Jay Bates

Der Schnüffel-Chip


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Handgriff auf die Finger. Hätte er geahnt, welchen Ruf Morat in bestimmten Kreisen hatte, die streng abgeschottet von jeder demokratischen Öffentlichkeit operierten, er hätte noch genauer hingesehen.

      So aber galt dieser kritische Bereich als absolut sicher. Niemand hier hätte dem Gerücht Glauben geschenkt, Morat habe eine Kopie des Code-Programms entwendet und zuhause in seiner Wohnung versteckt. Aber solche Verschwörungstheorien waren Regionen weit abseits des bürgerlichen Alltags und kursierten nur in Insider-Kreisen.

      7.

      Jetzt begriff Okambo Ozamba langsam den Ernst der Situation. Das waren keine normalen spielenden Kinder, die sich einen etwas zu weit gehenden Spaß mit einem Erwachsenen machen wollten. Vielleicht war ihnen die Situation nur entglitten, aber das sah nicht so aus. Vielleicht war das aber auch ihr Spiel, einen jedem einzelnen von ihnen überlegenen Gegner durch ihre schiere Anzahl niederzuringen. Aber wie weit würden sie gehen?

      Sie sahen auch anders aus als andere Kids dieses Alters, die mit Designer-Schlappen, MP3-Ohrstöpseln und grellbunten Smartphones durch die Gegend stolzierten. Diese hier sahen aus wie kleine verfettete malaiische Dschungelkrieger, bereit, ihren Job zu tun, mit ausdruckslosen Gesichtern.

      Er hatte jetzt wenig Zeit, sich das alles zu überlegen. Er musste nun möglichst ohne weitere Verletzungen aus dieser Situation entkommen. Wenn der Bus jetzt käme, könnte er losrennen und die dreihundert Meter bis zur Haltestelle schaffen. Aber der Bus kam nicht, er war ihm ja gerade vor der Nase weggefahren.

      Inzwischen hatten sie ihn ganz umringt, eine Gruppe von vielleicht zehn Gestalten. Noch hielten sie Abstand, aber der verringerte sich drohend. Eine vorrückende Angriffsarmee. Der Kleine, der ihm den Schnitt an der Hand beigebracht hatte, hatte seine Waffe wieder verschwinden lassen.

      Er beschloss, zu verhandeln.

      „Okay, ihr habt gewonnen”, versuchte er in ruhigem Ton zu sagen, doch er fürchtete, sie würden das leichte Beben in seiner Stimme hören. „Nun ist’s gut, lasst mich gehen, ich muss zum Bus”. Mit diesen Worten wandte er sich in Richtung zur Haltestelle.

      Doch der Belagerungsring wich nicht zurück. „Ich glaub’ es nicht”, vernahm er die bekannte Stimme des Anführers. Er war einzige, der bisher irgendeinen Ton von sich gegeben hatte.

      „Du hast keinen Respekt, du Opfer! Du hast das irgendwie nicht gecheckt und so. Laber hier nicht rum. Rück’ mal etwas Kohle raus!”, war seine Forderung, locker und fast kumpelhaft vorgetragen. Unüberhörbar ein sanfter Unterton, eine kleine Andeutung, eine versteckte Aussage: versuche nicht, es abzulehnen!

      Gott sei Dank besaß Okambo keine Brieftasche, sondern trug das wenige Geld, das er mitnahm, in der Hosentasche. Er fingerte es heraus und hielt dem Sprecher ein paar Scheine, die eigentlich für sein Auto bestimmt waren, hin. Eddie würde das verstehen.

      „Ich glaube nicht, dass das reicht!”

      „Aber ich habe nicht mehr!”

      Lapidar, gleichmütig und doch endgültig: „Pech für dich!”

      Der Anführer machte zwei drohende Schritte auf ihn zu. In seiner Not griff sich Okambo wieder einen dieser fetten Knirpse und hielt ihn wie eine Geisel vor sich.

      Das hätte er besser nicht tun sollen.

      8.

      Hasso von Stewenberg saß auf seinem Stuhl im hinteren Teil der Boutique und beobachtete das Geschehen. Regungslos, wie ein Gesamtkunstwerk, ohne eine Miene zu verziehen. Nur seine Augen folgten Yasmin Stökel, der Besitzerin, die einer reich aussehenden Kundin ihre Stücke zeigte.

      Aufpassen war sein Job, nachdem Yasmin von drei Russinnen um die wertvollsten Stücke ihrer Kollektion beraubt worden war. Seitdem mochte Hasso keine Russinnen, und gegen Kopftuch-Frauen war er sowieso allergisch. Und Yasmin war von seiner Effizienz begeistert. „Keine Steuern, keine Sozialabgaben, nur freie Kost und Logis!”, pflegte sie zu sagen, wenn die Rede auf ihren Security Service kam.

