Jay Bates

Der Schnüffel-Chip


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neulich kam im Fernsehen, dass der E-Mail-Verkehr zwischen Regierungsstellen mitgelesen wurde, obwohl er ziemlich kompliziert verschlüsselt gewesen sein soll...”

      „Sag’ ich doch! Wie bei Viren im Internet: Der Hacker ist immer einen Schritt voraus! Also geh’ davon aus, dass alles möglich ist. Zum Beispiel sitzt ein Kerl mit seinem Laptop im Flughafen-Café, stiehlt die Identität eines Mitreisenden aus dessen Pass und schreibt sie in seinen eigenen und fliegt dann mit einem ebenfalls gefälschten Erste-Klasse-Ticket nach Australien. Ich meine, es kann schwierig und tricky sein, aber es geht.”

      „Obwohl...”, Mike wurde unsicher, „die Verschlüsselung der in der Automobilbranche in den USA eingesetzten RFID-Chips ist zwar schon geknackt worden. Die Chips sind in Autoschlüsseln eingebaut und deaktivieren die Wegfahrsperren. Aber ich glaube nicht, dass das so einfach gewesen ist. Ich würde ja den Code-Schlüssel täglich wechseln und so vom Datum abhängig machen. Ich habe mal gehört, dass das sogar schon gemacht wird. Da wär’ man auf der sicheren Seite!”

      „Ja, aber...”, Lander gab noch nicht auf, „Wenn es so viele Möglichkeiten des Missbrauchs gibt, warum akzeptieren es die Leute dann? Ich meine, ich würde mich dagegen wehren! Und wer hat überhaupt etwas von dem ganzen System – nur die Industrie und die Behörden oder auch der Bürger?”

      Mike wand sich ein wenig. Das waren ja Ausflüge ins Philosophische und somit nicht gerade seine starke Seite. „Das sind aber viele Fragen auf einmal...”

      „Fang’ vorne an...”

      „Nee, ich fange hinten an. Die Vorteile... ich erzähle dir eine kleine Geschichte: stell’ dir vor, du kommst in ein Geschäft und wirst freundlich empfangen”, illustrierte Mike seine Erläuterung und hob seine Stimme ein wenig, um diese Ansprache zu imitieren: „Guten Tag, Herr Lander, schön, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen! Sie waren ja längere Zeit nicht bei uns, aber ich erinnere mich an die leckere scharfe Toskana-Salami, die Sie das letzte Mal gekauft haben. Die ist jetzt im Angebot. Ihre bevorzugte Schokolade mit dem hohen Kakaoanteil hat übrigens einen neuen Platz bekommen, sie befindet sich jetzt direkt vor den Kassen.”

      Lander blickte Mike etwas verständnislos an: „Na und?! So freundlich ist mein Türke an der Ecke immer zu mir!”

      „O Mann, verstehst du nicht? Du bist im Supermarkt. Es ist dein Einkaufswagen, der zu dir spricht!”

      „Du spinnst... Stell’ dir doch mal das Gequassel in einem vollen Supermarkt vor!”

      „Nein, ich spinne nicht! Der Einkaufswagen hat deine RFID-Kundenkarte drahtlos und unbemerkt gelesen und weiß nun, wer du bist. Den Rest macht der Computer des Supermarktes, er kennt alle deine letzten Einkäufe und du hast dir sogar einmal ausgesucht, ob ein Mann oder eine Frau mit dir redet. Sozusagen ein männlicher oder ein weiblicher Einkaufswagen! Und vielleicht bist du ja auch nur in dem Laden, weil du vorher von der Supermarktkette eine Mail bekommen hast, dass deine Lieblingssalami gerade besonders preiswert ist? Vielleicht bekommst du auch als guter Kunde einen anderen Preis, so wie auf dem Markt in Tunesien, wo die Einheimischen nur ein Drittel der Preise der Touristen zahlen. Und dein Smartphone zeigt dir gleich den Weg zu deiner Salami, damit du dich in den Regalen nicht tot suchen musst. Wenn das keine Vorteile sind!”

      „Du hast aber eine blühende Fantasie...”

      „Ne, das machen die bereits im Feldversuch in mehreren Großstädten. Es nennt sich Future Store, der Laden der Zukunft. Die Leute finden es toll, denn sie müssen nicht mehr an den Kassen warten, wo eine genervte Kassiererin die Waren am Strichcodeleser vorbeiziehen muss und vor lauter ‚Piep’ gar nicht mehr lächeln kann.”

      „Und wie zahle ich?”

      „Wird von der Kundenkarte abgebucht, das kennst du doch. Oder von der Kreditkarte... oder, wenn du eine lächelnde Kassiererin sehen willst, auch in bar. Und natürlich bekommst du am Ausgang immer einen schönen Kassenstreifen zur Kontrolle vom Computer. Und sie senden dir Sonderangebote ins Haus... was du alleine durch diese Schnäppchen sparst!”

