Till Angersbrecht

Im Schatten der Schuld


Скачать книгу

hatte das Bild immer wieder zu ergründen versucht und war dabei doch nie zu einem rational befriedigenden Abschluss gelangt. Das einzige, was sich unbestreitbar von der Wirkung des Gemäldes behaupten ließ, war die doppelte Reaktion, die seine Betrachtung jedes Mal in ihm hervorrief: Es verschaffte ihm einerseits eine tiefe Befriedigung und zugleich eine Ermunterung und Tonisierung, die das Gegenteil von einschläferndem Frieden war.

      Das Bild ist, so hatte er sich zugeflüstert, als er das erste Mal vor ihm stand, dieses Bild ist unendlich. Es ist ganz Indien, wie ich es kenne, aber es ist noch viel mehr, weil Indien größer ist als die Welt. Er hatte keinen Augenblick gezögert, das Bild für einen exorbitanten Preis einem kleinen indischen Museum in Allahabad abzukaufen – und diesen Kauf später niemals bereut. Doch als v. Hochreith seine Wirkung jetzt auf die Probe stellte, musste er erleben, dass es gegen das größte Unglück ohnmächtig blieb. Auch der Zaubergarten war nicht imstande, ihm die erdrückende Last von den Schultern zu nehmen und ihn aus seinen Ängsten zu reißen.

      Er machte noch einen weiteren Versuch, trat etwas zur Seite, wie er es auch sonst zu tun pflegte, um die in rätselhafter Ordnung aufwuchernde Landschaft von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Man musste die Details in diesem geordneten Chaos ergründen. Es gab ja Geschehnisse in diesem Bild, die herausfordernd wirkten: Gestalten von unbestimmten Konturen, die wie aufpoppende Maiskörner von einem unsichtbaren Dämon in die Höhe geschleudert wurden. Immer erneut hatte er sich gefragt, was die Künstlerin damit sagen wollte. Es war ja keineswegs so, dass sie ein unheimliches Geschehen beschrieb, dazu waren die Farben, das Korngelb der Dächer oder das dunkle Blau der fadengleich aus ihnen hervorwachsenden Figuren viel zu froh oder zu berührend geheimnisvoll. Im Grunde war das Bild nichts anderes als die Welt: ein Rätsel, das er nie lösen würde.

      Sein Bemühen verschaffte ihm keine Linderung, er spürte die Ungeduld, den stechenden Schmerz, der seinen Augen keine Ruhe gönnte. Nein, dieses Bild entführte ihn nicht länger in eine andere Gegenwart. Gegenüber dem Unfassbaren versagte es, so wie sein Haus, seine Bekannten, seine bisherigen Freunde alle ohnmächtig gegenüber dem Geschehenen waren. Man hatte ihn aus seinem gewohnten Leben gewaltsam hinausgeschleudert: in eine Landschaft ohne Farben, ohne Himmel und ohne Bäume. Die neue Wirklichkeit hatte mit dem geheimnisvollen Zaubergarten der Emilie Rajputra nichts mehr gemein. Seine eigene Gegenwart war farblos, sie war kein Labyrinth, sondern Ödnis und Nacht.

      Wenn es nur ihn betroffen hätte! Viel schlimmer, unendlich viel schlimmer war es, dass es sein eigenes Kind betraf. Vermutlich hatte er versagt, ja, das war ganz sicher der Fall. Ein Kind wird nicht zum Mörder oder lässt sich zu einem solchen machen, wenn das Elternhaus ihm einen sicheren Schutzwall gewährte, so dass auch die größten Versuchungen des späteren Lebens wirkungslos davon abprallen. Kein Zweifel, er selbst hatte sich als unzulänglicher Vater schuldig gemacht.

      Hochreith trat mit einer ungewollt hastigen Bewegung zurück, als hätte ihm jemand einen Hieb versetzt. Nur noch aus bloßer Zerstreutheit streiften seine Augen über das Bild, dessen Titel ‚Der Zaubergarten’ ihm auf einmal zweideutig erschien. Ein Zauber konnte Gutes, aber auch Böses bewirken. Es gab da einen Fleck rechts unten am Bild, wo ein trauriges Braun sich zu Figuren verknäuelte, die man für tropisch vegetative Formen, für aufreizende Gebilde der Tiefseefauna oder auch für missgestaltete menschliche Wesen von der Art vielarmiger indischer Götter ansehen konnte. Hochreith hatte aus diesem Bild immer nur Beruhigung gelesen, auf einmal wusste er, dass es auch Angst lehren konnte. Er streckte beide Arme aus, hob das Bild von der Aufhängung, drehte es um und stellte es auf den Boden und an die Wand. Dieser eine Handgriff genügte, um den Raum fremd erscheinen zu lassen. So fremd, wie er selbst sich jetzt darin fühlte.

      Da fiel ihm der Mann ein, an den er sich wenden musste:

      Kudorsky, murmelte er.

