Jürg und Susanne Seiler

Der Stempelschneider


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Was war das und woher genau kam es? Wir suchen bei der Felsgruppe alles ab, kein Mensch, kein Schaf, nichts. Schon wollen wir wieder umkehren, da ist das Geräusch wieder da und diesmal sind wir sicher: Das ist ein Mensch.

      Ich klettere auf die Felsen, vielleicht kann ich von dort oben etwas erspähen und tatsächlich, in einer Felsspalte erblicke ich ein Schaf. Ich klettere weiter über die Felsbrocken, um besser zu sehen und da ruft jemand:

      „Hier, hier bin ich, Hilfe!“

      Unten, zwischen den Felsbrocken, stecken tatsächlich zwei Schafe und ein Mann, der nun zu uns hinaufruft:

      „Ich heisse Georgios, bitte helft mir! Ich habe die Schafe hier unten gesehen und wollte sie herausholen. Den Schafen fehlt nichts, aber ich habe meinen Arm gebrochen, daher kann ich nicht mehr hochklettern und auch nicht die Schafe hochreichen.“

      Ja, die drei sind nun wirklich in einer misslichen Lage. Rundherum grosse Felsbrocken, dazwischen etwas saftiges Gras, das die Schafe wohl hergelockt hat, aber kein auch noch so kleiner Pfad führt hinaus. Man könnte die Schafe eines nach dem andern auf einen kleineren Felsbrocken heben und dann von oben hoch ziehen. Ob dies wohl klappt, und machen die Schafe dabei mit?

      Niko klettert nach unten. „Wie soll ich die Schafe halten, ich habe noch nie ein Schaf herumgetragen, und wie schwer sind die eigentlich?“ fragt er.

      „Keine Angst,“ meint Georgios, „Schafe sind sehr geduldige Tiere, mit all der Wolle sehen sie schwer aus, aber du kannst leicht eines hochheben!“

      Niko packt nun eines der Tiere, hebt es so hoch als möglich auf den nächsten Felsbrocken, auf dem ich schon warte, um es ganz hoch zu ziehen. Das Schaf ist über diese Behandlung äusserst empört und blökt laut, lässt sich dann aber ohne Gegenwehr auf den nächsten Felsbrocken stellen und von dort aus kann Ariston es ganz in die Höhe ziehen. Auch das zweite Schaf lässt sich helfen und bald sind sie befreit.

      Der arme Schäfer mit seinem gebrochenen Arm kann nicht klettern, wir helfen ihm nun hoch, immer bestrebt, seinen Arm zu schonen und ihm nicht zusätzliche Schmerzen zu bereiten. Kaum sind wir alle oben, bricht der Sturm in voller Stärke los, und wir eilen so schnell wir können zum Haus zurück.

      Die Frau des Schäfers fällt ihm weinend um den Hals. Georgios ist erschöpft aber froh, dass er aus seiner misslichen Lage befreit worden ist.

      „Ich danke euch, Ihr habt mich gerettet! Bleibt über Nacht bei uns, das ist das mindeste, was wir für euch tun können!“ Und dann fügt er hinzu: „Ich möchte bloss wissen, wie die Schafe völlig unversehrt dort hinunter gelangt sind, das ist doch fast nicht möglich!“ Er schüttelt den Kopf.

      Ismene kümmert sich nun um seinen Arm. Sie kennt viele Heilkräuter und weiss auch, wie Verletzungen am besten versorgt werden. Zusammen mit seiner Frau bindet sie den gebrochenen Arm zwischen Weidenzweigen fest.

      „Der Arm wird heilen,“ versichert Ismene dem Schäfer, „aber vielleicht ist er nachher nicht mehr ganz gerade. Du wirst ihn aber wieder gebrauchen können, das ist das Wichtigste.“

      Während draussen ein Gewittersturm tobt, teilen wir mit den Schäfersleuten zusammen das Abendbrot, wieder einmal ist uns das Glück treu geblieben. Ismene, Phoebe und Anisa sind müde. Elis, die Schäfersfrau geleitet sie in das hintere Zimmer und zeigt ihnen, wo sie schlafen können.

      Als sie weg sind räuspert sich Georgios, sieht erst verlegen zu Boden und sagt dann:

      „Hört zu, ich weiss, wer ihr seid. Die Schlägertrupps des Kritias suchen überall nach euch.“

      Das Entsetzen ist wohl auf unsere Gesichter geschrieben. Hatten wir nicht gedacht, dass Nachrichten nicht bis zu den abgelegenen Hütten dringen würden?

      „Keine Angst,“ beruhigt nun aber der Schäfer. „Bei mir seid ihr sicher. Ich werde euch nicht verraten. Kritias hat eine Belohnung ausgesetzt, ihr müsst ihn wahrlich ordentlich geärgert haben. Die Nachricht hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Menschen in Athen denken immer, wir Bauern und Schäfer hier oben würden nichts mitkriegen und seien zudem etwas schwer von Begriff. Aber wir wissen durchaus, was in Athen geschieht, die Kunde über die Tyrannen und ihre Schreckensherrschaft ist auch hierher gelangt und nicht nur das, auch wir leiden darunter.

