Rainer Rau

Zwillingsmord


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sind sehr empfindlich. Wenn ich sie am Körper verletze und man sieht dies, kann man das eventuell als Beweis gegen mich verwerten, falls sie morgen zu einem Arzt gehen sollte.«

      Er stieß mit einer Kanüle durch das Zahnfleisch auf den Nerv. Marlene spannte alle Muskeln an.

      »Sieh dir diese Reaktion an. Trotz eines starken Mittels zur Betäubung der Muskulatur bäumt sie sich auf. Es müssen starke Schmerzen sein. Wir haben ausnahmsweise einmal Zeit. Für die Aufzeichnungen sind größere Abstände der Behandlung von Vorteil. Warten wir also etwas.«

      Hohenfels war im Erklärungsrausch und stopfte seinen Sohn mit Wissen voll.

      »Willenskraft lässt Energie entstehen. Deutlich wird dies, wenn wir uns in einer Notsituationen befinden und um unser Leben fürchten. Die Energie, welche dann plötzlich in uns steckt und mit welcher wir uns dem Überlebenskampf stellen, hätten wir uns wahrscheinlich selbst niemals zugetraut. Sie ist so groß wie bei der Löwenmutter, die um ihr Junges kämpft und dabei ungeahnte körperliche Kräfte mobilisiert, allein durch ihren geistigen Zustand. Durch den Trieb, ihre Brut zu schützen. Wut, Hass, Verzweiflung und Angst werden also in pure Energie umgewandelt.«

      Dann stieß er wieder mit der Kanüle tief auf den Nerv am Zahnhals entlang und kratzte an ihm. Ein langes Stöhnen und ein starkes Anspannen der Muskeln war Marlenes Reaktion. Er hielt inne.

      »Wir wissen, welche Macht unsere Gedanken auf uns selbst und andere haben. Die Willenskraft nutzen Menschen, um Unglaubliches zu vollbringen, über sich hinauszuwachsen, ungeahnte körperliche Kräfte zu entfalten und sprichwörtlich Berge zu versetzen. All das ist bei Zwillingen sehr viel stärker vertreten. Und mir gelingt irgendwann der Beweis. Ich werde finden, was vor mir noch keinem gelang.«

      Wieder traf die Nadel auf den Nerv. Und wieder bäumte sich das Mädchen auf. Hohenfels bewegte den Nerv hin und her. Marlene zitterte nun. Hohenfels hörte nicht auf. Die Tortur nahm kein Ende. Das Mädchen musste ungeheuere Schmerzen erleiden.

      Marlene zitterte immer stärker. Ihr Gesicht war weiß wie die Wand. Plötzlich hörte ihr Zittern auf. Ihr Herz hörte ebenso auf zu schlagen. Prof. Hohenfels bemerkte es zunächst gar nicht.

      Sein Sohn machte ihn aufmerksam.

      »Du, Papa. Ich glaube, sie lebt nicht mehr.«

      Hohenfels musste das erst einmal verdauen.

      Er wollte sie doch nicht umbringen. Ein paar Minuten Schmerzen am Zahn können doch keinen Menschen töten. Und doch hatte sie keinen Herzschlag mehr.

      Hohenfels band sie los und legte sie auf den Boden. Dann fing er mit der Reanimation an.

      Volker Hohenfels stand hochrot im Gesicht mit klopfendem Herzen da. Der Professor fuhr ihn an:

      »Gib ihr Sauerstoff! Der blaue Schlauch. Maske ist im Schrank daneben.«

      »Mann. Papa. Was machen wir jetzt?«

      Ein Gefühl der Verzweiflung kam auf.

      Marlene reagierte nicht auf die Wiederbelebung. Nach zwanzig Minuten gaben sie es auf. Das Mädchen kehrte nicht ins Leben zurück.

      Was sie nicht wussten, war, dass Marlene einen angeborenen Herzfehler hatte. Jeder vierte Mensch wird mit einem Loch in der Herzwand zwischen rechtem und linkem Vorhof geboren. Der Grund hierfür ist, dass der Blutfluss im Mutterleib zwischen beiden Herzkammern die Sauerstoffausbeute für den Fötus erhöht. Wenn sich das Kind nach der Geburt selbst über seine Lungen mit Sauerstoff versorgt, sollte das Loch zuwachsen. Bei rund 25 Prozent der Menschen schließt es sich aber nicht vollständig. In den meisten Fällen bereitet diese schlitzförmige Öffnung keine Probleme. Jedoch steigt die Gefahr des Schlaganfalls deutlich an.

      Der Schmerz und die Öffnung von der Größe einer Flaschenkapsel ließen den Muskel von Marlenes Herz zuerst rasen wie ein D-Zug, dann unregelmäßig stolpern und am Ende gänzlich erschlaffen. Sicher war der Schmerz der Auslöser des Herzstillstandes, es hätte sie aber auch zu jeder anderen Zeit, eventuell beim Joggen, treffen können.

