Jürg und Susanne Seiler

Der Stempelschneider


Скачать книгу

war er ja schon oft!“

      „Ja, hast du das denn nicht gehört? Keiner darf es erzählen, aber alle wissen es natürlich, du bist vermutlich noch der Letzte, der die Geschichte nicht gehört hat. Da du sie aber ohnehin früher oder später erfahren wirst, will ich dir alles erzählen, aber von mir hast du das nicht gehört, verstanden?“

      Der Zweite nickt, und so beginnt der andere die Erzählung:

      „Sicher hast du mitbekommen, dass der Junge des Ariston in die Frauengemächer eingestiegen ist. Es ist ja nicht der Erste, der dort von der Tochter des Kritias empfangen wurde, das wissen alle, aber Kritias glaubt, die Eskapaden seiner Tochter geheim halten zu können, wenn er die Liebhaber der jungen Dame samt ihren Familien reihum beseitigen lässt. Das ist längst das Stadtgespräch, allerdings nur hinter vorgehaltener Hand.

      Irgend jemand hat nun dem Kritias erzählt, dass der Junge dort gesehen wurde. Er ist der Sohn des Stempelschneiders, der zu den Schützlingen des Theramenes gehört. Das wiederum hat Kritias gar nicht gepasst. Theramenes war ihm immer ein Dorn im Auge, und er hat schon lange auf einen Grund gewartet, um ihn beseitigen zu können. Zudem hat es der Stempelschneider zu einem rechten Wohlstand gebracht, er konnte sogar ein Haus kaufen. Nun, reiche Metöken hat Kritias gerne, er kann sie beseitigen und ihr Vermögen beschlagnahmen. In diesem Falle passte nun alles zusammen. Theramenes wurde festgenommen und hingerichtet, und Kritias befahl, die ganze Familie des Stempelschneiders zu verhaften und in Ketten zu legen. Ich weiss nicht, was er mit ihnen vorhat, vielleicht nach Laurion verkaufen? Das brächte wieder Geld ein.

      Jedenfalls hat er gestern am späten Abend zwei Männer losgeschickt, um die Leutchen abzuholen, keine grosse Sache, es sind ja nur einfache Handwerker.

      Als die zwei ankamen, war das Haus leer bis auf einen schlafenden Sklaven. Sie wollten ihn aufwecken, merkten dann aber, dass er sternhagelvoll war. Er war so besoffen, dass alles Schütteln nichts half. Da schleppten sie ihn in den Hof und schütteten einen Kübel Wasser über seinen Kopf. Auch das half gar nichts und sie merkten, dass sie nur warten konnten, bis der Kerl seinen Rausch etwas ausgeschlafen hatte.

      Also setzten sie sich hin und warteten geduldig. Nach einer Stunde beschlossen sie, es nochmals mit Wasser zu versuchen. Der Sklave knurrte nun etwas, aber man verstand kein Wort. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiter zu warten. Da aber erinnerte sich der eine, dass der Vorratsraum offen gestanden hatte und dort Weinkrüge standen. Waren die noch voll? Sie schauten nach und siehe da, da war wirklich noch Wein vorhanden. Sie nahmen einen Becher voll aus jedem Krug und im grössten fanden sie einen ausgezeichneten Wein. Da sie ja nun ohnehin warten mussten, trank jeder etwas davon und dann noch etwas und noch etwas, bis sie betrunkener waren, als alle Seeleute in Piräus zusammen.

      Unterdessen wartete Kritias auf die Nachricht, dass die Leute hergebracht worden seien, aber nichts passierte, Stunde um Stunde verstrich, weder von den ausgeschickten Schlägern noch von der Familie des Ariston war etwas zu sehen.

      Heute Morgen früh schickte er deshalb neue Leute los zum Haus des Stempelschneiders. Als die dort ankamen, fanden sie zwei stockbetrunkene Männer und einen nicht minder vollgelaufenen Sklaven. Sie behandelten alle mit Eimern von kaltem Wasser bis der Sklave schnaufend und prustend zu sich kam. Dann erst erfuhren sie, dass die Familie nach Eleusis zum Demeter-Heiligtum gepilgert sei. Den Sklaven haben sie zu Kritias mitgenommen, vielleicht weiss der noch mehr, und die zwei dummen Schläger schlafen ihren Rausch aus. Sie werden sich allerdings über die Umgebung wundern, wenn sie aufwachen, sie sind nämlich im Kerker.

      Kritias war zornig wie noch nie, denn kostbare Zeit war durch die Sauferei des Sklaven und auch seiner Häscher verloren gegangen, und daher wurden wir alle ausgeschickt. Finden wir die Familie des Stempelschneiders, winkt uns ein grosser Lohn, und genau den will ich mir verdienen.“

      „Ich auch,“ brummt der zweite Reiter „aber was für eine Geschichte. Man legt sich offenbar besser nicht mit Kritias an!“

      „Sicher nicht,“ findet der andere „und daher ist es wohl besser, dass wir nun weiter suchen!“

      Beide krabbeln hoch, wischen sich Gras und Blättchen von den Kleidern, dann holen sie die Pferde und führen sie zurück zum Pfad. Dort steigen sie auf und einer ruft:

      „Dort vorne nach rechts, hat der Händler gesagt, dann können wir sie nicht verfehlen!“

      Wir alle bleiben mucksmäuschenstill in unseren Verstecken, bis das Hufgeklapper verhallt ist.