      Wenn wir unsere Waren auf den Markt in Athen bringen, werden wir schikaniert, man verlangt Abgaben, die nicht gerechtfertigt sind, und wenn wir uns wehren, plündern sie unsere Marktstände. Vor allem die Schlägertrupps des Kritias schrecken vor nichts zurück. Der Bruder meiner Frau und ein Nachbar pflegten Honig und Käse von verschiedenen Schäfern zu sammeln und auf den Markt zu bringen. Ein paar von den üblen Kerlen tauchten auf und plünderten den Stand. Der Bruder meiner Frau verlangte, dass sie die Waren bezahlen, worauf sie ihn und den Nachbarn einfach erschlagen haben.

      So gehen sie mit uns armen Leuten um. Wir hassen Kritias, und es gibt ganz viele Leute, die euch helfen werden. Trotzdem müsst ihr vorsichtig sein, die Leute sind arm und eine Belohnung kann eine grosse Versuchung darstellen. Aber jetzt ist es sicher am besten, wenn wir alle schlafen, morgen werde ich euch den Weg beschreiben, der für euch am sichersten ist, denn wie ich wohl annehme, wollt ihr nach Korinth, das würde ich an eurer Stelle nämlich auch tun. Schlaft also, ihr braucht die Ruhe! Der Weg ist noch weit und auch beschwerlich!“

      Erst einmal sind wir sprachlos, aber unser Schrecken hat sich immerhin gelegt. Wir sind froh, dass wir hier in Sicherheit schlafen können, und bald ist es in der Hütte still.

      Früh am Morgen ist Elis schon auf und holt Milch. Nach und nach versammeln sich alle in der Küche. Auch Georgios mit seinem eingebundenen Arm taucht auf. Er hat immer noch Schmerzen und achtet sorgsam darauf, dass er nirgends anstösst.

      „Wie geht es deinem Arm?“ fragt Ismene.

      „Er schmerzt noch, aber schon etwas weniger.“

      Ismene schaut sich den Arm an und sagt:

      „Das sieht ganz gut aus, der Arm wird sicher heilen.“

      Die Frauen brauen jetzt einen Kräutersud, der die Schmerzen etwas lindern soll und lassen Georgios davon trinken. Das Gebräu muss fürchterlich schmecken, denn er schüttelt sich wie ein nasser Hund, aber beide Frauen versichern, dass dies ihm helfen werde.

      Die Schäfersleute teilen ihr Frühstück von Brot und Käse mit uns Wanderern, und dann nimmt Georgios Ariston und mich zur Seite:

      „Hört genau zu. Folgt erst einmal dem Pfad, auf dem ihr gekommen seid. Nach einer Weile werdet ihr einen breiteren Weg finden, auf dem ihr für kurze Zeit bleiben könnt. Er führt dann aber langsam talwärts nach Megara und dort dürft ihr nicht hin, das wäre zu gefährlich. In Megara wimmelt es von den Leuten des Kritias. Ihr müsst oben in den Hügeln bleiben. In einem kleinen Eichenwäldchen zweigt wieder ein kleinerer Pfad nach rechts ab, der leicht nach oben führt. Nehmt den. Nach einer Weile sieht es aus, als ob der Pfad an einer Felswand endet. Geht einfach weiter bis zu den Felsen, erst wenn ihr direkt davor steht, werdet ihr einen sehr schmalen Pfad erkennen, der sich mitten durch die riesigen Steinbrocken windet. An einer Stelle müsst ihr über ein paar Felsen klettern, aber auf der anderen Seite findet ihr leicht den Weg wieder.

      Nach dieser Felswand seht ihr einen kleinen Weiler, dem ihr in grossem Bogen ausweichen müsst. Die Leute dort sind sehr neugierig, und ich könnte mir vorstellen, dass sie euch verraten. Später taucht ein zweiter Weiler auf, ein Haus steht ein kleines Bisschen nebenan. Geht zu diesem Haus. Der Mann dort ist mein Schwager, er heisst Philippos und er wird euch weiter helfen. Sein jüngerer Bruder wurde, wie ich euch erzählt habe, von den Leuten des Kritias erschlagen, er wird euch nicht verraten.“

      Dann holt er zwei kleine Holzstücke, nimmt sein Messer und ritzt ein paar sonderbare Kerben ein. Es sind keine Buchstaben, es sind einfache Kerben. Wir schauen neugierig zu. Georgios gibt uns die Holzstücke und sagt:

      „Zeigt Philippos diese Holzstücke, dann wird er wissen, dass ich euch schicke!“

      Nun bin ich doch neugierig:

      „Ich kenne diese Buchstaben nicht, ist dies eine besondere Schrift?“

      „Nein,“