Jay Bates

Der Schnüffel-Chip


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Belastung. Und auch Lander entdeckte unbestreitbare Vorzüge eines gelegentlichen Alleinlebens: die wiedererlangte Herrschaft über die Fernbedienung ebenso wie die Selbstbestimmung, sich morgens sein Hemd und seine Hose selbst aussuchen zu dürfen. Was seine Erscheinung eher nicht positiv verändert hatte, aber das blieb ihm verborgen.

      Jetzt hatten sie eine Wochenendbeziehung. Nicht die schlechteste Lösung für einen Mann und eine Frau, deren Temperament sich voneinander unterschied wie ein gemütlich tuckernder Schiffsdiesel von einem hochgezüchteten Formel-I-Motor. Und nichts lässt einen Mann schneller und nachhaltiger verstummen als die Aufforderung am Frühstückstisch: „Nun unterhalte dich doch ein bisschen mit mir!“ – vor allem, wenn man dabei die Lektüre der Sportseite unterbrechen und höchstes Interesse an Verdauungsproblemen und nächtlichen Schlafstörungen vorspiegeln muss.

      Nun beschränkten sich morgendliche Vorträge über die Unterschiede zwischen einem Zwiebelmesser und einem Obstmesser auf das Wochenende, und er konnte die Feng-Shui-gerechte Veränderung seiner Wohnung weitgehend wieder rückgängig machen. Auf der anderen Seite bemerkte er, wie er durch die Trennung der Wohnungen eigenbrötlerischer und ungeselliger wurde und vor allem den Kontakt zur Jugend verlor – was nicht zuletzt auch für seine Arbeit schädlich war.

      Es hatte damals, vor vier Jahren, einige Zeit gedauert, bis Mike die neue Beziehung seiner Mutter zu ‚dem Bullen’ akzeptiert hatte. Als Jugendlicher hatte er naturgemäß ein lockeres Verhältnis zu Recht und Ordnung gehabt, dann aber allmählich gemerkt, dass Lander kein sozialpädagogisches Weichei war, sondern ein Mann mit Prinzipien, der ihm zwar die notwendigen Freiheiten ließ, aber auch feste Grenzen setzte. Mike hatte auch begriffen, dass der neue Partner seiner Mutter nicht Skateboard-Fahrer in der Fußgängerzone schikanierte oder harmlose Bürger bespitzelte, sondern eine wichtige Funktion zum Schutz der Gesellschaft ausübte, die auch ein Dreizehnjähriger verstehen und gutheißen konnte.

      So freute Lander sich, Mike nun auch einmal außerhalb des Wochenendes treffen zu können. Eine Verabredung im Starbucks an der Ecke war schnell getroffen. Was hatte man bloß vor zwanzig Jahren ohne Handy gemacht?

      Mike, hochgeschossen wie ein Bambusrohr nach einem Monsunregen, saß schon da und sortierte seine Beine unter dem kippeligen Bistrotisch. Zuerst sprachen sie über die Schule, den Sport, Mikes Moped und andere Dinge, doch dann kam Lander zur Sache: „Sag’ mal, was weißt du über RFID?”

      „Ahrrr-eff-ei-die”, wiederholte Mike mit rollendem ‚r’, um zu zeigen, dass er wusste, dass der Begriff aus dem amerikanischen kam. Dann die Gegenfrage: „Was weißt du denn über RFID?”

      „Na ja, das sind die Chips in den Ausweisen, die die Personendaten enthalten. Wir haben ja die Lesegeräte in den Streifenwagen. Oder die neuen Etiketten – ich glaube, im Englischen nennt man sie Tags – an Luxuswaren, früher war das der Strichcode. Aber ich weiß nicht mal, was die Abkürzung bedeutet.”

      „Radio Frequency Identification, also auf deutsch etwa ‚Funkerkennung’. Eigentlich ist das nur ein herkömmlicher Mikrochip, egal welcher Art, kombiniert mit einer Datenübertragung durch Funk. Der Chip, der Fachausdruck ist ‚Transponder’, sendet Funksignale, nicht etwa Infrarot wie bei einer Fernbedienung am Fernseher. Du brauchst also keinen Sichtkontakt, das ist wichtig. Die Funksignale werden vom Lesegerät an der Ladenkasse oder an der Passkontrolle empfangen und in Daten umgesetzt. Bei aktiven Transpondern hast du eine eigene Stromversorgung und eine Reichweite von vielen Metern. Die OBU bei der Lkw-Maut ist ein Beispiel, der zugehörige Leser ist in der Autobahnbrücke installiert.”

      „OBU?”

