Hans Landthaler

Mel


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und er ist erstaunt, dass er an die Schnecken denkt, die er wahrscheinlich mit seinem Kopf erdrückt. Schnelles Hecheln tut ihm gut, pumpt seine Brust wieder frei von Angstgefühlen.

      Ich bin erstaunt, keine Sekunde hat er an mich gedacht. Aufgesetzt hat er sich, krumm auf eine Seite abgesackt, heftig atmend, seinen Blick ins Gras gesenkt.

      Die Schnecken unversehrt, nur die Katze kann er nicht erblicken. Hat sich bestimmt zu Tode erschreckt, denkt er. Ächzt! Die Taubheit in der Schulter zieht hinab bis in die Fingerspitzen. Jetzt muss er sich doch erbrechen. Auf die Schnecken! Bleich ist Mel. Sein Atem keucht. Speichel tropft aus seinem Mund. Er kann sich nicht erheben. Muss nun auf allen Vieren um das Haus, um sich auf das Bett zu legen, wie er es sich wünscht. Mel lächelt leise vor Erleichterung, aber auch, weil er die Schnecken nur zugekotzt.

      „War das ein kleiner warnender Herzinfarkt?“ fragt sich Mel. „Wird er einmal so sterben? Ein plötzlicher Schmerz, der noch wahrgenommen wird, danach das Aus?“ Ihm fällt ein, dass er heute schon einmal an das Sterben dachte. Ob man vielleicht eher stirbt, wenn man an das Sterben denkt? Wenn man öfter an das Sterben denkt, will man dann insgeheim sterben? Wenn er sich morgen besser fühlt, will er den Arzt nicht aufsuchen. Aber es könnte sein, dass ihm ein weiterer Infarkt bevor steht, oder war es nur eine Herzattacke, oder hoher Blutdruck? Oder hat er eine Katzenallergie? Mit diesen Gedanken schläft Mel ein.

      Seine Gedanken haben sich selbständig gemacht, um träumen zu können. Wie alle erwachsenen Menschen wird Mel im Schlaf zum Kind, kann dem Leben ergeben sein, muss ihm nicht trotzen. Nachdem der Körper entspannt, rollt er sich in die Embryostellung, streckt sich dann und wann, wechselt die Seite, krümmt sich wieder zum Ei. Fehlt nur noch, dass er sich den Daumen in den Mund steckt. Mel träumt, dass er in einem Bett liegt, das aus gekochtem Reis geformt ist. Kleine Menschen auf kleinen Stühlen rund herum sitzend, mit den Fingern beginnend, davon zu essen. Er liegt freundlich wie ein Buddha, nickt den kleinen Leuten zu, die ihn dankbar anlächeln ob seiner Güte.

      Derart beschäftigt kann ich ihn verlassen, solange bis er sich wieder seiner Gedanken bemächtigt hat.

      Die kurze Zeit, bevor die Sonne auf- und die paar Minuten, bevor sie untergeht, am See, ist für Mel die stimmungsvollste am Tag, wie eben im Augenblick. Eine Handbreit steht sie über dem Horizont in orangefarbener Glut. Die Luft flimmert unter ihr so, dass die Baumreihe verzerrt erscheint. Formt sich leicht oval, färbt Wolkenbänder violett, taucht den See ein in diffuses, durchsichtiges Grau. Die Schwäne schwimmen ihre letzte Runde, verschwinden mit dem Licht ins Schilf.

      Mel liebt die Strophe des Gedichts: „Hälfte des Lebens“, von seinem Hölderlin, für seinen See:

      Mit gelben Birnen hänget

      Und voll mit wilden Rosen.

      Das Land in den See,

      ihr holden Schwäne

      und trunken von Küssen,

      tunkt ihr das Haupt

      ins heilig nüchterne Wasser.

      Es trifft sich gut, dass Hölderlin dies Gedicht geschrieben hat vor zweihundertsieben Jahren an dem Kassler Lac und es auch so passt für Mels See. Hölderlin wäre bestimmt auch eine Begleitung wert gewesen, aber ich begleitete zu der Zeit eine Frau. Sie lebte dreiundzwanzig Jahre, fünf Tage, starb in den Sechsten hinein, vor Sehnsucht nach dem Leben. Was würde sein, wenn ich anstatt nur zu wissen, auch empfinden könnte? Was für eine Frage! Ich könnte die Menschen nicht begleiten, die zu begleiten sind. Fragen habe ich viele: Wie fühlt sich Lachen an und Weinen? Wie würde der Wein, den Mel trinkt, mit mir wirken? Was ist diese Großartigkeit, wenn Mann und Frau sich vereinen? Wie fühlt sich Hunger an, Appetit und satt sein erst? Eine Katze auf dem Schoß? Wasser, in dem man schwimmt und diese unbegreiflichen Küsse? Wie gut es tut, so Mel, wenn man dringend auf die Toilette muss, es dann kann? Und erst der Schlaf! Wer den erfand, ist Gott, denkt auch Mel. Durch Mel erfahre ich mehr von den Menschen, als von den vielen anderen, die ich bisher begleitete. Er macht mich neugierig durch seine Lebensliebe. Er denkt so besonders, wie ich es in der Ewigkeit nicht erfahre. Besonders für mich! Nicht für ihn. Mel weiß nichts von seinen besonderen Gedanken, sonst könnte er Gedichte schreiben wie Hölderlin. Katzengedichte, Weingedichte, gemeine Annagedichte, Schwanengedichte und Gedichte über mich. Unzählige Gedichte sind über mich erdacht worden, doch hätte ich eines gerne von Mel. Nur damit es existiert. Er denkt nicht schlecht über mich – ohne mich zu kennen – aber er macht sich auch nichts aus mir. Alle haben an mich gedacht, wenn sie vom Schlag gerührt. Mel dachte an die Schnecken und träumt von einem Bett aus Reis. Die Katze ist nirgendwo zu entdecken. Wie froh Mel war, mit ihr zu sein. Die Schatten sind mit der Sonne gegangen, Vögel versammeln sich zum Mückenschmaus. Begebe mich zurück zu Mel. Der sitzt auf einem Hügelchen von Reis, der noch verblieben ist. Die Menschlein mit prallen Bäuchen um ihn herum. Er rezitiert selbsterdachte chinesische Weisheiten und die Katze liegt, wie ein Fellschal, über seinem Kopf, Mel stark in das Kissen schwitzt. Sein Gehirn bastelt gerade an einem neuen Traum. Mel allerdings ist schon öfter in die Wachheit überwechselt. Er liegt bleich, erschöpft, unbeweglich schon seit einiger Zeit auf dem Rücken. Der Katzenschwanz wedelt gleichmäßig im Atem des Tieres über Mels Gesicht, was er nicht bemerkt. Genauso wie Mel nicht an mich, gedachte er auch nicht seines Gottes. Bemerkenswerterweise denkt er an seinen Gott, wenn es ihm gut geht, wenn er an seinem See sitzt mit den Schwänen, seinem Spiegelbild zuprostend mit Wein.

