Jürg und Susanne Seiler

Der Stempelschneider


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erklärt er „müsst ihr den Weg wieder selber unter die Füsse nehmen, es tut mir leid. Aber nach der nächsten Biegung sind wir kurz vor Aridas. Ich werde dort übernachten, aber für euch ist es viel zu gefährlich. Sicher haben sich die Reiter überall nach euch erkundigt, und ich traue dort nicht allen Leuten. Hier ist aber ein kleiner Pfad, der auf die Kuppe dort hinauf führt. Von oben könnt ihr schon das Meer sehen. Steigt auf der anderen Seite noch etwas ab, dann wechseln sich Schafweiden mit kleinen Eichenwäldchen ab. Die Schafe grasen vermutlich auf weiter unten gelegenen Weiden, ich denke, es sollte deshalb möglich sein, eine verlassene Schäferhütte zu finden. Ein Dach über dem Kopf ist für die nächste Nacht wichtig, schaut euch nur die Wolken an.“

      Und tatsächlich, über die Hügelkuppe schiebt sich eine mächtige Gewitterwolke. Wir bedanken uns bei Georgios und wollen schon losziehen, da drückt er Ariston die zwei Eichenzweige in die Hand.

      „Vom Hügel aus seht ihr die Stadt Pagai am Meer unten. Dort leben mein Onkel und sein Sohn, sie sind Fischer. Sucht sie, sie heissen beide Theophanos. Gebt ihnen die Hölzchen, dann werden sie euch weiter helfen. Aber seid vorsichtig, in Pagai leben alle möglichen Leute, nicht alle werden euch wohlgesinnt sein, und der eine oder andere würde sich sicher gerne das Kopfgeld verdienen, das Kritias auf euch ausgesetzt hat! Ich wünsche euch viel Glück!“

      Wir alle bedanken uns bei ihm, dann setzt er sich wieder auf seinen Wagen, winkt uns zu und rattert weiter.

      Der Pfad schlängelt sich aufwärts durch das Eichenwäldchen, dann über eine Wiese, zwischen Steinbrocken hindurch, aber die Hügelkuppe ist bald erreicht. Weit unten glänzt das Meer, wir alle jubeln, die Rettung scheint uns ganz nah zu sein. Die Gewitterwolke hat sich gewaltig ausgedehnt, deshalb eilen wir so schnell wir können weiter, jetzt aber abwärts über Weiden und durch Wäldchen. Eine Schäferhütte schmiegt sich neben dem Weg an einen Felsen, wir glauben schon, einen Platz für die Nacht gefunden zu haben. Die Hütte wurde offenbar schon lange nicht mehr benützt, die vordere Seite sieht zwar recht ordentlich aus, das Dach aber ist eingeknickt und die hintere Wand zusammengefallen.

      Also ziehen wir weiter und hoffen auf eine Hütte, die doch etwas mehr Schutz bieten könnte. Aus der Ferne ist nun Donnergrollen zu hören, bald treffen uns die ersten Regentropfen, aber von einer Hütte ist nichts zu sehen. Es wird dunkler, mächtige Wolken decken die Sonne ab, und plötzlich zuckt ein greller Blitz am Himmel, der die ganz Gegend hell erleuchtet. Wir alle erschrecken, aber der Blitz hat uns neben dem Weg etwas Dunkles, Viereckiges gezeigt. Und tatsächlich, da steht eine kleine Hütte.

      Vorsichtig nähern wir uns, sie könnte ja bewohnt sein. Keine Menschenseele ist zu sehen, aber bei diesem Wetter würde ja jedermann in der Hütte Schutz suchen und nicht draussen herumstehen. Die Hütte ist verschlossen aber nicht bewohnt. Es ist kein Kunststück, das Schloss zu überlisten, die Türe öffnet sich, die Hütte nimmt uns gerade noch rechtzeitig auf, bevor ein gewaltiger Wolkenbruch über sie nieder prasselt.

      Die Hütte ist alt, ganz offensichtlich wird sie von Schäfern aber immer wieder benutzt. Wir finden einen mit Stroh ausgelegten Platz, auf dem wir schlafen können, das Dach ist dicht, die Wassermassen, die darauf nieder donnern, finden keine Ritze. Bald wird es ruhig, alle sind müde. Es scheint, als seien schon alle eingeschlafen, da flüstert Ismene:

      „Panos, weisst du noch, die Eule? Athene beschützt uns auf unserem Weg, da bin ich sicher!“

      Hat sie Recht? Schutz der Göttin Athene, das ist es, was wir brauchen, und bis jetzt haben wir ja immer wieder Glück gehabt, vielleicht hält sie wirklich ihre Hand über uns.

      Am andern Morgen zaubert die Morgenröte zartes Rosa an den klaren Himmel, ein neuer Tag bricht an, wir müssen weiter. Pagai ist unser Ziel, das jetzt unter uns liegt und schon ganz nahe scheint. Erst einmal wandern wir aber durch dichtes Gestrüpp und kleine Eichenwäldchen abwärts und erst als wir auf eine Lichtung treten, ist der Blick auf Pagai wieder frei.

