Jürg und Susanne Seiler

Der Stempelschneider


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steckt dieser den beiden Wächtern eine Münze zu, sie überlegen noch etwas, nicken dann aber zufrieden und stossen für uns das Tor auf. Wir schlüpfen blitzschnell hinaus, und hinter uns knallt das Tor wieder zu.

      Schweigend eilen wir davon, nach der nächsten Wegbiegung hinter einem Olivenbaum bleiben wir stehen.

      Erst jetzt merke ich, dass Ariston am ganzen Leib zittert. Ich bin ein schlechter Schauspieler, aber Ariston ist noch schlechter, er hat wohl seinen ganzen Mut gebraucht, um seine Rolle zu spielen. Wir alle haben uns die ganze Zeit fast zu Tode gefürchtet, gut, dass es doch sehr dunkel war und die Wächter unsere zitternden Hände und schweissgebadeten Gesichter nicht bemerkt haben!

      „Ich hätte den Kerl umbringen können!“ schnaubt jetzt Ismene! Und da ist unsere ganze Anspannung mit einem Schlag weg, und alle brechen in Gelächter aus.

      Jetzt kann unsere Flucht nach Korinth richtig beginnen. Zuerst folgen wir der guten Strasse, dann aber biegen wir auf einen steinigen und von den Winterregen ausgewaschenen Pfad in die Hügel ab und kommen nur mühsam vorwärts. Bald aber zweigt wieder ein etwas grösserer Weg nach links und damit Richtung Westen ab. Der Mond leuchtet matt, und wir können dem Weg gut folgen. Weit unten windet sich ein schmaler, heller Streifen nach Westen, wohl die grosse Strasse Richtung Eleusis und Korinth.

      „Sollen wir nicht dort hinab steigen und auf der grossen Strasse weiter gehen? Wir wären sicher schneller!“

      „Sicher kämen wir rascher voran, aber sobald die Schlägertrupps des Kritias wissen, dass wir weg sind, werden sie unser Haus durchsuchen und vom Thraker erfahren, dass wir in diese Richtung losgezogen sind. Mit schnellen Pferden können sie uns rasch einholen. Es ist besser, auf kleinen, wenig begangenen Pfaden zu versuchen, den Weg nach Westen, nach Korinth zu finden.“

      Schweigend marschieren wir und horchen auf alle ungewöhnlichen Geräusche. Ab und zu bellen ein paar Hunde, im Gebüsch rascheln kleine Tiere, der Schatten einer lautlos über uns hinwegziehenden Eule fällt auf uns.

      Ismene flüstert: „Schau, Athene ist bei uns, sie wird uns beschützen!“

      Bald haben wir die Stadt weit hinter uns gelassen. Jetzt wagen wir es, unter einem grossen Feigenbaum ein paar Stunden zu rasten.

      Vor Tagesanbruch aber wecke ich alle auf, Anisa verteilt Brot, Käse und Wasser, und wir wandern weiter. Der Weg ist jetzt breit, wir kommen gut voran. Der Himmel färbt sich rosa, dann steigt die Sonne auf und wirft ihre Strahlen auf den staubigen Weg. Die Nachtkühle ist weg, die Sonne wärmt uns bald einmal mehr als uns lieb ist. Nun wird uns bewusst, dass auch hier Wanderer unterwegs sind, denn dieser Weg führt ebenfalls zum Heiligtum der Demeter. Immer wieder können wir von der Heerstrasse aus gesichtet werden, das ist gar nicht gut für uns. So treibe ich alle zur Eile an, wir müssen diese kahle Strecke hinter uns lassen, weiter vorne versprechen Gebüsch und Wälder bessere Deckung. Aber bald jammert Phoebe:

      „Können wir nicht etwas rasten? Ich mag nicht mehr.“

      „Hör auf zu jammern,“ befiehlt Ismene, „was ist ein Opfer bei Demeter wert, wenn man jammernd dort ankommt? Denkst du, die Göttin mag das?“

      Phoebe wird still und marschiert weiter. Anisa hat offensichtlich den Ernst der Lage erfasst. Sie nimmt Phoebe an der Hand, trägt ihr Bündel und scheucht sie weiter. Nun windet sich der Weg durch einen kleinen Wald aus Eichen und ein paar verstreuten Olivenbäumen. Der Schatten ist sehr willkommen, alle marschieren gleich etwas munterer weiter. Bald aber ist die Herrlichkeit dahin und die sonnenverbrannte, staubige Strasse nimmt uns wieder auf. Ariston bittet mich, die Führung zu übernehmen.

