C. Harry Kahn

Harry und der Tod am Regenberg


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ins Bläuliche. Wirklich weiß ist der Anzug dieser Frau also nicht. Selbst Harrys Fell wirkt noch ein paar Töne weißer. Doch im Augenblick mache ich mir keine Gedanken über die genaue Farbabstufung. Es ist jedenfalls eine Farbe, in der sich eine Frau nicht auf ein Stück morastigen Waldboden legt, um auszuruhen.

      Harry bellt, aber die Frau bewegt sich nicht. Sie liegt still, etwas auf die Seite gerollt. Die Haltung des Kopfes, schräg über der Schulter den Boden berührend, wirkt unbequem. Ich würde an ihrer Stelle wenigstens meinen Arm unter den Kopf legen, um den Winkel etwas zu verbessern. Sie könnte dreißig Jahre alt sein oder auch ein oder zwei Jahre jünger. Sie bewegt sich nicht. Harrys Bellen wird leiser, immer längere Pausen entstehen, bis er schließlich nur noch in Abständen einen kleinen Laut von sich gibt. Einen Schluchzer. Hat Harry etwa gar nicht gebrüllt, sondern geweint? Wer weiß schon, was in einem kleinen Hund vorgeht, der während eines ganz normalen Spaziergangs auf einem Weg, den er wenigstens einmal in der Woche entlangtrottet, plötzlich eine tote Frau entdeckt.

      Ja, sie ist sicher tot. Ich habe schon zu viele Krimis im Fernsehen verfolgt, um daran auch nur einen Augenblick zu zweifeln. Fernsehen bildet, so viel ist sicher. Nicht zum Vergnügen, sondern für das Leben sehen wir fern. Im Drehbuch stünde an dieser Stelle: „Er kniet nieder und legt die Fingerspitzen an die Halsschlagader der Frau.“ Ich habe keine Lust, niederzuknien, denn meine Hose ist erst gestern aus der Reinigung gekommen. Ich bücke mich, gehe sogar leicht in die Hocke und lege die Fingerspitzen an die Halsschlagader der Frau. Harry gibt wieder einen Schluchzer von sich. Ich kann keinen Puls fühlen. Die Haut ist kühl, aber nicht so kalt, wie ich es aus dem Fernsehen kenne. Zur Kontrolle lege ich die Fingerspitzen an meine eigene Halsschlagader. Ich kann keinen Herzschlag fühlen. Sollte ich auch tot sein, oder ist diese Methode nur ein Filmklischee? Ich werde es heute Abend noch einmal in aller Ruhe an mir ausprobieren. Jetzt muss ich einmal überlegen, wie ich mich weiter verhalten soll.

      Ich nehme Harry auf den Arm und gehe in Richtung Hauptstraße. In diesen Tagen kommt es nicht mehr häufig vor, dass ich Harry tragen muss. Nur manchmal bin ich auf unseren Spaziergängen so in meine Gedanken über die allgemeine Relativitätstheorie vertieft oder auch über meinen letzten Kontoauszug, dass ich erst ans Umkehren denke, wenn Harry sich niedersetzt und mir ohne einen Laut die Gefolgschaft verweigert. Harry stammt vom Wolf (lupus lupus) ab, sagt man. Irgendwo auf dem langen Weg der Evolution scheint sich neben vielen anderen auch das Ausdauer-Gen verflüchtigt zu haben. So ein Wolf kann ja (das weiß ich aus dem Fernsehen, die Brüder Karamasov, wenn ich mich recht erinnere) tage- und nächtelang hinter einem Schlitten durch den Schnee traben, bis die Pferde vor Hunger zusammenbrechen. Für Harry wäre das nichts. Eine halbe Stunde hin, eine halbe Stunde zurück, das ist alles, was er leisten kann. Man darf aber deshalb nicht gering von ihm denken. Eine halbe Stunde hin, eine halbe Stunde zurück, das sind für mich vielleicht achttausend Schritte. Ich habe das nie gezählt, aber im Fernsehen hat das mal jemand erklärt. Eine bildende Sendung in den ganz frühen Morgenstunden. Ich sehe gewöhnlich nicht fern um diese Zeit, aber an dem Tag war ich gerade nach Hause gekommen und wollte noch nicht sofort schlafen gehen. Es war eine Sendung über die Römer, in der ein paar Gladiatoren sich gegenseitig abschlachteten. Oder so etwas. Mir ist davon nur in Erinnerung geblieben, dass die Legionäre auf ihrem Marsch durch Gallien jeden Schritt zählten. So entwickelten sie ein System, das sich bis in unsere Zeit erhalten und vervollkommnet hat. Schritt für Schritt, keinen zu viel und keinen zu schnell, als hätte es damals schon eine Legionärsgewerkschaft gegeben. Nach tausend Doppelschritten (tausend heißt auf Lateinisch mila) setzten sie einen Meilenstein. Eine halbe Stunde hin, eine halbe Stunde zurück, viertausend Doppelschritte für mich, das ergibt achttausend Schritte für einen Zweibeiner. Für jeden Schritt von mir braucht Harry vier. Für meine achttausend Schritte müsste Harry also zweiunddreißigtausend tun. Nur hat Harry nicht zwei Beine, sondern vier. Macht vierundsechzigtausend Schritte. Vierundsechzigtausend! Wundert es da noch einen, dass Harry nicht mehr weiterlaufen will? Es geschieht mir recht, dass er sich nach Hause tragen lässt.

