Jay Bates

Der Schnüffel-Chip


Скачать книгу

      12.

      Auf der anderen Seite des Atlantiks blickten ein mürrischer älterer Herr und eine aufgeregte junge Frau in einem fensterlosen Raum auf einen riesigen Bildschirm, auf dem sich verschlungene Muster zeigten. Man hätte sie für Tapetendesigner halten können oder Mathematiker, die den Verästelungen von Fraktalen folgten. Sie zoomten in die Verzweigungen der Grafik hinein und erzeugten neue Muster, die sich in neuen Fenstern auftaten. Ihr Vokabular wäre für Außenstehende unverständlich gewesen – nur, dass es hier keine Außenstehenden gab. Zwei von Tausenden hochbezahlter Spezialisten, die sich ihn ihrem Code unterhielten.

      „John, ich würde gerne mal genauer in den Londoner Knoten schauen…“

      „Ich würde beim De-CIX anfangen, Rachel… Frankfurt ist das No.1 Internet traffic hub in Europa.“

      Die junge Frau – offensichtlich ein Trainee – wurde noch aufgeregter: „O ja. Moment, die fangen gerade zwei DDoS-Attacken ab… O, und hier bekomme ich eine cross-reference-Warnung: eine Meldung über einen Mord in Deutschland hat Aktivitäten in einem überwachten Firmen-Netzwerk ausgelöst. Das zeigt mir der britische GCHQ im Tempora-Programm. Und der Kincais-Algorithmus zeigt in unserem »Prism« dazu passende Skype-Aktivitäten. Das wird ja immer interessanter…“

      „Bleib ruhig. Es ist nichts Politisches und nichts Terroristisches. Das BKA zeigt kaum traffic, das Innenministerium in Berlin auch nicht. Hast du finanzielle Aktivitätsmuster, die dazu passen?“

      „Nichts zu sehen. SCISSORS und Protocol Exploitation zeigen auch nichts Auffälliges.“

      „Haben wir was über das Opfer?“

      „Nein. Kein Facebook-Profil, keine E-Mails, im Netz praktisch nicht sichtbar.“

      „Hm! Entweder ein Profi oder ein Sozialfall. Aber wir können uns ja nicht persönlich um jeden kümmern. Was die Algorithmen nicht markieren, muss uns egal sein. Die Zahl der Morde bei uns ist ja in allen Großstädten stark rückläufig, dank der IT-gestützten Strategien beim Polizeieinsatz. Letztlich dank unserer Tätigkeit. »Wissen ist Macht«, sagte Lord Bacon, aber es ist auch Schutz der Bürger. Was die Deutschen machen, kann mir egal sein.“

      „Aber wir müssen uns den BND warm halten, er überwacht den ausländischen Datenverkehr, der durch Deutschland führt. Die Nahost-Strecke, über die Datenströme aus Krisenregionen verlaufen. Was soll ich tun, John?“

      „Gib dem Ganzen einen Prism-Schlüssel und leite es an einen Sachbearbeiter weiter. Soll er sich darum kümmern. Er soll entscheiden, ob er es an das Consolidated Intelligence Center in Wiesbaden schickt. Oder, das Foreign Affairs Directorate ist ja eigentlich zuständig für Kooperationen mit anderen Ländern. Sollen die das behandeln, damit sie das deutsche politische Führungspersonal vor dem Backlash schützen können, falls es bekannt wird, dass wir die Finger in ihren Geheimdiensten haben. Sie wissen ja offiziell nichts davon, haha! Das Internet ist für sie »Neuland«. Dabei kann es jeder Schüler in Wikipedia nachlesen. Na ja, nichts, was uns wirklich betrifft. Ein Einzelfall interessiert uns nicht. Die Metadaten brauchen wir: wer wann mit wem kommuniziert hat. Ich möchte dir jetzt lieber das Targeting and Mission Management zeigen, die Steuerung des Ganzen. Die Global Access Operations. Der Prototyp Boundless Informant beschreibt die GAO-Datensammelmöglichkeiten mit Metadaten. Anders werden wir den drei Milliarden Erkenntnissen pro Monat ja nicht Herr. Er kann nach Ländern auswerten, nach Organisationen, nach Individuen. Bis in höchste Detailtiefe. Wie du es gerade an diesem Einzelfall gemacht hast, Rachel. Aber das war ja nichts Bedeutendes.“

      Und damit glitt ein aufblitzendes Warnzeichen in das Dunkel eines bürokratischen Ablaufs. Es hätte ein weiteres Menschenleben retten können.

      13.

      Wie immer registrierte Yasmin Stökel auf dem Weg zu ihrem Mittagsmahl die Blicke der Männer, die ihre trotz der Pelzjacke provozierenden Brüste anstarrten, ihre perfekte Nase und ihre sinnlichen Lippen ?­­ all das war ja auch teuer genug gewesen. Langsam schlenderte sie dahin, in Gedanken versunken. War es richtig gewesen, mit Ümid so schnell zusammenzuziehen? Mit dreiundzwanzig? Sie hatte zwar das Gefühl, dass er sie liebte und es nicht nur auf ihr Geld abgesehen hatte ?­­ er hatte offenbar selbst genug, aber niemand wusste, woher ?­­, aber sie misstraute ihrem Gefühl. Zu oft schon war sie so verliebt gewesen wie jetzt, und nach einigen Wochen oder Monaten war nichts mehr davon übrig gewesen.