      Volker Hohenfels wiederholte seine Frage: »Was machen wir jetzt mit ihr?«

      Der Professor wusste es auch nicht genau. Dann fiel ihnen Karena ein, die sie in der Hektik vergessen hatten.

      »Warte, ich muss nach ihrer Schwester sehen.«

      Karena saß bewegungslos auf dem Stuhl und hatte die Augen weit offen. Hohenfels erkannte die Panik in ihrem Blick. Sein Blut kam wieder in Wallung. Er war auf die Auswertung der Aufzeichnungen gespannt. Zu seinem Sohn sagte er: »Hol zwei Flaschen Schnaps von oben!«

      Als dieser die Flaschen brachte, schüttete er den Inhalt der einen Flasche Karena in den Mund und ließ den Alkohol die Kehle hinunterlaufen. Das Mittel, das die Muskulatur betäubte, war noch wirkungsvoll und so konnte sie nicht schlucken. Es würde wohl noch ein oder zwei Stunden anhalten. Der toten Marlene schütteten sie die andere Flasche in die Kehle.

      »Pass auf! Wir bringen sie an eine ruhige Stelle ans Ufer der Lahn. Wir ziehen ihnen die Kleider aus und lassen es so aussehen, als wenn es eine Vergewaltigung gewesen wäre.«

      »Aber die Party. Es haben sie doch hier mindestens 30 Leute gesehen!«

      »Ja. Aber sie haben sie hier lebendig gesehen. Du weißt nicht wann und mit wem sie von hier weggegangen sind. Du hast auch etwas getrunken und bist dann ins Bett gegangen, falls man dich fragen sollte.«

      Volker Hohenfels fuhr den Mercedes seines Vaters auf dessen Befehl hin in die Scheune. Mit dem Aufzug transportierten sie mit vereinten Kräften die Mädchen nach oben und luden sie auf die Rücksitze. Dann brachten sie die beiden Mädchen an die erwähnte Stelle an der Lahn.

      Sie beeilten sich, denn es konnten schon zu solch früher Stunde Jogger unterwegs sein. Sie hatten Glück und trafen auf keinen. Hohenfels riss den Mädchen die Jeans, Strumpfhosen und Slips herunter und warf die Unterwäsche in die Lahn. Die Mädchen ließen sie nebeneinander liegen. Dann verschwanden sie.

      Eine Stunde später fand der erste Jogger die beiden im Gras liegend und rief die Polizei. Kurz darauf erschien ein Großaufgebot von Polizei und Krankenfahrzeugen, Ärzten und Staatsanwaltschaft.

      In der Gerichtsmedizin in Gießen stellte man einen natürlichen Tod bei Marlene, hervorgerufen durch großen Alkoholgenuss fest. Der Auslöser war wohl ein Loch im Herzen, von zwei Zentimetern Durchmesser.

      Eine Vergewaltigung fand aufgrund fehlender Indizien und der Tatsache, dass Marlene noch Jungfrau war, wohl eher nicht statt.

      Einzige Auffälligkeit an der Leiche war eine kleine Entzündung im Anfangsstadium an einem Backenzahn. Sonst konnten keinerlei Verletzungen festgestellt werden. Eine Polizistin, die in der Gerichtsmedizin nochmals genau nachfragte, da sie keinen Hinweis im Protokoll auf Hautpartikel unter den Fingernägeln fand, war zufrieden, als der untersuchende Arzt ihr sagte, dass es keine gegeben hätte.

      Karena konnte noch nicht ausführlich befragt werden, sie stand unter Schock und hatte eine Alkoholvergiftung, die mit extrem starken Kopfschmerzen verbunden war.

      Ihren Angaben zufolge konnte sie jedoch keine nähere Auskunft erteilen. Insbesondere wusste sie nicht, wie sie mit ihrer Schwester an die Lahn gekommen war.

      Die letzte Erinnerung, die sie hatte, war die an eine Party in der Hofreite von Hohenfels.

      Der Hausherr Prof. Werner Justus Hohenfels war an diesem Abend nachweislich in der Klinik, also gar nicht zu Hause. Sein Sohn Volker Hohenfels hatte den Barhocker schon frühzeitig mit seinem Bett getauscht und konnte sich wegen des hohen Alkoholpegels an nichts erinnern. Er wusste nicht, wann und mit wem die beiden Mädchen die Party verlassen hatten.

      So wurde die Akte Marlene geschlossen, bevor sie überhaupt geöffnet wurde.

      Eine Beamtin der Kripo Gießen-Land vermutete, dass sich beide Schwestern wohl in Folge hohen Alkoholgehaltes im Blut und der fehlenden Unterwäsche an dem Lahnufer miteinander vergnügt hätten. Die Beamtin konnte dieses in Anbetracht der tollen Figuren der Mädchen sehr gut verstehen, hatte sie nicht des Öfteren ebensolche Lust, sich mit