Jay Bates

Der Schnüffel-Chip


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nicht ganz: seine Witwe und sein Sohn würden seine monatlichen Zahlungen vermissen. Sein Vermieter würde Mühe und Kosten haben, für dieses heruntergekommene Loch einen neuen Mieter zu finden. Eddie hätte ein herrenloses altes Auto auf seinem Grundstück stehen. Seine zwei Jobs würden von Arbeitssuchenden ergriffen werden wie Stücke Brot von hungrigen Kindern. Und jemand würde eine Beerdigung organisieren und bezahlen müssen. Das war alles. Nicht viel. Ein toter Single. Noch dazu schwarz.

      Geist und Seele Okambo Ozambas lösten sich von seinem Körper und stiegen als kosmischer Äther empor. Dann materialisierten sich ihre feinstofflichen Anteile als lebensgroßer Engel, der in einem weich fließenden weißen Gewand über dem Körper Okambos schwebte. Er blickte nachdenklich auf sich herab. Mit seinen silbrigen schulterlangen Locken, die sein schwarzes Gesicht umrahmten, sah er aus wie der erste farbige Richter Englands in seiner hoheitlichen Perücke.

      Mit einem letzten Blick nach unten begann er mit langsamen würdevollen Flügelschlägen nach oben zu entschweben. Ich armer Kerl, dachte er, da habe ich ja nun nicht viel vom Leben gehabt! Aber wenn ich an den Schlamassel denke, in den ich hineingeraten wäre, ...

      10.

      Lene Klemke hatte ihren Tag wie immer früh begonnen, und das Frühstück für sich und ihren Lebensgefährten bereits abgeräumt. Während dieser noch in der Küche klappernd mit dem Aufräumen beschäftigt war, stand sie wie so oft hinter der Gardine und blickte nach draußen in der Hoffnung, irgendein ungewöhnliches Ereignis möge ihren grauen Rentneralltag aufhellen.

      Heute wurde sie nicht enttäuscht: „Du, Achmed, komm doch mal! Schau dir das an! Was machen die da?”

      Achmed war die Unterbrechung seiner Küchenarbeit willkommen. Sekunden später stand er neben ihr, ebenso sorgfältig darauf bedacht, von außen nicht gesehen zu werden. Doch nach einem kurzen Blick wandte er sich enttäuscht ab: „Kinder spielen, na und?”

      „Na, guck doch mal, guck doch mal! Das ist doch was nicht in Ordnung, die greifen einen Erwachsenen an!”

      Er kam wieder zurück: „Wo? Ich sehe nicht!”

      „Ihr Männer seht immer nichts! Da, hinter dem Strauch, jetzt kommt er nach vorne, die kämpfen miteinander!” Ihre Hand fingerte nach dem perlmuttbesetzten uralten Opernglas neben dem Kissen für ihre Ellenbogen, das so verstellt und zerkratzt war, dass es ihre Sicht auf die Ereignisse der Welt auch nicht merklich verbesserte.

      „Sollen sie doch, da ist doch nichts dabei! Die spielen miteinander!”

      „Spielen! Spielen? Eine Horde Kinder und ein Erwachsener? Die haben Pistolen...”

      „Wasserpistolen werden das sein...”

      „Und... O Gott, jetzt fällt er ja um! Na, mach doch mal was! Hilf ihm doch mal! Es ist doch ein Schwarzer wie du!”

      Das gefiel Achmed gar nicht. Sie hätte es wissen müssen. Seine dunkle Hautfarbe war schließlich ganz anders, und das brachte er wieder einmal zum Ausdruck: „Er ist nicht wie ich, ich bin Marokkaner, nicht Schwarzer, er ist Schwarzer, ein Neger aus Kongo oder weiß ich! Er ist nur Neger, hat keine Kultur, wir haben Kultur, fünftausend Jahre, er ist nur Neger...”

      „Aber deswegen kannst du doch nicht... er ist doch auch ein Mensch! O Gott, jetzt liegt er da! Und die hauen ab! Und er liegt da! Mach doch was! Ruf die Polizei!”

      „Ich rufe nicht Polizei. Ich habe genug von Polizei. Wie mich hat letzte Mal behandelt! Nur weil ich bin aus Marokko und Muslim...”

      „Dann rufe ich eben an!”

      „Nein, das geht uns nicht an, wir haben nicht gesehen.”

      „Aber wir müssen doch...”

      „Wir müssen nicht!”

      „Wir müssen doch! Ich rufe jetzt an! Ich muss mich ja nicht melden, ich sage nur sie sollen kommen...”

      „Dann mach, was du richtig hältst! Aber sage nicht den Namen! Ich will nicht Ärger!”