      Um einen verkrüppelten Bettler machte sie einen großen Bogen. Sie kannte die Geschichten aus dem Fernsehen: die mitleidheischenden, von rumänischen Profi-Banden geschickt platzierten Elendsgestalten, deren Tages­einnahmen abends in die Taschen der Chefs flossen. So bemerkte sie die Gruppe Jugendlicher nicht, die ihr immer dichter folgte. Und als es geschah, war sie vollständig überrascht. Sie war umringt, eine Hand drückte ihr den Kopf herunter, und ehe sie überhaupt reagieren konnte, wurde sie durch eine offene Seitentür in einen Kleinbus gedrängt, immer noch gefangen in der Gruppe, die wie ein Haufen von Spielern beim American Football im Inneren des Wagens über ihr zu Boden taumelte. Sie fühlte, wie ein kratziger Wollsack über ihren Kopf gestülpt wurde, und ehe sie einen Laut von sich geben konnte, war ihr auch diese Möglichkeit durch ein breites Packband verwehrt, das von außen um den Wollsack geschnürt wurde. Dann wurden ihre Hand- und Fußgelenke mit einem weichen dicken Strick gefesselt. Hilflos lag sie auf dem Boden des Wagens und versuchte, die aufkommende Panik zu bekämpfen.

      Keiner der Passanten hatte offenbar mitbekommen, dass die Gruppe von grölenden Jugendlichen mit den Bierflaschen, die sich in einen offenen Kleinbus fallen ließen wie ein Fußballteam nach erfolgreichem Torschuss, ein attraktives junges Mädchen unter sich begrub. Und wenn es jemand mitbekommen hatte, dann hatte er sicherheitshalber weggeschaut.

      Der Wagen setzte sich in Bewegung, fädelte sich zügig in eine Lücke des Verkehrs ein und bog um die nächste Ecke. Längere Zeit holperte er über die Straßen der Stadt und schien öfter gezielt die Richtung zu wechseln. Yasmin versuchte, die Kurven mitzuzählen, um sich irgendwie den Weg einzuprägen. Aber das gelang ihr nicht. Ihre Angst hinderte sie daran, sich zu konzentrieren, ebenso wie die fast alle Geräusche übertönende Techno-Musik aus dem Autoradio. Wäre ich nur nicht ohne Hasso gegangen, dachte sie immer wieder. Aber nun war es zu spät.

      Plötzlich hörte sie eine Polizeisirene, erst schwach, dann immer lauter. Sie kam von hinten. Der Wagen verlangsamte ein wenig die Fahrt. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie sah schon eine Armee grimmiger Beamter vor sich, die ihre Entführer mit gezogenen Pistolen stoppten und in Handschellen legten. Dann war das Sirenengeräusch eine Sekunde neben dem Wagen und zog vorbei. Im Ton tiefer und leiser werdend entfernte es sich in Fahrtrichtung. Die Jugendlichen johlten vor Begeisterung und stellten ihre Füße auf den Sack mit ihrem Opfer.

      Je länger sie fuhren, desto schlechter wurde die Wegstrecke. Offensichtlich hatten sie die Innenstadt inzwischen verlassen, denn sie schienen jetzt auch schneller zu fahren. Das Zeitgefühl war ihr vollkommen verloren gegangen. Soweit sie das beurteilen konnte, waren sie auf einer relativ einsamen Landstraße angelangt. Dann wurde die Geschwindigkeit plötzlich verringert und der Wagen bog schaukelnd auf einen weichen holperigen Boden ab. Langsam fuhr er durch platschende Pfützen. Es roch nach Wald, das konnte sie feststellen.

      Ihr war schlecht vor Angst. Ihr Magen revoltierte, ein bitterer Geschmack stieg ihre Speiseröhre empor und beinahe hätte sie sich übergeben. Sie zwang sich, den Brechreiz zu unterdrücken. Das Klebeband auf dem Wollsack über Mund und Nase hinderte sie am Schreien, aber auch am Atmen. Sie brachte nur ein qualvolles Ächzen heraus, das aber niemand beachtete. Sie wusste, sie würde an ihrem Erbrochenen ersticken, wenn sie sich nicht beherrschte. Keiner würde sich darum kümmern. Wenn sie tot ankäme, würden sie sich ein neues Mädchen holen.

      Ihre Panik stieg von Minute zu Minute. Ein krampfendes Gefühl schoss durch ihren Unterleib. Sie wusste, was kommen würde. Zu oft hatte sie im Fernsehen Berichte gesehen, wo Jugendliche Mädchen entführt und vergewaltigt hatten. Im Alkoholrausch, unter Drogeneinfluss oder auch total nüchtern. Das machte keinen Unterschied. Hauptsache, man hatte seinen Spaß