Jürg und Susanne Seiler

Der Stempelschneider


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Ich kann dich nicht gut als zweiten Sohn ausgeben, aber wir erklären, dass du der Sohn eines verstorbenen Freundes bist, der in unserer Familie lebt. Jeder wird das glauben, und damit bist du uns gleichgestellt, wir sind zwar nur Handwerker, aber immerhin. Und wenn die Götter uns hold sind, werden wir eines Tages zu respektierten Bürgern werden!“

      Uns geht es zurzeit schlecht, noch wissen wir nicht, ob uns die Flucht vor Kritias gelingt, aber ich bin so glücklich, wie noch nie.

      „Wir müssen jetzt die anderen wecken,“ brummt Ariston, „ein weiterer anstrengender Marsch liegt vor uns!“

      Und so kehren wir in die Hütte zurück, wecken alle Schläfer und machen uns wieder reisefertig.

      Bevor wir uns aber auf den Weg machen, bedeutet er der Familie zuzuhören. Er erzählt, dass ich von nun an nicht ein Sklave sondern ein entfernter Verwandter sei.

      „Ihr alle wisst, dass Panos aus einer edlen Familie stammt und als Kriegsgefangener zum Sklaven wurde. Er hat eine ausgezeichnete Erziehung genossen, daher wird niemand diese Geschichte anzweifeln.“

      Niko ist zuerst sprachlos, dann aber bestätigt er:

      „Ja, es ist wahr, Panos ist ein besserer Fechter als ich, er kann lesen und schreiben. Seine Ausbildung war mindestens so gut wie die, die ich in Athen genossen hatte. Er wird uns als Familienmitglied keine Schande machen, im Gegenteil, und wenn er uns nicht geholfen hätte, wären wir unterdessen wohl alle Sklaven!“

      Ismene nickt, Phoebe und Anisa sind natürlich etwas erstaunt, aber Ariston ruft: „Vorwärts!“ Alle marschieren los, Zeit genug um unterwegs über die neue Sachlage nachzudenken.

      Bald brennt die Sonne wieder vom Himmel und jeder Schatten ist eine Wohltat. Von Reitern ist weit und breit nichts zu sehen, der Klumpen der Angst, der in unserem Inneren sitzt, wird etwas leichter, aber immer wieder bringt ein unbekanntes Geräusch, ein entferntes Glitzern, ein Stück offenes und leicht einsehbares Gelände unsere Furcht mit voller Kraft zurück.

      Unser Pfad durch die Hügel ist offenbar nicht sehr begangen, einmal sehen wir weit entfernt einen Schäfer, einmal ein paar Menschen mit Lasten auf dem Rücken, an den Abhängen sind auch kleine Gehöfte und sogar ein winziges Dorf zu sehen. Wir umgehen aber alle diese, denn wir fühlen uns am sichersten, wenn wir gar nicht allzu vielen Menschen begegnen.

      Wie gestern finden wir am Mittag einen guten Rastplatz, um die heisseste Zeit des Tages vorbeigehen zu lassen. Alle ruhen sich aus, nur Ismene ist tief in Gedanken versunken. Schliesslich fragt sie:

      „Ist das auch richtig, was wir da tun? Der Weg nach Korinth ist weit und beschwerlich. Wir sind schon oben in den Hügeln, wir könnten doch nach Theben flüchten, nicht von der Strasse von Süden her, wo sicherlich die Schläger des Kritias den Weg kontrollieren, sondern von Westen her, da erwarten sie uns ja wohl nicht. Der Weg nach Theben wäre viel kürzer. Was meint ihr?“

      Ariston antwortet sofort:

      „Ja, das ist schon richtig, Theben wäre näher. Nur bedenkt, was nachher passiert. Sich in Sicherheit bringen ist das eine, dort leben etwas anderes. In Sizilien kenne ich Leute, vor allem meinen alten Lehrmeister, Eukleidas, dort kann ich sofort wieder als Stempelschneider arbeiten und damit die ganze Familie ernähren. Was soll ich aber in Theben tun? Die Münzen, die dort geschlagen werden, sind so einfach gestaltet, die Stempel dazu kann jeder halbwegs geschickte Sklave herstellen, und sie werden wohl auch so gemacht. Was also würde ich dort arbeiten? Wie könnten wir unseren Lebensunterhalt verdienen? Wir haben kein Land dort, keine Olivenbäume, keine Schafe, rein gar nichts. Männer, die allein sind, können sich dort als Söldner verdingen, aber eine Familie?“

      Alle sind still, daran haben wir gar nicht gedacht, die Flucht hat unser ganzes Sinnen und Trachten ausgefüllt, aber es stimmt schon, nach der Flucht muss das normale Leben wieder beginnen, wir alle brauchen wieder ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und etwas anzuziehen.

