Jay Bates

Der Schnüffel-Chip


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Betrugsquoten im einstelligen Prozent-Bereich ja auch nicht so falsch ist. Und drittens ist er der Meinung, er habe nichts zu verbergen... oder er resigniert. Eric Schmidt, der CEO von Google, sagte mal: »Wenn Sie nicht möchten, dass Ihre Geheimnisse im Internet bekannt werden, dann sollten Sie erst gar keine haben!« Über siebzig Prozent der US-Bürger stört es nicht, dass ihre E-Mails gelesen werden, dass ihre Post fotografiert wird, dass ihre Telefone lokalisiert werden und alle ihre Verbindungen gespeichert werden. Von ihren Blogs, Posts und Tweets ganz zu schweigen. Die Angst vor einem bösen Terroristen ist größer als mit einer der zweihundert Millionen Waffen in den Händen ihrer Mitbürger erschossen zu werden. Jedes Jahr trifft das mehr als elftausend Menschen. Viele denken auch: man kann ja doch nichts machen! Es gibt nur kleine Gruppen, die gesellschaftlichen und politischen Druck zur Verhinderung von Missbrauch und zur Erhöhung der Sicherheit des Systems gegen unrechtmäßige Verwendung fordern oder organisieren. Und du weißt doch, Technikfolgenabschätzung – übrigens Thema meines letzten Referates – findet beim normalen Bürger immer erst statt, wenn das Kind schon lange im Brunnen liegt. Die Einführung solcher Systeme erfolgt ja grundsätzlich unbemerkt und scheibchenweise, nach der bekannten Salamitaktik.”

      „Hm!”, Lander war erst einmal überladen mit Informationen und schwieg.

      Mike hatte von seinem ungewöhnlichen Redeschwall einen ganz trockenen Mund bekommen und benötigte dringend einen weiteren Espresso, doppelt. Eine kleine Pause trat ein, dann fuhr er fort: „Und denke doch mal weiter: wenn erst mal alle Dinge einen RFID-Chip haben, dann gibt es kein Gammelfleisch unbekannter Herkunft mehr, keine wilden Müllkippen im Wald und kein Schwarzgeld. Jedes einzelne Ding kann zurückverfolgt und zugeordnet werden. Und du könntest alle Verbrecher fangen. Ist das nicht toll?!“

      Das ist grauenhaft, dachte Lander und schwieg weiter.

      Als Mike sich dann nach einem Blick auf seine Uhr relativ schnell verabschiedete, war er ganz dankbar und blieb noch eine Weile alleine sitzen. Er dachte nach... die Wörter berührungslos und unbemerkt hatten sich in sein Gedächtnis gegraben und ließen ihn nicht mehr los.

      So sollte man Pässe heimlich auslesen können? Er weigerte sich, das wirklich zu glauben. Da gäbe es bestimmt technische und vor allem gesetzliche Hürden – das wäre sicher nicht legal. Und er würde dabei garantiert nicht mitmachen.

      15.

      Yasmin Stökel hatte ihren Laden an diesem Nachmittag nicht wieder aufgemacht. Sie hatte sich per Anhalter an den Stadtkern durchgeschlagen. Zitternd, verheult und mit ramponierter Kleidung. Gott sei Dank war die erste Person, die sich der einsamen Gestalt am Straßenrand angenommen hatte, eine Frau gewesen. Sie hatte versucht, sie auszufragen, ihr angesichts ihres desolaten Zustandes angeboten, sie zur Polizei zu fahren, aber sie hatte das alles abwehren können: „Nein, danke, ich bin schon OK, ich hatte Probleme mit meinem Freund. Wenn Sie mich zur S-Bahn bringen könnten, dann wäre ich Ihnen schon dankbar!”

      Erst als sie Hasso um sich hatte, hatte sie sich einigermaßen beruhigt. Dann war sie nach Hause gefahren, wo zu ihrer Erleichterung Ümid gerade einen Tee kochte, dessen würziger Geruch sie in eine beruhigende Decke häuslicher Geborgenheit hüllte.

      Schluchzend fiel sie ihm in die Arme und erzählte ihre dramatische Geschichte.

      „Ich habe solche Angst gehabt, das kannst du dir gar nicht vorstellen!”

      „Ja, das verstehe ich. Aber nun bist du ja wieder da, und dir ist nichts passiert.”

      Yasmin ärgerte sich. Typisch Mann, dieser Kommentar! „Nichts passiert?!“ Ihre Stimme wurde schrill: „Ich finde, mir ist schon genug passiert!”