      Ob das gut ist, wenn die Katze auf seinem Kopf liegt? Als er sich die schweißnasse Stirn wischen will, erspürt er die Katze, wirft den Arm zurück ins Bett, verharrt in einem zufriedenen Lächeln, bevor er beginnt, seinen Körper zu prüfen. Er zuckt das Schulterblatt, kreist den Oberarm bis zum Ellenbogen, verspürt nur in den Fingerspitzen Taubheit. Kein Schmerz in seiner Brust. Er legt die Hand auf sein Herz, es schlägt ruhig. Er will sich aufsetzen, denkt an die Katze, lockt sie mit leichtem Lippengewisper, trommelt mit den Fingern auf seinen Brustkorb und die Katze kommt, legt sich darauf, sieht ihm gerade in die Augen. Mel umschließt sie mit den Armen, erhebt sich, bemerkt, dass er noch in Kleidung ist, sieht, dass es draußen bereits dunkel, sternenklar ist. Kurz vor Mitternacht.

      Er ist unschlüssig, wandert mit der Katze, die ihren Kopf gegen seine Brust drückt, auf und ab. Haucht eine Pfeifmelodie vor sich hin. Die Katze sieht auf seinen Mund. Als wenn sie sich jahrelang kennen würden, so benehmen sich die beiden. Die warme, weiche Katze ist angenehm vor der Brust, dennoch ist Mel sehr in sich versunken. Sieht seinen wartenden Schatten vor sich, fühlt sich wie ausgehöhlt, denkt aber nicht an den Vorfall. Denkt an Marian, lächelt wehmütig, muss schlucken, spürt Tränennass unter den Augenlidern und es fällt ihm ein, dass sie bestimmt gesagt hätte: „ … erst mal eine heiße Suppe, Männlein!“. So setzt er denn die Katze auf das Bett und Wasser auf, holt die gekörnte Hühnerbrühe aus dem Regal, häuft einen Esslöffel voll in den Emailletopf, hat schon die Buchstabennudeln in der Hand, entschließt sich sodann für die Sternchennudeln, wegen der Nacht. Er kratzt Suppengemüse aus der Gefrierpackung, sucht im Kühlschrank nach etwas Fressbarem für die Katze. Vergeblich! Vielleicht mag sie auch gerne Hühnersuppe? Stellt einen Unterteller neben den Herd und noch einen dazu für Milch.

      Die Katze registriert jede seiner Bewegungen durch einen Augenspalt. Hat die Vorderpfoten lässig übereinander geschlagen und Mel fühlt sich wohltuend beobachtet. Kaum sitzt er am Tisch, bläst in die Suppe, pirscht sie zum Herd. Leckt an der Milch, schnuppert an der Brühe, schlappert die Sternchen. Nun lässt Mel sie nicht aus den Augen! Sieht bedächtig ihrer Katzenwäsche zu und als sie auf den Tisch springt, an seine Suppe geht, denkt er: „Scheiß drauf!“. Also futtern sie beide aus dem gleichen Geschirr, des Öfteren innehaltend, um in die Nacht zu hören. Ein Flugzeug brummt hoch über dem Haus, vergrummelt alsbald in der Ferne. Ein Hund jault in exakten Abständen irgendwo aus dem Dorf. Musikfetzen weht der Wind über den See. „Fischers feiern mal wieder“, denkt Mel, blickt hinaus in das matte Nachtschwarz, kann den rötlichen Feuerschein am gegenüberliegenden Ufer wahrnehmen.

      Die Katze hockt auf dem Fensterbrett, von ihrem Schwanz umringelt, dreht der Nacht den Rücken zu. Widmet ihren Blick Mels Gesicht, das milde lächelnd sagt: „Es gefällt mir gut mit Dir, Miezi!“ Miezi stemmt die Schultern hoch, reißt gähnend ihr Mäulchen auf, streckt ihre Zunge weit heraus, die wie ein Köder wirkt in ihrem