      „Ja,“ findet Ismene, „du hast Recht, wir flüchten besser nach Syrakus! Auf geht es also!“

      Niemand will mehr nach Theben, alle haben verstanden, warum wir diese beschwerliche Wanderung auf uns nehmen müssen.

      Bald säuselt ein sanfter Wind über das Gras und durch das Gebüsch, von nun an begleitet uns das Rascheln der Gräser und Blätter. Es ist viel angenehmer und alle wandern munterer.

      Die Sonne steht schon tiefer über dem Horizont, als der Wind auffrischt, das Rauschen der Blätter wird lauter, kurze, heftige Windstösse rütteln an den knorrigen Bäumchen und Büschen und das Gras liegt flach auf dem Boden. Der Himmel ist aber immer noch blau, keine Wolke weit und breit. Ariston macht auf einmal ein besorgtes Gesicht.

      „Was ist los?“ frage ich.

      „Der Wind,“ meint er, „es ist ja schon Herbst, der Wind kann ein Vorbote eines Gewitters oder eines Sturmes sein, ich hoffe es nicht, aber man weiss nie!“

      Dann aber, ganz plötzlich, wird es dunkler. Drohend steigt eine riesige Gewitterwolke vor uns über der nächsten Hügelkuppe auf, der Wind wird stärker und uns ist klar, ein Gewitter zieht auf.

      Wo finden wir Schutz und am besten auch gleich einen Platz für die nächste Nacht? Wir haben immer wieder von Ferne kleine Hütten gesehen, aber jetzt ist weit und breit nichts dergleichen vorhanden. Wir eilen weiter und hoffen, bald wieder eine Hütte zu entdecken, da stürzt sich plötzlich ein bellender Hund auf uns. Alle erschrecken, der Hund sieht bedrohlich aus. Ich erinnere mich an unsere Hunde in Melos, auch wir hatten grosse und furchteinflössende Hunde, aber ich habe damals gelernt, wie man sie beruhigen kann.

      Ich nähere mich dem Hund und spreche beruhigend auf ihn ein. Nach einer Weile bleibt er stehen und starrt mich an. Ich mache mit der Hand das Zeichen, mit dem die Schäfer dem Hund bedeuten, sich hinzulegen und siehe da, er gehorcht.

      Der Hund gehört also einem Schäfer. Ist hier in der Nähe doch ein Haus, in dem wir uns vor dem Gewitter, das nun deutlich sichtbar aufzieht, in Sicherheit bringen können?

      „Wir suchen das Haus des Schäfers, dem der Hund gehört, vielleicht können wir dort bleiben, bis der Sturm vorbei ist,“ schlage ich vor.

      „Ist dies nicht zu gefährlich? Der Schäfer könnte uns verraten!“ fragt Ismene.

      „Schon möglich,“ meint Ariston, „aber ich glaube es nicht. Die kleinen Leute hier oben in den Bergen haben doch sicher gar nichts von uns gehört, und meistens sind sie gastfreundlich und hilfsbereit. Wir müssen es einfach versuchen, wir können nicht hier draussen bleiben!“

      „Lauf nach Hause!“ befehle ich nun dem Hund und siehe da, er steht auf und trottet schräg über die Wiese. Wir folgen ihm und kommen hinter einer Baumgruppe zu einem kleinen Haus.

      Vor der Türe steht eine junge Frau mit einem Kleinkind im Arm, die auf etwas zu warten scheint.

      „Gute Frau,“ fragt nun Ismene „ein Gewitter zieht auf, dürfen wir in deinem Haus Schutz suchen?“

      Dann sieht sie, dass die Frau offensichtlich verzweifelt ist und fragt:

      „Hast du Sorgen, was ist los?“

      „Mein Mann ist schon seit Stunden weg, er wollte zwei Schafe suchen. Meist ist er sofort zurück, aber jetzt warte ich schon lange, ich habe überall gesucht, ich weiss nicht, was ich tun soll,“ und sie fängt an zu weinen.

      „Wir helfen dir,“ verspricht Ismene.

      „Natürlich,“ verspreche auch ich, „wir gehen auf die Suche.“

      Die Frauen flüchten sich nun ins Haus, und wir Männer ziehen los. Dies ist nun gar nicht so einfach, die Weiden sind mit Gestrüpp überzogen und immer wieder liegen grosse Steinbrocken dazwischen. Wo könnte der Schäfer also sein?

      Ariston zeigt auf eine Felsgruppe. Vielleicht dort? Aber Schafe wollen Gras, nicht Felsen, warum sollte er dort nach Schafen suchen? Trotzdem machen wir uns auf den Weg und rufen immer wieder nach dem Schäfer, aber unsere Rufe gehen im Getöse des Windes einfach unter. Ab und zu scheint der Sturm Atem zu holen, und wir benützen