Hans Landthaler

Mel


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      Mel kann nicht sehen, dass sie tatsächlich am Ufer auf ihn wartet, die glutroten Haare aufgesteckt wie ein zu Haar erstarrter kleiner Springbrunnen auf dem Kopf. Im ersten Moment kann er es nicht begreifen, als er sich umdreht, sie vor ihm steht: die Fischerin. Er sieht sie an, wie zuvor der Karpfen ihn, bleibt im hüfthohen Uferwasser stehen, als er sich an seine Blöße erinnert. Sie mustert ihn mit festem Blick. Mel denkt nur, wie klein sie ist. Als sie ihn fragt, wie er den Fisch gefangen, bricht er sein Erstaunen und als er antwortet, dass der sich fangen ließ, umspielt ein Lächeln ihren roten Mund. Das gleiche rot wie ihre Haare, fällt ihm auf, und dass sie älter ist als er geschätzt hat. Ob er nicht aus dem Wasser komme?

      Mel verneint, erklärt seine Nacktheit und wiederum ein Lächeln. Ein breiteres. Mel bittet um den Morgenmantel und sich umzudrehen. Sie legt den Mantel an die Kante des Steges, wendet sich belustigt ab. Er angelt sich das Stück, schlüpft flugs hinein, noch im Wasser, steigt auf die Holzpaletten. „Fertig!“, sagt er und sie sehen sich beide an, amüsiert über ihre Schüchternheit. Wie winzig sie ist, reicht ihm gerade bis zur Brust. Er betrachtet ihre Kinderbeine. Sie trägt sehr kurze, enge Jeansshorts. Die riesigen Plateaujoggingschuhe sehen aus wie Tiere, die ihre kleinen Füße fressen. Unter dem weißen T-Shirt spitze Brüstchen, deren Knospen sich abzeichnen. Breit ist sie in den Schultern, ihre Arme muskulös. Die Hände zu groß, zu erwachsen, mit mehreren silbernen Ringen an den kräftigen Fingern. Fein gezeichnet ist ihr Gesicht. Ein Jungengesicht, verschmitzt, ein wenig gaunerig. Mehr als vierzig wird sie sein, schätzt Mel, als er sie so nahe betrachten kann.

      Solche roten Haare hat Mel noch nie gesehen, noch weniger so eine Frisur. Sie inspiziert ihn nicht, blickt ihm in die Augen. Braun sind die ihren, zugleich grün. Mel bewundert noch den roten Springbrunnen, als die Fischerin ihn fragt nach dem Verbleib der Katze. Woher sie weiß, dass eine Katze bei ihm war, will Mel wissen. Die Kinder hätten sie gesehen, als sie auf sein Grundstück schlichen. Als sie seine Skepsis bemerkt, beschreibt sie die Katze: braun, schwarz, grau getigert, der Schwanz im Ganzen schwarz. Sie sieht ihn streng an. „Sie war da bis gestern Nacht, aber vielleicht ist sie zurückgekommen? Sehen wir im Haus nach!“ schlägt Mel vor.

      Die Hose kneift ihr in den Po. Die Bäckchen lugen hervor und die Kinderbeine passen so gar nicht dazu, findet er, als er vorangeht durch den Schilfpfad. Und nun fällt ihm plötzlich der heftige Traum ein. Rot wird er im Gesicht. Welch eine Merkwürdigkeit, dass sie nach diesem Traum hier auftaucht. Die Katze ihr gehört. Hat die sie hergelockt? Und was für ein Morgen und dieser Fisch? Ein milder Morgen im sanften Wind. Ein weißgleißender Sonnenstern im vergissmeinnichtblauen Himmel, in dem Gazewölkchen wehen. Samtige Luft duftet nach würzigen, wilden Kräutern. Vögel zwitschern in sommerlicher Euphorie. So ähnlich hätte Mel wohl diesen Morgen beschrieben, wenn er ihn beachtete. Aber im Moment beachtet er aufmerksam das Hinterteil der Rothaarigen. Sie stapfen nah nebeneinander, berühren sich manchmal, bedingt durch die Unebenheit der Wiese. Mel weiß noch immer nicht, wie ihm geschieht. Noch vor zwei Stunden flog er in einer Orgie über den See mit ihr und nun ist sie hier und riecht nach Rosinen.