      Ümid reagierte hilflos. „Du weißt schon, wie ich das meine. Warum gehen wir nicht zur Polizei!?”

      Yasmin wurde immer heftiger: „Ich habe dir doch erzählt, was sie gesagt haben! Sie haben mir gedroht! Wenn ich irgendwem davon erzähle...”

      Sie schauderte.

      „Was soll das überhaupt heißen: ‚Er soll seinen Job machen!’? Was machst du denn da? Wieso bedrohen die mich? Was hast du damit zu tun?”

      Sie starrte ihn an, versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Was verbarg er vor ihr?

      Ümid antwortete nicht sofort. Ihm fiel nichts ein, was er ihr sagen konnte. Dass er einen merkwürdigen Auftrag bekommen hatte? Dass er für seltsame, bedrohlich aussehende Leute mit hartem Akzent das Erzeugungsprogramm zum RFID-Code besorgen sollte, was garantiert weit außerhalb der Legalität war?

      Ihm war elend zumute. Er verfluchte den Augenblick, in dem er sich zu diesem Spielchen, für das er es anfänglich gehalten hatte, hatte überreden lassen. Nun war es zu spät. Er konnte nicht mehr zurück. Er musste versuchen, die Angelegenheit möglichst schnell und sauber zu Ende zu bringen.

      Die schrecken vor nichts zurück, dachte er verzweifelt. Was ist, wenn sie mich nach Erledigung des Jobs kalt machen?

      Er versuchte, diesen Gedanken sofort wieder zu verdrängen. Es gab nur einen Weg. Vorwärts.

      16.

      Kommissar Lander saß wieder am Schreibtisch. Das Gespräch mit Mike hatte ihm einiges klar gemacht. Was er für eine relativ harmlose Form von neuen Warenetiketten gehalten hatte, hatte in Wirklichkeit eine ganz neue Dimension.

      Naturgemäß war er bei der Beurteilung der Gefahren für den Bürger ?­­ Ausspähung der Privat­sphäre, Anlegen von Bewegungsprofilen, Transparenz des Konsumentenverhaltens ?­­ etwas weniger skeptisch. Dieser Trend zum gläsernen Bürger war einerseits sowieso nicht mehr aufzuhalten, andererseits wenigstens teilweise noch steuerbar und unter Kontrolle durch Gerichte und andere unabhängige Instanzen. Dachte er. Und er würde bei solchen missbräuchlichen Aktionen nie mitmachen, schon aus Prinzip und auch, um seinen baldigen Ruhestand nebst der komfortablen Pension nicht zu gefährden.

      Was ihn mehr beunruhigte, waren die Möglichkeiten durch das organisierte Verbrechen, aber auch durch Einzeltäter, diese technischen Werkzeuge für ihre Geschäfte zu benutzen. Und dabei hatte er fast mehr Angst vor den paranoiden oder fanatisierten Einzelgängern als vor den organisierten Banden: Fanatiker waren meist einfallsreicher, unberechenbarer und oft sogar von höherer krimineller Energie. Manchmal bestimmte nur ein unbändiger Spieltrieb oder blinde Zerstörungswut ihr Handeln ?­­ das kannte man ja schon zur Genüge von kriminellen Mitgliedern der Hacker-Szene, die das Internet nur aus Geltungssucht mit ihren Viren lahm legten.

      Plötzlich piepte sein Bildschirm und zeigte eine knappe Meldung:

       10:48 [email protected]

       Ozambo, Okamba ID 2401751524788

       Code 1030

       GPS-Code N52 30,32 / E13 12,67 Kastanienallee 67

      Der Kommissar verog das Gesicht. O Shit, dachte er, ein Streifenwagen meldet einen Code 1030: ein netter kleiner Mord ohne Verdächtigen. Na ja, da muss ich wohl hin!

      Er hatte diesen Gedanken noch nicht vollendet, da klingelte sein Telefon. Der Chef am Apparat. „Haben Sie schon gesehen, Kastanienallee?”, fragte er ihn.

      „Ja.”

      „Sie spielen doch gerne Skat, oder!?”

      „Ja, warum?”

      „Da hat einer ziemlich viele Stiche bekommen! Fahren Sie doch mal hin!”. Der Chef lachte meckernd. Lander wunderte sich, wie so oft, über dessen merkwürdigen Sinn für Humor, ließ sich aber nichts anmerken.

      17.

      Der Park hatte etwa die Form einer Banane, über zwei Kilometer lang und im Mittel dreihundert Meter breit. Es gab sechs Eingänge, symmetrisch an den Enden und in der Mitte verteilt. Morgens um elf Uhr, an diesem kalten Märztag,