      „Auf geht es,“ befiehlt Ariston „wir müssen weiter. Das nächste Stück ist gefährlich, wir müssen nämlich bis zur Weggabelung den Reitern folgen und hoffen, dass sie nicht aus unerfindlichen Gründen umkehren.“

      Schweigend machen wir uns auf den Weg, alle sind bestrebt, keine Steine anzustossen, um nicht unnötigen Lärm zu verursachen. Das Wäldchen ist bald zu Ende und ein steiles, heisses Stück Weg liegt vor uns. Hinter zwei mächtigen Felsbrocken stehen wir dann vor der Gabelung. Der linke Weg führt weiter steil nach oben, verliert sich dann aber bald in Gebüsch und Schatten spendenden Bäumen. Der Pfad ist ab und zu kaum mehr zu erkennen, aber noch ist es hell und wir entfernen uns immer weiter vom anderen Weg und den Reitern, die hoffentlich immer noch dort auf der Suche sind. Das Gestrüpp wird etwas lichter, als die Sonne als blutrote Scheibe versinkt. Noch ist der Himmel blass blau, aber bald wir es ganz dunkel sein. Wir brauchen einen Platz, wo wir die Nacht wenigstens bis zum Morgengrauen verbringen können. Dies ist nun allerdings schwierig. Weit und breit kein Haus, was ja gut ist, Häuser bedeuten Menschen, und Menschen könnten uns verraten, aber auch keine Hütte eines Schäfers, kein Unterstand, einfach gar nichts. Sollen meine Herrin und die Tochter unter einem Baum schlafen? Das wäre wohl das erste Mal in ihrem Leben. Bei ein paar grossen Steinbrocken lasse ich alle anhalten:

      „Bleibt einmal hier, setzt euch hin und wartet, ich gehe auf die Suche nach einem guten Platz zum Übernachten.“

      „Ich komme mit,“ findet Niko, und wir zwei ziehen los. Ariston bleibt bei den Frauen. Wir streifen über eine Art Weide, durchsetzt mit Gestrüpp und kleinen, krummen Bäumchen. Weit und breit ist nichts zu sehen, oder doch? Ein dunkler Schatten am Rande des Feldes fällt mir auf.

      „Was ist das dort?“

      Wir beschliessen, nachzusehen und finden eine verlassene Schäferhütte, nicht besonders gross, aber über eine Leiter ist ein Dachboden zu erreichen, der mit Stroh ausgelegt ist und wohl schon immer als Schlafstätte gedient hat, allerdings nur mit wenig Platz. Für die Frauen wird es reichen, und die Männer schlafen unten. So bringen wir unsere Familie zu der Schäferhütte und alle sind froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.

      Bald ist unsere karge Mahlzeit gegessen, und alle legen sich schlafen. Im Morgengrauen schüttelt mich Ariston.

      „Panos,“ flüstert er „schläfst du?“

      Ich bin sofort hellwach. Er bedeutet mir, vor die Hütte zu kommen. Neugierig folge ich ihm. Da drückt er mir etwas in die Hand.

      „Panos, mit diesem Stück Papyrus lasse ich dich frei. Du kannst ja lesen, besser als ich, da siehst du, dass ich dir deine Freiheit wieder zurückgebe. Du hast dieser Familie treu gedient, immer wieder hättest du fliehen können, aber immer wieder bist du bei uns geblieben. Du hast die Freiheit mehr als verdient.“

      Wie hatte ich mir diesen Moment immer wieder ausgedacht, immer war da eine Flucht im Spiel, und ich hatte recht, wir sind auf der Flucht, aber alle miteinander und nicht ich allein. Ein unglaubliches Glücksgefühl erfasst mich, ich bin endlich wieder ein freier Mann und kann tun und lassen, was ich will. Ich könnte mich auch retten und die Familie dem Schicksal überlassen, denn Kritias sucht die Familie des Ariston und nicht einen ehemaligen Sklaven. Aber ich weiss schon, ich werde dies nicht tun, diese Familie ist auch meine Familie, und ich habe mein Herz heimlich schon an die Tochter verloren, auch wenn sie jetzt erst dreizehn Jahre alt ist.

      Ich will mich bedanken, doch meine Stimme versagt den Dienst. Erst nach einer Weile kann ich mich in aller Form bedanken. Aber Ariston winkt ab.

      „Du hast es dir noch und noch verdient, ich bedanke mich für all das, was du für meine Familie getan hast. Als freigelassener Sklave hast