      Sie bekundet ihr Erstaunen ob der Offenheit: die Türe, das Fenster – offen. Alles zu haben, was man will. „Wer was haben will, der soll es sich nehmen!“ entgegnet Mel. Und als sie das Haus betreten, gibt sie ihm insgeheim Recht. Nichts wollte sie von all dem. Das karge Bett, der alte Gasherd neben dem eine rotverblichene Gasflasche steht. Der glucksende, wispernde Riesenkühlschrank, an dem siebenundvierzig kleine Rezeptzettelchen kleben. Zwei wackelig aussehende Thonetstühle an dem rechteckigen Küchentisch, dessen Platte mit Linoleum belegt ist, über der eine zarte lilienförmige Jugendstillampe hängt, mit Bruch im Glas. Das von Isolierband zusammengehaltene, braune Kofferradio, der stumpfgeschruppte Spülstein, aus dem ein dickes gusseisernes Abflussrohr wächst. Inmitten des großen Zimmers ein vorsintflutliches Blechregal, das Mühe hat, die vierhundertdreiundzwanzig Bücher zu tragen. Raumteiler von Küche und Wohnbereich. Die Fischerin steht vor dem Regal, beugt, dreht, streckt den Kopf, geht auf die Zehenspitzen, um Buchtitel zu erlesen.

      Mel hat sich in das Klohäuschen verzogen, um sich umzukleiden. Er denkt, sie zum Frühstück einzuladen, sie ein Weilchen bei sich zu haben, und denkt, was für eine außerordentliche Begebenheit! Wie oft hat er sie mit dem Fernglas beobachtet, nackt, sich gewünscht, sie kennen zu lernen. Nun steht sie drüben in der Stube. Er späht durch das Schlüsselloch, sieht ihre Verrenkungen vor dem Bücherregal, sie kommt gefährlich nahe den Tagebüchern und schon hat sie sie entdeckt, winkelt eines heraus, sieht zur Klotüre, schiebt es zurück. Nun wird sie der Katze gewahr, die sich heftig gähnend aus der Decke des Bettes befreit, in die sie sich zuvor eingegraben.

      Mel kann nicht verstehen, was die Rote so leise zu der Katze sagt. Aber ich! „Du Weibchen, hast dir ein anderes Herrchen gesucht“ nachdem dieser Arsch uns verlassen hat wegen der jungen Bäckerziege. Idiot! Versager! Verräter!“ Tränen machen sich schon breit, sie legt sich zu dem Tier, schließt es in die Arme und verfällt in ein heißeres Schluchzen.

      Mel errät am Beben ihres Oberkörpers, dass sie weint. Bringt es in Verbindung mit dem aufgegebenen Fischerplatz am See. Er verlässt das Häuschen durch die Gartentüre, schreitet die Dahlienhecke ab, zupft da und dort ein welkes Blatt, köpft erblühte Blumenkronen, weiß nicht recht, was weiter zu tun. Frühstück! Sie schläft, die Katze nicht. Bemüht, leise zu sein, stellt er der Schmeichlerin, die um seine Beine schleicht, ein Schälchen hin mit verdünnter Milch. Er setzt Kaffeewasser auf, nimmt die Butter aus dem Kühlschrank, dazu die Marmelade, das Schinkenstück von dem er dünnste Scheiben schneiden will - zwei Eier - schüttet den Rest Milch in den Topf für den Milchkaffee, stellt dazu die dickwandigen Porzellanschalen auf den Tisch. Er schneidet Brot auf von dem großen Bauernlaib, fächert es in den Korb. Die Katze lümmelt auf dem Fensterbrett, als Mel nun aus der Lieblingstischdecke seiner Mutter die Veilchen aus den Falten streicht.

