Jay Bates

Der Schnüffel-Chip


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geworfen. Der Geruch nach feuchtem Moder stieg in ihre Nase. Die Männer stiegen aus. Plötzlich fühlte sie, wie sich eine Hand unter ihre Pelzjacke schob, unter ihr T-Shirt, über ihre nackte Haut wie eine kalte trockene Schlange. O Gott!, dachte sie verzweifelt und ihre Angst brach in einem Schluchzen aus ihr heraus. Jetzt würde das kommen, was sie am meisten gefürchtet hatte. Die Panik nahm ihr fast die Sinne.

      Doch dann vernahm sie, gedämpft durch den Wollsack über ihrem Kopf, eine gebieterische Stimme: „Lass’ das! Das ist nicht unser Auftrag! Wir sollen sie nicht anrühren!”

      Sofort ließ der Grapscher von ihr ab, ohne einen Ton zu sagen.

      Sie spürte, wie eine kalte Flüssigkeit über ihre Fesseln gegossen wurde. Wieder dieselbe Stimme: „In einer halben Stunde ist das Papier aufgeweicht. Dann kannst du dich losmachen. Geh zur Straße, dann kommst du schon irgendwie nach Hause! Sag’ deinem Lover, er soll seinen Job machen! Und wenn ihr plaudert oder zur Polizei geht, dann hilft euch dein Köter auch nicht mehr!”

      Der Motor des Wagens heulte auf. Und dann waren sie weg.

      14.

      Hauptkommissar Paul Lander saß am Schreibtisch, mürrisch und unlustig wie so oft. „Ich finde, in meinem Beruf und bei meinem Alter wäre gute Laune verdächtig!”, so lautete sein gelegentlich laut geäußerter Wahlspruch. Heute früh war er wieder einmal erschrocken, als er das zerfurchte Gesicht im Badezimmerspiegel entdeckt hatte, das ihn in letzter Zeit immer häufiger morgens in Panik versetzte. Er betrachtete die Welt von innen mit den Augen eines Dreißigjährigen, der er vor über zwei Jahrzehnten einmal gewesen war, und wunderte sich über die Gleichaltrigen, die wie seine Eltern aussahen. Wie attraktiv und dynamisch hatte er doch damals gewirkt, als er voller Idealismus und einem unbändigen Drang nach Gerechtigkeit der Polizei beigetreten war.

      Vielleicht gehörte auch seine äußere Erscheinung zu seinem negativen Selbstbild. Miriam ermahnte ihn öfter, sich jugendlicher zu kleiden. Andere sagten, er wäre der typische Anzugtyp, aber er hasste Krawatten und formelle Kleidung. Im Dienst erschien er meist im fast schon antiken Cordjackett, natürlich nicht zu der Cordhose passend, die er trug, und einem nahezu beliebig dazu ergriffenen Hemd. Den Schlips in einer zu allem kompatiblen neutralen Farbe hatte er für offizielle Gelegenheiten in der Schreibtischschublade deponiert.

      Die Jacke wurde wie üblich über die Stuhllehne gehängt, was ihrer Form nicht sehr gut bekam, sofern überhaupt noch eine vorhanden war – so auch heute, als er sich gleich morgens auf den kommenden Tag vorzubereiten begann. Ein ruhiger Job, wie er hoffte. Er ahnte nicht, dass er an diesem Tag noch richtig Arbeit bekommen würde.

      Im Zuge der so genannten Entbürokratisierungsmaßnahmen hatte es einen ungeheuren Wirbel gegeben, der auch sein beschauliches Leben verändert hatte. Unternehmensberater, junge Burschen in korrekten grauen Anzügen, hatten für exorbitante Honorare die Verwaltungsstrukturen durchkämmt und zum Teil groteske Empfehlungen gegeben. So war die Internet-Recherche-Gruppe aufgelöst worden ?­­ dafür musste nun jeder Beamte einmal im Jahr sein IKZ, das ”Internet-Kompetenz-Zertifikat”, erneuern. Zum Abbau von Bürokratie hatten die Aktionen allerdings nicht geführt, im Gegenteil. Aber so ist nun mal der Lauf der Welt: schon Shakespeare beklagte den Übermut der Ämter, und das zu Recht.

      Die Dienstvorschriften, ein grandioses System, das Genies zur Benutzung durch Schwachköpfe ersonnen haben, war im Computer gespeichert, perfekt mit Hypertext verlinkt. Manche Beamten verwendeten es, um ihr Nichts­tun zu rechtfertigen. Wenn man wollte, konnte man aus den Vorschriften ein Netz von Handlungsanweisungen herstellen, die nur den Nachteil hatten, sich in letzter Konsequenz selbst zu widersprechen. Dann brauchte man gar nichts zu tun und hatte auch noch eine perfekte Entschuldigung dafür. Wenn Lander so etwas sah, konnte er sich kaum im Zaum halten.