      Lander hatte immer noch Schwierigkeiten, das Konzept zu verstehen: „Und diese ganze Information ist auf dem Chip gespeichert?”

      „Nein, natürlich nicht, alle diese Chips senden immer nur wenige Informationen, wenn man von dem Ding in den Pässen mal absieht. Die Chips auf den Kundenkarten oder den Warenetiketten oder den Fußballtickets senden immer nur ein ‚ich bin der und der’ an den Empfänger in den Leseschleifen am Eingang oder Ausgang... oder wo sie auch immer sind. Also deine Kundennummer oder die Warennummer der Knödelpackung oder die Nummer der Eintrittskarte oder die Nummer des Geldscheines oder oder oder... Die Information, also die Bedeutung der Daten, entsteht erst durch die Verknüpfung der Einzeldaten im Computer...”

      „Also Kunde Lander hat heute Knödel und Tütensuppe gekauft...”

      „Genau! Und zwar im Laden Herrmannplatz, und er hat mit Kreditkarte von Visa bezahlt. Und es war heute früh um acht... der Computer hat dich damit als Frühaufsteher identifiziert...”

      „Jetzt hab ich’s. Aber das ist dann ja durch die Verknüpfung der Einzeldaten ein komplettes Verhaltensprofil von mir!”

      „Oder ein Bewegungsprofil... du sagst es! König Kunde ist jetzt durchsichtig bis auf die Knochen... Na, also, ist doch nicht so schwer!”

      „Und dafür der ganze Aufwand mit einem neuen Chip?” Lander war sich über die gesellschaftlichen Implikationen immer noch nicht ganz klar.

      „Ja. Der Witz ist erstens, dass der Chip unbemerkt gelesen werden kann, ohne einen einzigen Handgriff, wie etwa an der Supermarkt-Kasse, wo bisher wenigstens die Ware mit dem Barcode in den Laserstrahl gehalten werden musste. Zweitens, dass sie jetzt nicht eine Produktgruppe identifizieren – Schweinekoteletts 500-gr-Packung – sondern das einzelne Produkt, die Packung direkt, die du gerade in der Hand hast. Bei den Koteletts ist das wahrscheinlich egal, aber bei der Eintrittskarte zur Fußball-WM gerade nicht. Da wollen sie wissen, dass diese einzelne Karte genau dir gehört! So können sie Warenströme überwachen oder die Verbindung von Individuen zu einzelnen Waren. Bei den Koteletts, wenn ich darüber nachdenke, ist es ja auch ein Vorteil für den Verbraucher, genau dieses Stück Fleisch bis zum Erzeuger zurückverfolgen zu können. Vielleicht stammt das Schweinekotelett je vom Pferd?! Und wenn Bargeld irgendwann einmal den Chip bekommt, dann kann der Weg jedes einzelnen Geldscheines kontrolliert werden... aus ist’s mit Schwarzgeld!”

      Lander war hartnäckig: „Waren sind doch aber schon alle durch den Strichcode gekennzeichnet, wozu brauchen wir dann noch ein neues Prinzip?!?”

      Mike verdrehte ein wenig die Augen und fing an, sich wie in der Schule zu fühlen – nur mit vertauschten Rollen. Der begriffsstutzige Schüler, das war auf einmal Lander, sein Patchwork-Vater. „Mann, denk’ doch mal mit! Das ist ein Milliardengeschäft! Erstens sparst du die Arbeitskräfte, die die Ware am Leser vorbeiziehen müssen... Da ist die Industrie ganz scharf drauf. Zweitens kannst du jeden einzelnen Artikel identifizieren, nicht nur die Gattung, jede einzelne Wurst kann ihr Herstellungsdatum, ihre Zusammensetzung, ihre Chargennummer speichern... Drittens kannst du die Daten unbemerkt und ohne menschliche Arbeitskraft lesen, darauf kann man gar nicht oft genug hinweisen! Das eröffnet doch ungeahnte Möglichkeiten, findest du nicht? Hast du’s jetzt gerafft?”

      Lander kam zum Ausgangspunkt seiner Frage zurück, ganz der Kommissar, der sich durch keine Unverschämtheit seines Gesprächspartners von seinem Ziel abbringen ließ: „Warum wehren sich die Leute nicht gegen diese Überwachung? Es müsste doch ein Aufschrei durch die Presse gehen!”

      „Das kann ich dir sagen, ich habe darüber mal eine interessante Fernsehsendung gesehen, da wurden die Geheimnisse des Schnüffelstaates beleuchtet.”

      „Infotainment? Die inszenierte Bedeutungslosigkeit?”

      „Nein, ein drittes Programm, wirklich interessant! Meistens reagiert der Benutzer darauf ähnlich wie bei schon bekanntem elektronischem Gefahrenpotential wie zum Beispiel auf die Betrugsmöglichkeiten beim Internet, beim Online-Banking, bei den Kredit-