      Es war kurz nach zehn Uhr, als sie zum Hörer griff: „Hier... äh, äh... ein Mann liegt auf der Straße, Kastanienallee fünfundsechzig, kommen Sie doch mal, schnell, auf Wiederhören!”

      11.

      Der Bus näherte sich der Haltestelle ”Kastanie Ecke Erlen”. Es war 10 Uhr 03, als der Fahrer aus den Augenwinkeln etwas entdeckte, das seine Aufmerksamkeit von der Fahrbahn ablenkte.

      Nach der Privatisierung waren die Verkehrsbetriebe erbarmungslos auf Effizienz und Kundenorientierung getrimmt worden. Die Betriebshöfe hatten sich in eine Art Armeedepot verwandelt, hoch umzäunt und scharf bewacht. So hatte sich die Rate der Sachbeschädigungen und Schmierereien drastisch verringert. Die Men In Blue ?­­ so nannte man die smarten Jungs von Adamson Consulting ?­­ hatten Service Levels definiert, insbesondere Pünktlichkeit und Freundlichkeit, für die die Fahrer selbst verantwortlich gemacht wurden. Ein System von Qualifikationspunkten war jedem Mitarbeiter zugeordnet. Bei Verletzung der Ziele gab es Sanktionen, zum Beispiel schlechte Schichten oder langweilige Büroarbeit oder gar so genannte ”Verhaltens­seminare”, die besonders verhasst waren und bei den Fahrern als Gehirnwäsche galten. Denn viele waren ”selbständige Unternehmer” und konnten jederzeit an die Luft gesetzt werden.

      So nahm der Fahrer, als die Gestalt vor dem Brachland erblickte, zwar unwillkürlich den Fuß vom Gas, aber mehr auch nicht. Denn natürlich war es ihm erst recht verboten, ohne wirklich triftigen Grund zwischen den Haltestellen anzuhalten. Nach kurzem Zaudern griff er zum Sprechfunk-Mikrofon, das ihn mit der Zentrale verband und drückte die Taste.

      „Code 1014, vielleicht sogar 1016”, sagte er knapp, ohne sich zu melden.

      „Verstanden!”, kam es aus dem Lautsprecher. Mehr an Kommunikation brauchte es nicht. Man hatte in der Zentrale seine Bus-Kennung und seine Position über das GPS.

      Die Zentrale handelte routinemäßig. ”Hilflose Person, vielleicht sogar verletzte Person”, das besagte die Meldung, und so wurden Polizei und Notarzt alarmiert.

      Nach etwa 20 Minuten traf der Streifenwagen ein und fand Okambo in einer hellroten Blutlache am Boden liegend. Etwas ratlos stand der Beamte herum, ohne einen Finger zu rühren. Dann kam ihm eine Idee: „Ruf’ doch mal einen Krankenwagen!”, befahl er dem am Steuer sitzen gebliebenen Kollegen. Als er vernahm, dass dieser schon unterwegs sei, setzte er sich wieder in den Streifenwagen und wartete. Der Fahrer verriegelte die Türen.

      Kaum 6 Minuten später hielt der Notarztwagen vor dem Brachland. Ein junger Arzt stieg aus, bewaffnet mit dem Notfallkoffer und ging auf Okambo zu. Er kniete neben ihm nieder und tastete nach seiner Halsschlagader. Dann legte er ihm eine Blutdruckmanschette an, schließlich auch noch ein EKG.

      Die Polizisten beobachteten noch weitere Maßnahmen, deren Sinn ihnen aber verborgen blieb. Dann erschien der Notarzt am Seitenfenster des Streifenwagens und sagte lapidar: „Tot. Könnt Ihr übernehmen?!”

      Der Beifahrer im Streifenwagen richtete sein Lesegerät auf den Toten, um seine Identität festzustellen. „Hoffentlich hat er einen Ausweis dabei, sonst haben wir eine Menge unnütze Arbeit!”, murmelte er beiläufig. Er wurde nicht enttäuscht.

      Ein Funksignal trat aus der Antenne des kleinen Kastens und erreichte die Antenne des Chips auf dem Pass von Okambo. Dort erzeugte es eine elektrische Spannung. Das ist Physik – elektromagnetische Strahlen wirken so. Man muss nicht verstehen, warum es so ist. Hauptsache, es funktioniert. Sonst hätten wir weder Fernsehen noch Radio noch Handys. Nun hat der kleine Chip genug Energie bekommen – er braucht nicht einmal eine Batterie. Er wacht auf und sendet seine wenigen Daten, eigentlich nur die Passnummer, zurück. Es sind ja nur ein paar Meter bis zum Lesegerät im Wagen, das die Daten auffängt. Es fügt Standort und Datum dazu und noch ein paar weitere Informationen aus dem Laptop des Streifenwagens, und ab geht die Information als Datenpaket ins Präsidium, wo die Computer schon hungrig auf ihr Futter warten.