Till Angersbrecht

Im Schatten der Schuld


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im Club. Theoretisch konnte der Zufall jedes Mitglied mit jedem anderen zusammenwürfeln. Dazu war ein sozialer Club ja gedacht!

      Der Fremde hatte ihr eigentlich nur guten Appetit gewünscht. Danach war man jedoch völlig zwangslos auf das Reiten zu sprechen gekommen. Das alles war ja normal und im Grunde selbstverständlich. Sie musste sich davor hüten, jeder Begegnung mit zu großem Misstrauen entgegen zu sehen. Wenn man wie sie einen so gefährlichen Mädchennamen verheimlichen musste und überdies durch den eigenen Beruf noch zu äußerster Genauigkeit bis hin zum Misstrauen geradezu gedrillt und konditioniert war, dann neigte man natürlich zu übertriebener Vorsicht. Dennoch blieb es richtig und wahr, dass der Zufall und nichts anderes diesen Mann an ihren Tisch geführt hatte. Der Zufall hatte das Gespräch auf das Reiten gebracht. Dass sie anschließend über ihre Reisen in den Süden zu reden begannen, konnte ebenso wenig einen Anlass zu Zweifeln geben. War es nicht ein Zeichen von Offenheit und gutem Benehmen, dass er sich ihr dann auch regelrecht vorstellt hatte? Wendelin de la Mar, Unternehmenschef, Immobilien.

      Wissen Sie, nichts Besonderes, aber Verarmung braucht man in einer solchen Stellung glücklicherweise nicht zu fürchten - so hatte er sich in aller Bescheidenheit ausgedrückt. Sie musste sich eingestehen, dass es ihr einfach Spaß gemacht hatte, seiner ruhigen, nie übertreibenden, keineswegs einschmeichelnden, aber doch selbstbewussten Stimme zu lauschen.

      Alles weitere hatte sich dann mit gleicher Zwanglosigkeit ergeben. Man begegnete einander vor oder nach dem Ausritt, saß neuerlich beisammen, und da war es ihr schon beim zweiten Mal klar, dass sie der Begegnung mit Freude entgegen sah, ja bereitwillig auf seinen Vorschlag einging, sich künftig zu gemeinsamen Ausritten zu treffen. Erstaunlich war es, wie sehr sich Wendelin ihr gegenüber geöffnet hatte. In der Vergangenheit, so ließ er sie wissen, ohne jedoch viel Aufhebens von dieser Vertraulichkeit zu machen, sei es ihm keineswegs immer gut gegangen; nein, ganz im Gegenteil, seine Kindheit habe er leider in großer Armut verbringen müssen. Heute sehe er darin jedoch eher einen Vorteil.

      Wissen Sie, diese bescheidene Vergangenheit hat mich vor der bekannten Arroganz vieler Neureicher bewahrt, die gerne von oben herab auf ihre weniger begünstigten Mitmenschen blicken. Ich weiß, was es heißt, aus armen Verhältnissen nach oben gelangt zu sein.

      Wie gerecht und natürlich er bei der Einschätzung seiner früheren und jetzigen Lage war! Wirklich, ein nicht nur gut aussehender, sondern dazu noch ein für sie geistig ansprechender und anziehender Mann! Bei ihrem letzten Zusammentreffen wusste Thea Wollbruck auf einmal, dass sie nicht nein sagen würde, wenn er sie zu sich nach Hause einladen wird, beiläufig hatte er ja schon erwähnt, dass er ein Anwesen im grünen Viertel am Ostrand der Stadt besaß. Sie machte sich gar nichts mehr vor; sie wusste und hoffte bereits, dass aus der Begegnung mit diesem Mann eine Freundschaft, ja vielleicht sogar mehr werden würde.

      Seltsam, dass sie sich dieses Eingeständnis gerade in dem Augenblick machte, als sie sich der wartenden Menge im Saal gegenübersah, die ungeduldig auf den Beginn der Verhandlung harrte. Nein, sie brauchte sich wegen ihrer mäandernden Gedanken keine Vorwürfe zu machen, sondern konnte darin eher ein Zeichen untrüglicher Gewissheit sehen: Der Ausgang dieses Prozesses ließ eben gar keine Zweifel zu.

      Staatsanwalt Feindser war jetzt am Wort. Seine deutlichen Statements waren geeignet, sie in dieser Überzeugung zusätzlich zu bestärken. Man habe es, so Feindser, mit einem ebenso eindeutigen wie in seinen moralischen und kriminalistischen Dimensionen ungeheuerlichen Justizfall zu tun. Ein junges Mädchen aus bestem Hause, Julia v. Hochreith, habe sich gegen die Gesellschaft verschworen, obwohl ihr eben diese Gesellschaft ein Leben in sichtbarem Wohlstand und von hohem sozialen Rang zuteil werden ließ - anders als ihren vielen weniger begünstigten Mitbürgern, die ein hartes und oft auch ungerecht entbehrungsreiches Leben am Rand der Gesellschaft führen. Verzweiflung, das sei ja für niemanden ein Geheimnis, habe schon manche Menschen auf eine schiefe Bahn geleitet. Auch wenn es dafür gewiss keine Entschuldigung gebe – der Staat müsse sich nun einmal gegen diejenigen wehren, die ihn zu zerstören trachten –, so könnten wir die Motive solcher Rebellen doch immerhin halbwegs verstehen. Aber absolut jedes Verständnis fehle uns für einen Menschen, der von Luxus verwöhnt und von seinen Mitbürgern geachtet, sich dennoch dazu entschließt, dieselben mutwillig hinzumorden, denn nichts anderes, liebe Geschworene, hatte diese Frau sich vorgenommen. In keiner Gesellschaft gibt es Schlimmeres, als wenn gerade diejenigen, die ihr als Vorbild zu dienen hätten, das gerade Gegenteil tun, indem sie stattdessen gegen sie rebellieren und dabei nicht nur alle Regeln der Mitmenschlichkeit verletzen, sondern ihr Menschentum selbst mit Füßen treten.