      Sie seufzt im Schlaf, die Fischerin, vergrämt ist ihr Gesicht, der kleine Körper entspannt. Jegliche Bewegung Mels verfolgt die Katze mit schräg gelegtem Kopf. Wenn ich sie küssen würde, denkt Mel, belächelt den Flaum auf ihren Wangen… Das glucksende Pfeifen des Wasserkessels bringt beide ins Erwachen. Frühstück! Sie lächelt, hat Tränenschimmer in den Augenwinkel. Mel gießt den Kaffee auf, sie hat das T-Shirt aus der Hose gezogen, so dass es auf den Hintern reicht. Sie setzt sich auf die Stirnseite des Tisches und ordnet ihren Springbrunnen, guckt dabei durch die Ohrenkeile der Katze hinüber an das Fischufer. In diesem Moment hat sie den Feldstecher entdeckt, angelt ihn sich vom Fensterbrett, sieht hinüber, verharrt. Mel, der sie die ganze Zeit nicht aus dem Blick ließ, weiß, dass sie sich nun denken kann, dass er sie heute nicht zum ersten Mal sieht. Er verspürt keinerlei Aufregung noch Anspannung, als die Fischerin durch das Fernglas das Ufer betrachtet. Gerade richtet sie das Glas auf ihn und eine kleine, feine Lächelei beginnt. Mel holt die abgeschreckten Eier, legt sie neben den Schinken, sodann gießt er den Kaffee ein, die heiße Milch dazu. Sie streicht sich Butter auf die Scheibe Brot, teilt sie in drei gleiche Teile, eins mit Marmelade, das andere mit Schinken, das dritte nur gebuttert – ist wohl für das Ei. Der sanfte Wind genügt, um dem Walnussbaum ein Rauschen zu entlocken. Wolken türmen sich hinter dem Horizont, die Katze erschnuppert Gewitter. Mel hat in der Eile die kurzen Hosen angezogen, sieht schinant die bloße Haut. Auch er hat Kinderbeine. Eine vergnügliche Miene ruht in ihrem Gesicht, kaut bedächtig jeden Bissen, macht den spitzen Mund, wenn sie den heißen Kaffee schlürft. Sie schneidet das Butterbrot in zwei Dreiecke, tupft mit einer Spitze das Eigelb aus dem Weiß. Mel bemerkt ihren guten Appetit, schneidet nochmals Brot. Er hofft schon seit Minuten, dass dieser ausstrahlende Druck, der die Herzform fühlbar macht, vom starken Kaffee verursacht wird. Bloß kein Anfall, solange sie anwesend ist, denkt er, vergisst sein Herz im Nu, als sie, wie nebenbei bemerkt, dass ihr Mann sie verlassen hat. Deshalb ist der Fischplatz verwaist, vermutet Mel. Sie nickt zustimmend und legt der Katze ein Fetzchen Schinken vor die Pfote, schiebt den Teller von sich, lehnt sich zurück, kippelt den Stuhl, fasst unter ihr Shirt, holt aus dem Hosenbund ein silbernes Zigarettenetui, entzündet eine Filterlose, inhaliert tief, bläst den Rauch genussvoll gegen die Zimmerdecke. Sie wippt den Stuhl im gleichmäßigen Rhythmus ihrer Stimme, die atonal emotionslos erzählt: von Drogen, Alkoholexzessen, der gewaltigen Selbstüberschätzung ihres Mannes, seiner Ohnmacht, Hilflosig- und Kraftlosigkeit. Die abgebrochenen, wieder begonnenen Therapien, der Arbeitslosigkeit, der soziale Abstieg, die Flucht in diesen unsinnigen Angelsport.