      Man hatte sogar die Einzelbüros aufgelöst und mehrere Großraumbüros geschaffen, in denen man durch Stellwände getrennt zusammensaß. Manchmal gab es nicht einmal diese Abschirmung vor den Blicken und Ohren der Kollegen. Nun saß er mit seinen beiden Kollegen Clot Fillol und Heinz Bekovitch an einer Art Wagenburg, die aus drei Holzschreibtischen aus dem vorigen Jahrhundert gebildet wurde. Die darauf stehenden Flachbildschirme bildeten einen stilvollen Kontrast zu diesem Spitzweg-Idyll. Die Arbeitsplätze waren neckisch um ein Arrangement aus vier mickrigen Gummibäumen herum gruppiert, deren Suizidversuche man täglich beobachten konnte. Schränke gab es nur noch wenige: Die abgegriffenen Ermittlungsakten mit ihren wie geschwätzige Zungen heraushängenden Lesezeichen waren in den Tiefen von Computer-Fest­platten verschwunden. Nach Wochen von Staub und Dreck durch den Umbau sollten die Mitarbeiter die Früchte dieser Maßnahme ”genießen”: verbesserte Kommunikation in der Gruppe. In der Praxis hieß das, dass sich Lander nicht mehr konzentrieren konnte und zu vertraulichen Telefonaten in einen eigens dafür geschaffenen ”Rückzugsraum” gehen musste. Er ärgerte sich täglich aufs Neue über diesen Schwachsinn.

      Die Arbeit der smarten Jungs hatte aber auch ihr Gutes gehabt. Sie hatten sich mit dem Problem des Wissensmanagements befasst, mit der Frage, wie das in den Köpfen der Ermittler vorhandene Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden konnte. Zu oft hatte es in der Vergangenheit Doppelarbeit gegeben und die Rechte nicht gewusst, was die Linke tut. Daher wurden nicht nur zentral geführte elektronische Ermittlungsakten eingeführt, ein Ersatz für den guten alten Notizblock à la Columbo. Es wurde zusätzlich eine Software namens KnowledgeNet auf allen Computern installiert. Sie zog Stichwörter, Namen und Daten aus allen Mails und Dokumenten und stellte sie in eine zentrale Datenbank. Dieser große Bruder las alles mit, und nichts entging ihm. Jeder konnte dort bei Bedarf herausfinden, ob jemand woanders an ähnlichen Fällen gearbeitet oder dieselben Verdächtigen im Visier gehabt hatte. Die informellen Plauschs am Kaffeeautomaten, bei denen man durch Zufall etwas erfuhr, waren nun überflüssig geworden. Man unterhielt sich dort nun nur noch über Fußball oder den Chef.

      Der Einsatz der externen Berater hatte schließlich auch zum ”Gesetz zur leistungsabhängigen Beamtenbesoldung”, kurz ”GLeistBeBe”, geführt. Und dazu, dass jeder einmal im Jahr mit seinem Vorgesetzten ein ”BuF” führen musste. Das ”Beratungs- und Förderungsgespräch” diente dazu, zu prüfen, wie weit man seine vorher definierten Arbeitsziele erreicht hatte. Abhängig davon wurde das Gehalt festgesetzt.

      So brütete Lander nun über Kriterien wie ”Selbständiges Arbeiten”, ”Kooperation mit anderen Behörden”, ”Kenntnis und Befolgung von Gesetzen und Vorschriften”, ”Beherrschung neuer Medien” und anderen Qualitätsmessern seiner Arbeit. Er überlegte, mit welchen Argumenten er eventueller Kritik seines Chefs an seinen diesbezüglichen Leistungsnoten begegnen könnte. ”Soziale Kompetenz” ?­­ auch ein Kriterium ?­­ hatte er ja genug, wenn auch eher von der barschen Art, sonst hätte er seinen Job gar nicht machen können.

      Während er sich noch Stichworte notierte, um seine Leistungen in das rechte Licht zu rücken, klingelte sein Telefon. Der Chef war in der Leitung, ohne sich zu melden, wie immer. Kurz, knapp, etwas brummig.

      „Wir haben da ein paar Hinweise auf Betrugsversuche, Stichwort ‚RFID’. Die Kollegen von der Wirtschaft haben mich darauf angesprochen, denn es gibt auch Hinweise auf Gewaltverbrechen. Also unsere Zuständigkeit. Irgendwas ist da im Gange! Und wir identifizieren Leute mit den neuen Ausweisen mit dieser Technik. Machen Sie sich doch mal sachkundig!”

      Das hatte Vorrang vor seiner Vorbereitung auf das ‚BuF’, das war ihm klar. Wie er es inzwischen gewohnt war, suchte er zuerst Rat bei Google® im Internet mit dem Begriff RFID. Doch die Meldung, die er sah, motivierte ihn nicht, diesen Weg weiter zu verfolgen. 8 Millionen Fundstellen, dachte er, die haben wohl ‘nen Knall!

      Wie gut, dass er einen Fachmann kannte. Mike, der siebzehnjährige Sohn seiner Lebensgefährtin Miriam, hätte wohl gerade Schulende.

      Miriam wohnte mit Mike zwar seit einiger Zeit von ihm getrennt in einer eigenen Wohnung, von der Arbeitsagentur finanziert, aber sie waren noch immer eine Familie, im weitesten Sinne. Als zusammenwohnende ‚Bedarfsgemeinschaft’ wären sie finanziell nicht hingekommen, da Miriams Suche nach einer Arbeitsstelle bislang ohne jeden Erfolg geblieben war. So bekam sie