Sabine-Franziska Weinberger

Der Märchenmaler


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nichts!“, räumte der Pinsel ein und registrierte ein zustimmendes Nicken seiner Freunde.

      „Na, dann wollen wir mal!“, lächelte Zappel und gab dem Märchenmaler zu verstehen, näher zu kommen. „Bist du bereit für den Sprung deines Lebens?“, wollte das Federmännchen wissen, während es ihm beide Arme entgegenstreckte. Vincent starrte einen Augenblick sprachlos auf die ausgestreckten Hände und legte seine Stirn in Falten. Beklemmung und Unsicherheit schnürten ihm die Kehle zu. Er wusste weder, wohin sein Weg führte noch was ihn am Ende seiner Reise dort erwartete; diese Ungewissheit bereitete ihm noch mehr Angst. Doch dann tauchte plötzlich Farbenfeins Gesicht in seinen Gedanken auf, und er musste an ihre Worte in seinem Garten denken. „Die meisten Erwachsenen sind leblose Hüllen“, hatte sie gesagt und dass es keine Farbe mehr in ihrem Leben gäbe. Vincent wollte kein Teil einer farblosen Welt sein und noch viel weniger zu einer leblosen Hülle werden, die sich in jedes beliebige Schema pressen ließ. Deshalb entschied er, sich aus seiner Erstarrung zu befreien, um zu wachsen und sich zu entfalten, genau wie die Pflanzen in seinem Garten, deren bunte Farben und tiefes Leuchten ihn schon seit jeher mit Begeisterung erfüllt hatten. So wich die Furcht in seinem Herzen einer festen Entschlossenheit, seinem Leben eine neue Richtung zu geben.

      „Der Weg ist das Ziel“, machte sich der Märchenmaler Mut, „und jedes Ziel ein neuer Weg!“

      Er war bereit für den Sprung ins Ungewisse und reichte dem Federmännchen mutig seine Hand.

      5 Im Banne der Schatten

      „Wer im Dunkeln sitzt, zündet sich einen Traum an“

      Nelly Sachs (1891-1979), deutsche Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin

      Trübselig thronten träge Wolken am blassen Himmel und wechselten ihre Farbe von düsterem Grau in beklemmendes Schwarz. Unter ihnen erhob sich ein dunkles Gemäuer, dessen Wände stumpf wie Leichensteine eines längst vergessenen Totenackers in die Höhe ragten und sich zu einer uneinnehmbaren grauen Masse türmten, die unheilvoll in die Bewegungen undurchdringlicher Nebel getaucht war. Wie Schleier aus Blei verhinderten die unheimlichen Dunstschwaden, dass auch nur der geringste Lichtstrahl in das Innere der Festung drang, in der sich Grauen erregende Gestalten tummelten, auf die keinesfalls das Licht des Tages fallen sollte.

      Diese Nebel verflüchtigten sich nie, egal wie viel Zeit auch verging. Sie veränderten weder Farbton noch Dichte und schwebten über der Festung wie ein monströser Oktopode, der die Mauern unter sich zu begraben schien. Und das Ungeheuer wuchs, streckte seine Tentakel gierig nach allen Richtungen aus und saugte Farben und Licht rings um sich herum auf.

      Tristesse, einst ein farbenprächtiger Palast voller Leben und Freude, war unter Monotonias Herrschaft mehr und mehr zu einem trostlosen Ort der Eintönigkeit verkommen, der wie ein Schwarzes Loch jeden Flecken Farbe absorbierte und allmählich das ganze Land in Grau zu ersticken drohte. Die wenigen Fenster, die noch nicht zugemauert waren, glichen unheimlichen Augenhöhlen, die ihre Umgebung ständig zu bespitzeln schienen.

      Seit es der Grauen Hexe mit Hilfe der Sonne gelungen war, die Hüterin der Farben in ihre Schattenburg zu locken und dort gefangen zu nehmen, dehnte sich ihre Macht im ganzen Land aus, obwohl ihr vielerorts erbitterter Widerstand geleistet wurde. Vor allem die Regenbogenpferde und Farbhörnchen lieferten der Farbenknechterin und ihren Anhängern immer wieder bunte Gefechte und füllten mit vereinten Kräften bereits graue Landstriche wieder mit Farbe auf. Dadurch zogen sie sich wieder und wieder den Unwillen der Hexe zu, die an allen Ecken und Enden wutschäumend nach ihnen suchen ließ und hohe Belohnungen auf ihre Ergreifung ausgesetzt hatte.

      Regungslos stand die düstere Megäre auf den Zinnen ihrer Festung und blickte starr in die Ferne. Von drei Seiten erhoben sich bizarre, schiefergraue Berge um ihr graues Bollwerk, die teilweise mit dunklem Gestrüpp überzogen waren. Lediglich vom Südosten aus hatte sie eine Sicht ins ebene Land und konnte sogar bei klarer Sicht die leuchtenden Palasttürme Belle Couleurs an einem blausilbrig schimmernden Gewässer erkennen.