      „Du machst das besser, “ findet er „ich bin eben doch nur ein Stempelschneider, wir vertrauen dir!“

      So gehe ich nun voran, schaue immer wieder in die Runde, lasse die Familie ab und zu anhalten und horche angestrengt. Aber noch sind uns keine Verfolger auf den Fersen, noch können wir ungestört weiterziehen. Nach der nächsten Wegbiegung halte ich plötzlich an und stoppe alle mit erhobener Hand. Ariston eilt zu mir.

      „Was ist los? Siehst du Reiter?“

      „Das nicht, aber dort vorne sind Menschen, viele Menschen. Sind dies Leute von Kritias, die dort auf uns warten?“

      Erschrocken spähen die anderen nach vorn. Wirklich, der Weg ist versperrt von mehreren Leuten. Ist unsere Flucht zu Ende, sind wir verloren?

      Da sagt Ismene:

      „Schaut nur, das sind Pilger, sie wandern ganz langsam, auch sie wollen bestimmt nach Eleusis. Kommt, wir sind bald bei ihnen, dann schliessen wir uns an. Kritias sucht eine Familie, nicht eine ganze Pilgerschar, für eine Weile sind wir bei ihnen sicher!“

      Dies scheint uns allen ein guter Plan zu sein, so schliessen wir rasch auf und bald erreichen wir die Pilger.

      „Wohin pilgert ihr, gute Leute?“ frage ich.

      Ein alter Mann, offenbar der Anführer antwortet freundlich:

      „Wir wollen zum Altar der Demeter in der Nähe von Kolonos, wir haben ihr immer Opfer gebracht und wir sind damit gut gefahren. Wir hatten eine gute Ernte, keiner in unserem Dorf muss Hunger leiden, dafür wollen wir ihr danken!“

      „Ja,“ finde ich, „das ist gut, auch wir wollen der Demeter ein Opfer bringen, aber wir haben von diesem Altar noch gar nie gehört, wir wollten nach Eleusis!“

      „Auf diesem Weg wandern viele Menschen nach Eleusis, ihr werdet immer wieder Pilger treffen. Das Heiligtum, das wir aufsuchen, ist nur sehr klein, wenige kennen es, und wir betrachten es eigentlich ein wenig als unser Dorfheiligtum!“

      „Wie weit ist es denn noch bis dorthin?“

      „Oh, nicht mehr weit. Siehst du dort vorn den knorrigen Baum neben dem Weg? Da biegen wir auf einen kleinen Pfad ab, und schon bald danach sind wir beim Heiligtum!“

      „Dürfen wir dieses Stück des Weges mit euch pilgern?“

      „Aber sicher, kommt nur mit!“

      Und so wandern wir eine Weile mit den fremden Pilgern. Jetzt sehen wir auch, warum sie so langsam unterwegs sind. Viele Leute sind sehr alt, und alle gehen barfuss.

      „Warum tragt ihr keine Sandalen?“ frage ich, „Auf einem solchen Weg wandert es sich doch besser mit Schuhen?“

      „Sicher,“ meint der Alte, „aber wir haben ein Gelübde getan! Es wird der Demeter gefallen, wenn wir den Weg ohne Schuhe auf uns nehmen.“

      Ich hätte gedacht, dass sich Demeter eher über eine Gabe von Blumen und Getreide freuen würde, nicke aber und finde:

      „Du hast sicher Recht!“

      Bald sind wir froh, dass wir die Abzweigung erreicht haben, das Schneckentempo dieser Pilger ist für uns nicht gerade hilfreich. Trotzdem, es war nett, mit den Leuten ein kurzes Stück zu wandern.

      Sobald sie weg sind, halten wir an. Der Mann hat ja auf viele Pilger auf diesem Weg hingewiesen, das ist für uns nicht gut, hier sind wir also nicht sicher. Kritias kann Reiter auf der Heerstrasse lossenden und auch auf diesem Weg, also müssen wir weiter in den Hügeln nach weniger begangenen Pfaden suchen.

      „Wir biegen ab, sobald wir einen einigermassen guten Pfad weiter hinauf in die Hügel finden, wir sind hier nicht sicher,“ bestimme ich.

      Alle sind einverstanden. Eine Abzweigung ist vorläufig aber nicht zu sehen. Erst hinter dem nächsten Hügel zeigt sich ein kleiner Pfad, der aufwärts führt und sich hinter ein paar Felsbrocken verliert.

      Der Weg windet sich steil aufwärts. Sollen wir ihm folgen oder noch eine Weile auf dem flacheren Pfad bleiben? Hier würden wir sicher schneller vorankommen.

      „Nein,“ meinen Ismene und Ariston gleichzeitig. Und Ismene sagt sanft:

      „Das Glück war uns bisher hold, bleiben wir aber auf diesem Weg, kann uns das Unheil plötzlich einholen.“

      Alle nicken. Wir beschliessen, dem kleinen Pfad zu folgen, er ist zwar steiniger und steiler, also anstrengender,