      „On-Board Unit, also ‚An-Bord-Kiste’, der RFID-Transponder im Lastwagen. Aber die ‚passiven’ Transponder ohne eigene Stromversorgung sind viel kleiner und sind in Etiketten, Schlüsselanhängern, Plastikröhrchen unter der Haut bei Tieren, auf Pappkarten oder Chipkarten zur Zutrittskontrolle, praktisch überall. Beim letzten Marathonlauf waren sie auf die Schuhe geklebt. Irgendwo auf der Strecke rannten die Läufer über Kunststoffmatten mit eingebetteten Lesegeräten und wurden so kontrolliert. Scheidungsanwälte und Detektive warten schon auf RFID-Tickets für die U-Bahn – ein besseres Beweismittel als die Bewegungsprofile der Fremdgänger ist kaum denkbar! In den USA bauen es besorgte Eltern mit kombinierten GPS-Chips in die Schuhe ihrer Kinder ein, damit die Kids nicht verloren gehen. In Südamerika kämpfen sie mit dieser so genannten Geolokalisierung gegen die blühende Entführungsindustrie. Doch die für die Industrie wertvollste Anwendung ist Supply-Chain Management, also das Managen und Überwachen von Warenflüssen. Aber der Mensch ist auch eine Ware im Sinne der Industrie, oder? Zumindest im Tourismus wird er so behandelt, von anderen Branchen oder den Behörden will ich gar nicht reden.“

      „Und was ist daran so schlimm?”

      „Beim alten Strichcode konntest du sehen, dass das Etikett gelesen wird, weil der Laserstrahl direkt über die Striche geführt werden musste. Meist mit der Hand, von einer Person. Hier wird über Funk gelesen, eventuell über größere Entfernung. Der Leser kann überall sein und du merkst es nicht! Im Türrahmen eines Geschäftes, im Teppich, über den du gehst, im Aktenkoffer des Mannes, der hinter dir steht.”

      „Na, und?”

      „Mann, hast du keine Fantasie? Al Capone kauft sich einen Armani-Anzug mit dem RFID-Chip, zahlt mit seiner schwarzen American Express, der Angeber, und schon hast du die Verknüpfung zwischen der Ware mit dem Smart Label und der Person. Denn was sie noch zusätzlich eingeführt haben, ist ein elektronischer Produktcode, Electronic Product Code, EPC. Jetzt haben nicht alle ähnlichen Anzüge dieselbe Nummer, wie bei der EAN, die als Strichcode auf den Waren aufgedruckt ist. Jetzt hat jeder einzelne Anzug seine eigene Nummer, jede Ketchup-Tube, jede einzelne Packung Hähnchenschenkel. Hast du schon mal den Ausdruck ‚Internet der Dinge’ gehört? Die Joghurtbecher kommunizieren mit dem Kühlschrank und dieser mit dem Supermarkt, wenn der Vorrat ausgeht. Schließlich können auf den Funkchips vollständige Prozessoren sitzen, also kleine Computerchen. Und im Kühlschrank mit Internetanschluss allemal.“

      „Aha.“ Lander schnappte nach Luft.

      „Zurück zu Al Capone: um drei geht er aus dem Laden, um zehn nach steigt er in die U-Bahn, die er dann am Skylounge Center wieder verlässt, dann geht er in die Bank und so weiter. Und am Abend ist er in der Oper. Mit seinem neuen Anzug, dessen Chip an tausend Stellen unauffällig gelesen wird. Vorher hat er an der Tankstelle fünfzig Liter getankt und eine Zeitung gekauft. Die Zapfpistole hat seinen Chip auf der Kundenkarte gelesen und den Betrag automatisch abgebucht. Das weißt du alles über seine Datenspur und die Vernetzung der Computer. In einem Wort: ein Bewegungsprofil.”

      „Das wissen wir doch auch schon über seine Handy-Ortung!”

      „Ja, wenn er es angeschaltet hat. Aber die Ortung ist erstens nicht so genau, denn du kennst ja nur die Funkzelle, in dem es ist, und das können einige Quadratkilometer sein. Und zweitens können wir ihn nun mit Dingen in Verbindung bringen: Waren, die er gekauft hat oder Gegenstände, die er benutzt. Oder er selbst, er kann sich das auch zunutze machen. Seine Leute fahren durch die Villenviertel und erfahren über ihr Lesegerät, in welchem Haus sich Luxusgegenstände mit RFID-Etiketten befinden, denn oft bleiben die ja unsichtbar in der Ware, zum Beispiel im Futter eines Anzugs. Dort schicken sie dann die Einbruch-Truppe hin. Wie find’ste das?”

      „Also so habe ich das noch nicht gesehen. Das stimmt mich schon nachdenklich...”

      Mike trank schlürfend einen Schluck Espresso und drehte auf: „Na, warte, es kommt ja noch besser: Mancher Leser kann nicht nur lesen, der kann auch schreiben. Das heißt, er kann die Daten auf dem Chip ändern! Du legst im Supermarkt eine Dose Kaviar in deinen Einkaufskorb, fummelst ein wenig an deinem Tablet herum ?­­ jeder denkt, du schreibst bloß eine E-Mail oder suchst eine Produktinformation ?­­ und an der Kasse, an der ja kein Mensch mehr sitzt, geht der Kaviar als billige Leberwurst durch! Natürlich ist das illegal, und Oma Hilde kann das technisch nicht.”

      „Aber... aber sind die Daten denn nicht irgendwie verschlüsselt?”

      „Die