      Winde zerrten an Monotonias Kapuzenmantel und lösten ein paar ihrer grauen Strähnen, die ihr wirr ins wächserne Gesicht hingen. In ihren Augen brannte das Feuer nach Vergeltung, während dunkle Flecken auf ihren blassen Wangen glommen. Eine tiefe, quälende Unruhe hatte die Hexe erfasst, deren erlittene Schmach bei den Farbquellen ihren Zorn weit über das Erträgliche hinaus trieb. Die Tatsache, von Huf Farballa und seinen Pferden wie eine streunende Hündin davon gejagt worden zu sein, war an sich schlimm genug, noch mehr schmerzte jedoch der Umstand, dass es ihr nicht gelungen war, den Märchenmaler gleich bei seiner Ankunft in Kolorien auszuradieren, da der junge Mann für ihre Pläne eine durchaus Ernst zu nehmende Gefahr darstellte. Wenn es ihm gelang, vor Sonnenuntergang ein Bildnis von Farbenfein zu schaffen, war ihr Vorhaben, im Farbenland für immer die Herrschaft zu übernehmen, zum Scheitern verurteilt, was sie mit allen Mitteln zu verhindern trachtete. Hasserfüllt starrte sie auf die grauen Berge und versuchte, die Bilder ihrer vor den Wolkenpferden flüchtenden Grauschatten und Farbenfresser zu verdrängen. Allein der Gedanke an Huf Farballa und seine Herde entfachte in ihr erneut eine Welle des Zornes, der sich tief in ihr Innerstes fraß. Während Monotonia schwor, sich bitter an dem Regenpferd zu rächen, näherte sich ihr im Hintergrund eine Gestalt mit auffallend großen Poren im Gesicht.

      „Eure Grauenhaftigkeit, ich habe eine Nachricht für Euch“, holte der Schwamm seine Gebieterin aus ihren düsteren Gedanken, worauf ihre stahlgrauen Augen schnell der Richtung folgten, aus der seine Stimme gekommen war. Kühl blieb ihr Blick an Kratzer hängen.

      „Lass hören!“, erwiderte sie mit metallener Stimme.

      „Selbstverständlich!“, blieb der Schwamm auf Distanz, da seine Gebieterin für ihre unkontrollierten Wutausbrüche berüchtigt war.

      „Schwatz nicht, sondern rede endlich!“, hallte ihre Stimme düster von den Zinnen, während dem Schwamm augenblicklich der Angstschweiß aus den Poren trat.

      „Die Koloritkarte, die Euer Antimago einem der Farbhörnchen abgenommen hat, ist leider abhanden gekommen!“, stammelte der Schwamm kleinlaut, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Abstand zwischen ihm und der Hexe ausreichend groß war, um sich rasch vor ihr in Sicherheit zu bringen.

      „Wie? Abhanden gekommen?“, fuhr ihn Monotonia wütend an und glaubte, sich im ersten Moment verhört zu haben. Zuerst schlüpfte ihr der Märchenmaler buchstäblich vor ihren Augen durch die Klauen, und nun verschwand auch noch eine Koloritkarte, die in Zeiten wie diesen von unschätzbarem Wert war.

      „Wie konnte so etwas nur passieren und wer, in Dreiteufelsnamen, zeichnet dafür verantwortlich?“, zischte sie und verengte ihre Augen zu zwei schmalen Schlitzen.

      Der Schwamm trat schnell einen Schritt zurück und sah seine Herrin ängstlich an. „Ein Federmännchen hat sie eingesackt, Eure Abscheulichkeit“, beeilte er sich zu antworten. „Ge… gewissermaßen im Vorbeihüpfen.“

      „Eingesackt? Im Vorbeihüpfen!“, keifte die graue Hexe außer sich. „Ein Federmännchen? Ich war der Ansicht, dass dieser Bodensatz längst ausgerottet ist. Muss ich denn wirklich alles selbst erledigen! Wozu habe ich euch eigentlich, unfähiges Pack, wenn ihr es noch nicht einmal schafft, ein paar Springer aus dem Feld zu schlagen. Es muss ein Ende finden, dieses Gehüpfe in diesem Land, hörst du!“, schnaubte sie wütend.

      Der Schwamm reagierte auf ihre harschen Worte mit einem unterwürfigen Beugen seines Kopfes. „Wie Ihr befe...!“

      „Erspar mir dein Gewinsel und mach dich sofort auf die Suche nach dem Springer und der Karte“, fuhr sie ihn barsch an, während sie ihn mit kalten, grauen Augen fixierte.

      „Verzeiht Eure Gnadenlosigkeit, aber es gibt da noch eine Klitzekleinigkeit, die Euch unbedingt zur Kenntnis gebracht werden muss!“, ächzte er ergeben, während er sich bemühte, den Abstand zwischen ihm und der Hexe zu vergrößern.

      „Was denn noch?“, herrschte sie ihn an und versuchte ihren mittlerweile zu loderndem Feuer gewachsenen Zorn unter Kontrolle zu halten.

      „Die Herrin von Kolorien ist bei den Blauen Erdhügeln gesehen