      Am Meer : Pagai / Korinth, 404 vor Christus ̶ Panos

      Die Stadt klebt auf einem kleinen Hügel und ist von einer Mauer umschlossen. Eine breite Strasse von Süden kreuzt sich mit einer ebenso breiten von Osten und damit von Megara her. Offensichtlich werden beide eifrig genutzt, wir können winzig kleine Fuhrwerke, eine Reihe von beladenen Eseln, Fussgänger und Händler mit kleinen Schubkarren entdecken. Aber zu unserem Schrecken sind auf beiden Strassen auch Reiter unterwegs. Nicht alle sind wohl im Dienste des Kritias, nur wie können wir sie unterscheiden? Reiter, so beschliessen wir, Reiter sind unbedingt zu vermeiden.

      Der Hafen liegt etwas unterhalb der Stadt, und dort ankern auch zwei recht grosse Schiffe.

      „Schaut,“ ruft Niko, „dort im Hafen liegen zwei grosse Schiffe, vielleicht geht eines davon nach Syrakus, das würde uns den ganzen langen Weg nach Korinth ersparen!“

      Noch können wir aber nicht erkennen, um welche Art von Schiffen es sich handelt: Sind es Kriegsschiffe? Oder doch Handelsschiffe? Der Hafen liegt doch noch etwas zu weit weg, daher wandern wir vorerst einmal weiter. Bald aber sind wir näher, die Sicht auf den Hafen besser. Wieder meint Niko:

      „Schaut, das sind doch grosse Schiffe, die können das Meer überqueren und nicht nur der Küste entlang fahren oder von Insel zu Insel rudern!“

      Ariston betrachtet die Schiffe lange, dann sagt er:

      „Das sind Kriegsschiffe, schaut nur die dreifachen Ruderreihen. Diese Schiffe nützen uns gar nichts, im Gegenteil, wir dürfen dort nicht in die Nähe kommen, wir müssen den Hafen der Fischer suchen, der liegt wohl etwas weiter weg!“

      Alle sind enttäuscht, haben sich bereits an Bord eines grossen Schiffes auf dem Weg nach Syrakus und in Sicherheit gefühlt. Niemand sagt etwas, alle marschieren schweigend weiter, entschlossen, auch so zu unserem Ziel zu kommen.

      Nach einer Weile können wir kleinere Boote in einer Bucht neben dem grossen Kriegshafen erkennen. Das muss unser Ziel sein, dort können wir hoffentlich Theophanos finden. Bald können wir Pagai in seiner ganzen Grösse betrachten. Wir alle haben einen kleinen Ort erwartet, aber was da vor uns liegt, ist eine richtige Stadt, Häuser, eine Akropolis, durch die offenen Stadttore strömen Menschen ein und aus. Auf dem grossen Markt ausserhalb der Stadt scharen sich Menschengruppen um Stände, stehen diskutierend herum oder schlendern von Stand zu Stand. Die letzten Stände grenzen an einen kleinen Hafen. Boote liegen dort, Menschen tragen Körbe von den Booten ans Land und an grossen Pfosten hängt etwas, das wir erst nicht erkennen können. Dann aber ruft Niko:

      „Netze, das sind Netze, das ist der Fischerhafen, er grenzt an den Markt!“

      Bis hierher haben wir es geschafft. Wie aber ist der Fischerhafen zu erreichen? Wenn wir die Stadt umgehen, müssen wir die grossen Strassen kreuzen und sogar ein Stück auf der Strasse von Megara her wandern. Das ist zu gefährlich. Daher setzen wir uns unter einen Baum und überlegen, wie wir dieses Problem lösen können.

      Die Leute des Kritias suchen nach drei Männern und drei Frauen, diese Beschreibung stimmt zwar nicht mehr, aber als Fremde werden wir auffallen, und irgendjemand könnte uns doch erkennen. Was immer sich auf der grossen Strasse bewegt, ist von weit her zu sehen. Vielleicht doch besser durch die Stadt selbst? Da sind viele Menschen, enge Gassen und vielleicht doch bessere Deckung? Oder nachts? Wie ist das aber mit den Stadttoren, die sind doch nachts geschlossen? Und fällt eine Gruppe von Menschen, die nachts durch die leeren Gassen oder über die Strassen eilen, nicht noch mehr auf? Und was tun wir dann am Hafen, bis die Fischer auftauchen?

      Wir entscheiden uns für den Weg durch die Stadt. Ariston möchte, dass wir alle gemeinsam zum Hafen marschieren, dann, so meint er, sind wir wenigstens zusammen. Aber ich glaube, so fallen wir zu sehr auf, und ich überlege mir rasch unsere Möglichkeiten.

      Dann erkläre ich meinen Plan:

      „Wir müssen uns aufteilen. Auf den kleineren Wegen durch die Stadt und durch die Märkte bis zum Hafen sind wir sicherer als auf den breiten Strassen, aber als grosse Gruppe werden wir bestimmt trotzdem auffallen. Auch dürfen wir nicht durch die Gassen hasten wie erschreckte Schafe und uns immer wieder umschauen. Wir müssen