      Wie von Yasmin erwartet verließ die Kundin den Laden, ohne etwas zu kaufen. Selbst die Reichen, die immer reicher wurden, hatten sich von der Sparmentalität der anderen anstecken lassen und investierten nur noch in werthaltige Gegenstände. Klamotten gehörten nicht dazu, für die bekamen sie nach einem Jahr im Secondhand-Laden nur noch Kleingeld.

      Yasmin schloss die Tür und entschied sich, noch bis zum Ende der allgemeinen Mittagszeit zu warten und erst dann essen zu gehen. Vielleicht würde ja noch eine Mieze aus den umliegenden Broker-Büros kommen...

      Auch Hassos Aufmerksamkeit verringerte sich schlagartig. Er legte den Kopf auf die Pfoten und konzentrierte seine Kraft darauf, nicht mit seinem riesigen Leib vom Stuhl zu rutschen.

      Nach einer knappen Stunde ohne jeden weiteren Kunden beschloss Yasmin, die fünfhundert Meter zum Organic Food Bistro zu Fuß zu gehen, um dort eine Suppe zu essen. Als sie die Tür schloss, verabschiedete sie sich gebührend: „Hasso, pass auf! Ich bin gleich wieder da!”

      Die riesige Dogge saß hinter der Tür, blickte ihr in die Augen und klappte ein Ohr herab.

      Aber so bald sollte sie sie nicht wieder sehen.

      9.

      Seine Gegner hatten Okambo nun dicht umringt. Sein Mantel hatte sich geöffnet und erschien ihnen wie eine Lücke in seiner Panzerung. Dort stießen sie hinein. Mit kleinen Klappmessern aus Edelstahl, die sie plötzlich alle in den Händen hatten. Sie hatten nur eine scharfe Klinge und nur einen Zweck. Seine Geisel, die ihm vielleicht hätte etwas Schutz bieten können, hatte er beim ersten Stich vor Schreck losgelassen.

      Nun folgte Stich um Stich, lautlos, fast geschäftsmäßig, wie von Akkordarbeitern am Fließband. Sie taten das, was sie tun mussten, ohne Wut, ohne Freude, einfach so. Sie bewegten sich mit pfeilschnell vorschießenden Armen wie eine gut eingespielte Basketballmannschaft, aber lautlos und ohne ein Rufen. Und Okambo war der Ball, der in diesem gespenstischen Reigen von einem Spieler zum anderen wanderte.

      Okambo war in die Knie gegangen, und nun trafen die Stiche nicht nur seinen Unterleib. Er merkte es kaum noch, und irgendwann sank er vornüber. Seine modische Brille hatte er schon vorher verloren. Müdigkeit ergriff ihn und er fror plötzlich. Voller Unglauben stellte er fest, dass etwas geschehen war, was nicht hätte passieren dürfen. Er lag auf dem Boden, hilflos und unfähig, sich zu bewegen. Er spürte leichte Stiche in seinem Körper, aber sie taten nicht weh. Er dachte an seinen Mantel und daran, wie er ihn wieder von dem Matsch, in dem er lag, befreien könnte.

      Die Kinder gehörten zu dem, was Kommissar Lander immer als ”Bruce-Willis-Generation” bezeichnete: kleine rohe gelangweilte Schläger, die nicht wussten, wann sie aufhören mussten und wie der Ritus ist, wenn der Gegner am Boden liegt. Wann er fertig ist, wie die Gesten der Unterwerfung aussehen, wann man aufhört. Sie fragten sich das auch nicht. Wie sollten sie? Sie hatten hier doch einfach nur ein paar Score-Punkte gesammelt. In ihren Filmen und Computerspielen stand der Gegner immer wieder auf. ”Game Over” hieß einfach nur: eine neue Runde. Man konnte ihn immer wieder zusammenschlagen und niedertreten.

      Es überraschte sie auch nicht, dass es diesmal anders war. Sie achteten gar nicht darauf. Als er am Boden lag, war es ihnen zu mühsam, sich zu bücken und nach ihm zu stechen. Sie begnügten sich mit Tritten. Irgendwann verloren sie die Lust und entschwanden so plötzlich und lautlos, wie sie gekommen waren. Nicht einmal das huschende Geräusch eines aufflatternden Schwarms bösartiger schwarzer Vögel begleitete ihr Verschwinden.

      Okambo blieb liegen. Er sah, wie der rote See um ihn herum ins Gigantische wuchs. Trotzdem dachte er nicht daran, dass er nun sterben würde. Er machte sich Sorgen, dass er jetzt auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen wäre, weil er nicht mehr alleine aufstehen konnte. Und er quälte sich mit dem Gedanken, dass Eddie, einer seiner wenigen und daher kostbaren Freunde, auf ihn sauer sein würde, weil er sein Auto nicht rechtzeitig würde abholen können.