konnte nicht wissen, dass sie Richterin war, geschweige denn ihren Namen kennen und schon gar nicht den