      Dieser Name sagt einem Laien vermutlich gar nichts, aber er ist ein Begriff für jeden, der mit dem Gerichtswesen unseres Landes vertraut ist. Kudorsky hat sich als einer der besten und natürlich auch als einer der bestbezahlten Anwälte einen Namen gemacht. Wer über das nötige Geld verfügt und sich in einen Fall verstrickt sieht, der allen anderen als hoffnungslos gilt, der wendet sich an Kudorsky, einen Magier seiner Zunft, der aus wertloser Schlacke Gold und aus Schwarz Weiß zu machen versteht.

      Tatsache ist, dass Edwin v. Hochreith Menschen dieses Schlags niemals schätzte. Alle Kunst, die darin besteht, die Wirklichkeit zu vertuschen und zu verfälschen, erschien ihm immer verachtenswert.

      So weit ist es mit mir gekommen, flüsterte er im selben Moment, als der Name Kudorsky in seinem Kopf aufblitzte. So weit ist es mit mir und der Familie Hochreith gekommen, dass wir einen Mann wie Kudorsky brauchen. Doch unterdrückte er das aufwallende Unbehagen. Er unterdrückte es, weil er wusste, dass er jetzt keinen anderen als gerade diesen Kudorsky brauchte und dass er, der bis dahin als unbestechlich galt, sogar die Wahrheit opfern würde, wenn das seinem Kind einen Vorteil brächte.

      Hinter ihm auf dem Schreibtisch lag die Ursache seiner Verzweiflung: dieser furchtbare Schmutz- und Schmierartikel aus der Post, dem Massenblatt, das von neunzig Prozent der Bevölkerung so gierig wie der tägliche Morgenkaffee eingeschlürft wird. Da stand schwarz auf weiß und für alle Zeit unauslöschlich, was aus der Familie v. Hochreith geworden war. Wenn auch nur die geringste Aussicht bestand, dass ein Kudorsky diese Schmach vor dem Gericht und der Welt zu entkräften vermochte, dann war ein solcher Versuch sein ganzes Vermögen wert. Aber im Grunde schien ihm alles vergeblich. Wie sollte man die gerichtskundigen Tatsachen aus der Welt schaffen, die dieser Artikel beschrieb?

      „Frau Julchen Terror

      Marianne Steuben, ehemalige Freundin der Terroristin, spricht Klartext. Julia v. Hochreith hätte sie schon früher mit ihren linksradikalen Ansichten erschreckt. Ich versuchte, so Frau Steuben, Julia zur Vernunft zu bringen. Vergebens. Leider hat ihre Familie sie von dem verhängnisvollen Schritt nicht zurückhalten können. Sie wissen, Geld verdirbt den Charakter, und in einer Bank gibt es ja Unmengen davon. Religiöser Fundamentalismus und Geldgier, von der sie im Hause eines steinreichen Bankiers natürlich von früh auf umgeben war - ich glaube, beides zusammen hat meiner Freundin den Kopf verdreht. Glücklicherweise habe ich bei meinem letzten Besuch in ihrer Studentenwohnung einen Blick in einen ihrer Notizblocks geworfen, daraus erfuhr ich, dass sie ihren letzten Schritt für den kommenden Tag ankündigt. Sogleich habe ich die Polizei verständigt und auf diese Weise das Verbrechen im letzten Moment verhindert. Ohne mich wäre sie zur Mörderin, vielleicht zur Massenmörderin geworden. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich Julias Unglück bedaure! Jetzt nimmt das Recht seinen Lauf, vermutlich wird meine arme Freundin nie wieder die Freiheit erlangen.

      Ist Marianne Steuben eine Verräterin? Lesen Sie unsere nächste Ausgabe!“

      Herr v. Hochreith schüttelte den Kopf. Er wusste, dass das unmöglich die Worte Marianne Steubens sein konnten, der besten Freundin Julias, die sie zehn Jahre lang jeden Januar, wenn die Temperaturen in Delhi am erträglichsten waren, für eine Woche besuchte und damals beinahe zur Familie gehörte. So hatte sie niemals geredet, das war nicht ihre Art. Er hätte den Artikel am liebsten zerrissen, stattdessen legte er ihn auf das Fensterbrett und ging zu dem Bild, das er mit der Ansicht zur Wand abgestellt hatte. Er drehte es neuerlich um, hing es wieder an den alten Platz. Dann ließ er sich in den Sessel fallen.

      Ein Chronist hat es nicht leicht. Selbst wenn er die Tatsachen einigermaßen verlässlich aus dem Mund der Akteure erfährt, wird er doch niemals in ihren Kopf hineinschauen können. Doch selbst, wenn er sich in ihre Lage versetzt und vielleicht sogar glaubt, wissender oder gar klüger als die Handelnden selbst zu sein, so bleibt er doch immer der unbeteiligte Außenseiter, der über den Schmerz nur berichtet, ohne ihn lindern zu können. Wir lassen einen Mann im ersten Stock der Villa Hochreith zurück, der noch vor wenigen Tagen für viele ein Vorbild, ein Gegenstand der Bewunderung und des Neides war, aber der jetzt nur noch ein Häufchen Elend ist, in dessen Haut kein anderer Mensch stecken möchte.

      Richterin Wollbruck

      Im Gerichtssaal drängen sich die Menschen, selbst im Innenhof des großen Gebäudes in der Marschallstraße herrscht Gedränge, der Sicherheitsdienst hat das zweiflügelige Eingangstor mit Hilfe