      Feindser: Ich sage Ihnen, die Tatsache, dass diese Frau nicht dazu kam, ihr mörderisches Ziel zu verwirklichen, darf für das Gericht keinen Milderungsgrund abgeben. Wir haben sie genauso zu richten, als hätte sie Dutzende oder vielleicht Hunderte von Menschen auf dem Gewissen, denn nichts anderes hatte sie vor. Sie ist eine Terroristin, welche die ganze Strenge des Gesetzes verdient.

      Befriedigt lehnte sich Richterin Wollbruck zurück. Der Wahrheit gemäß muss dies verzeichnet werden, obwohl es manchem wohl kaum gefallen wird, dass ein Mensch sich nach dem Anhören solcher Grässlichkeiten einfach zurücklehnen kann und dabei zu allem Überfluss auch noch Befriedigung verspürt. Aber genauso verhielt es sich, und wir dürfen die Richterin dafür nicht übermäßig tadeln, denn sie dachte nicht in erster Linie an das Verbrechen, sondern daran, wie es ordnungsgemäß erfasst und behandelt wird. So gesehen, war sie zufrieden, denn so und nicht anders hatte sie sich die Anklage vorgestellt. Die Leitgedanken würde sie genauso entwickelt und herausgestellt haben. Nein, vielleicht mit etwas weniger Pathos.

      Feindser ist eben ein Herr der alten Schule, der hat noch Rhetorik studiert. Donnewat hatte sich in ihrer Gegenwart einmal hinter vorgehaltener Hand darüber lustig gemacht, dass Feindser gerne Cicero liest. Von dem könne man heute noch etwas lernen!

      Thea Wollbruck fand das damals eher komisch, die jungen Staatsanwälte waren weit nüchterner, große Worte hört man nur selten aus ihrem Mund; von der Gesellschaft und ihren Ansprüchen ist kaum noch die Rede.

      Ein bisschen weniger Pathos ist mir persönlich lieber, das muss ich schon sagen; allerdings können moderne Plädoyers dafür zum Einschlafen langweilig sein. Feindser kann immerhin darauf rechnen, dass einige seiner Sätze - stark gekürzt selbstverständlich - morgen früh in den Boulevardblättern im Fettdruck erscheinen. Eine Reaktion vonseiten der Verteidigung oder dem Hause Hochreith - Anklage wegen Verleumdung etc. - ist in diesem Fall nicht zu befürchten. Der Fall ist zu eindeutig, da gibt es kein Wenn und schon gar kein Aber.

      Natürlich war Thea Wollbruck dennoch gespannt, was Verteidiger Kudorsky nach dem Statement des Staatsanwalt noch zu sagen hätte. Sie wusste, der Mann war stets für Überraschungen gut - das war er schon seinem Rufe als Staranwalt schuldig. In wenigen Tagen konnte der Mann so viel verdienen wie ein Richter in einem ganzen Jahr. Man warf ihm Millionen nach, nur damit er aus Krumm Gerade machte und Schwarz in Weiß verdrehte. Das war schon schlimm genug, aber dass ihm solche Verdrehungen fast immer gelangen, war überhaupt das Schlimmste. Allerdings hatte Kudorsky nie an einem Verfahren teilgenommen, dessen Vorsitz sie selber führte. Er würde schon sehen, dass man ihr mit durchsichtigen Finten nicht kommen kann. An ihr würde sich auch ein Kudorsky die Zähne ausbeißen. Überall, wo es Zweideutigkeiten, Verfahrensfehler, Widersprüche und Schlampereien von Polizei oder Staatsanwaltschaft gab, verstand dieser Mann sein Talent auszuüben, die Fehler der anderen, das war sein ureigenes Terrain. Aber diesmal lagen dem Gericht unanfechtbare Beweise vor. Es gab die Täterin, und es gab die Tatwaffe, den Sprenggürtel. Gegen die überwältigende Evidenz solcher Fakten kommt selbst ein ihn allen Finten geübter Anwalt nicht an.

      Eigentlich warf ein Fall wie dieser sogar die Frage auf, ob Verteidigung unter solchen Umständen überhaupt noch einen Sinn besaß. Gewiss war in einer demokratischen Rechtsordnung die Anwesenheit eines Verteidigers grundsätzlich vorgesehen. Ein Angeklagter verdient ja Hilfe, weil er eines Verbrechens möglicherweise zu Unrecht bezichtigt wird; aber Julia v. Hochreith war nach allen Regeln der Kunst überführt, im Grunde war alle Verteidigung hier rein formal. Jeder musste begreifen, dass Verteidiger Kudorsky nur als Instrument herhalten sollte, um einem reichen Auftraggeber, in diesem Falle dem Hause Hochreith, einen letzten Ausweg zu verschaffen: Mit den Mitteln der Rechtsverdrehung sollte die Verteidigung alles nur Mögliche unternehmen,