      Früher war das anders. Harry wog nicht mehr als ein hart gekochtes Gänseei und hatte bequem in meiner Jackentasche Platz. Ich muss gestehen, der Vergleich mit dem Gänseei ist wissenschaftlich nicht dokumentiert, denn ich habe nie ein Gänseei gewogen, und Harry auch nicht. Aber ungefähr dürfte die Größenordnung stimmen. Belegbar ist, dass Harry in meine Jackentasche passte und mit mir am Meer entlangwanderte. Das heißt, ich wanderte, und Harry saß am Meer entlang. Bis hinunter zum Nacktbadestrand und wieder zurück. Im Sommer gingen wir nie über diese unsichtbare Grenze hinaus, denn ich schämte mich, so angezogen durch die Menschenmenge zu schreiten.

      Das war kurz nachdem Harry und ich unseren Bund fürs Leben schlossen. Dessen Urheber war mein Freund David. Der arbeitet beim Tierschutzverein. Ich weiß nicht wirklich, welche Funktion er dort hat. Sicher ist, dass David auch unter den Menschen viele Freunde hat, und jeden Menschen in seinem Bekanntenkreis macht er früher oder später zum Hüter eines Tieres. Später nur dann, wenn der betreffende Mensch derzeit noch nicht auf zwei Beinen stehen kann und selber noch gefüttert werden muss. Eines Tages stand David in meinem Studio und legte mir ein winziges weißes Ding auf den Tisch. „Kannst du mir Harry für eine Stunde abnehmen?“ fragte er. „Ich habe ein wichtiges Gespräch mit einem potenziellen Geldgeber, und ich möchte nicht, dass Harry ihn durch Geräusche ablenkt, wenn er gerade einen Scheck ausschreibt.“

      Das winzige weiße Ding gab einen Laut von sich. Nicht laut, aber so durchdringend, dass es meinen Kopf mit einem Ruck herumzog. Ich nahm das Ding in die Hand, es war kaum größer als ein Gänseei, und während ich noch herauszufinden versuchte, was das eigentlich war, hatte sich David schon auf den Weg zu seinem wichtigen Gespräch gemacht. Das muss drei Wochen gedauert haben, denn so lange hörte ich nichts von ihm. Als er dann anrief und fragte, wann er Harry wieder abholen könne, da hängte ich den Hörer heftiger auf, als es sonst meine Art ist. Harry und meine Jackentasche hatten sich aneinander gewöhnt, und ich hätte es grausam gefunden, sie zu trennen. Seitdem ist fast ein Jahr vergangen, und aus Harry ist ein nahezu erwachsener weißer Terrier geworden. Mit seinen aufrechten, spitzen Ohren und dem langhaarigen Fell sieht er größer aus, als er wirklich ist. David und ich sind längst wieder Freunde und werden es auch bleiben, so lange er mir nicht eine Anakonda zur Pflege bringt, die Appetit auf Harry entwickeln könnte.

      In dieser Gegend gibt es weit und breit keine Telefonzelle, auch nicht an der Hauptstraße. Zuerst denke ich daran, vom nächsten Haus aus die Polizei anzurufen. Ich klopfe ein paar Mal, doch niemand kommt an die Tür. Inzwischen habe ich weiter nachgedacht und beschließe, die Menschen, die hier oder nebenan wohnen, nicht in die Sache hineinzuziehen. Für die junge Frau in Weiß bedeuten ein paar Minuten absolut nichts. Es ist auch besser, Harry nach Hause zu bringen. Wenn einer im Krimi eine Leiche entdeckt, ist er automatisch der erste Verdächtige und wird fast immer in einer Szene auf die Polizeiwache geschleppt und stundenlang verhört. Am liebsten würde ich die ganze Angelegenheit einfach vergessen, aber ich habe sicher Spuren hinterlassen, die die Polizei schon in der übernächsten Szene zu mir führen können. Habe ich eine Schuhsohle mit einer herausgebrochenen Ecke? Kann man an der Halsschlagader Fingerabdrücke feststellen? Ich wähle die Nummer, die jedes Kind auswendig kennt, sobald es einen Telefonhörer in der Hand halten kann: neun-eins-eins.

      Wie immer nach unserem Morgenspaziergang mache ich mir eine Tasse Kaffee. Harry bekommt zwei Kekse. Nicht diese speziellen Hundekekse, wer weiß, was für Zutaten dafür verwendet werden. Wir mögen am liebsten die ganz einfachen Marie-Biskuits. Ich bekomme auch zwei. Gerade als ich meine Tasse in den Geschirrspüler packen will, klopft es an der Tür. Sehr energisch. Irgendwann in der Vergangenheit muss ein geistlicher Führer ein Edikt erlassen haben, nach dem elektrische Türklingeln des Teufels sind. Alle in dieser Stadt scheinen sich daran zu halten, und so klopft man sich eben an fremden Türen die Knöchel wund.

      Drei Dinge fallen mir beim ersten Hinsehen auf: durchschnittlicher Körperbau, tiefe Stirnglatze und eine Windjacke, die so zwischen allen gebräuchlichen Farben liegt, dass sie überhaupt keine Farbe zu besitzen scheint. Er drängt sich, ohne dass ich es so richtig bemerke, an mir vorbei und wartet schon in der Küche, als ich ankomme.

      „Sind Sie Watson?“ Sein Knurren liegt zwei Oktaven tiefer als das von Harry.

      „John Watson zu Diensten.“

      „Inspektor Philip