C. Harry Kahn

Harry und der Tod am Regenberg


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Seite der Containerhafen, bunt wie die naiven Bilder von Grandma Moses, die riesigen Kisten vollgestopft mit Plastikspielzeug aus China und elektronischem Spielzeug aus Korea, das innerhalb weniger Tage gleichmäßig über die großen und kleineren Städte im Osten verteilt werden wird. Gegenüber die Stadt Nordvancouver. Wenn man Glück hat und die Regenwolken sich ausgeschüttet haben, sieht man, wie sich die Häuser den Berghang hinaufziehen. Wir haben sehr viel Glück und sehen sogar die Gipfel der Berge, die sich scharf gegen das Hintergrundlicht abheben. Das heißt, Harry sieht natürlich weniger davon, aber er fühlt sich in seinem Rucksack recht wohl. Seit seinen Gänseeitagen ist er es gewohnt, in Taschen zu sitzen.

      Der Seabus legt direkt an der großen Markthalle an. Eigentlich hätte ich jetzt Lust auf einen Kaffee und einen Blaubeermuffin, aber Harry muss mal raus. Außerdem ist der Markt, was kleine Hunde anbelangt, noch weniger tolerant als Fähren und Busse. Dabei ist der Platz voll von Tieren. Hühner, Gänse, sogar Ferkel, die doppelt so groß sind wie Harry. Aber sie befinden sich auch in einer Verfassung, in der ich Harry nie sehen will. Sei’s drum, also kein Kaffee! Wir überqueren brav an der Fußgängerampel die große Straße, die den unteren Teil der Stadt parallel zur Küste durchzieht, und wandern langsam bergauf. Es ist nicht sehr erholsam. Wer hatte überhaupt die Idee, hierher zu kommen? Nordvan ist kein Ort für Spaziergänger. Kein Stadtplaner – wenn es denn vor fünfzig oder achtzig Jahren schon so etwas wie Planung gab –, wäre damals je auf die Idee gekommen, Raum für Fußgänger zu reservieren, ebenso wenig wie ein Zoodirektor Freigehege für Dinosaurier bereitstellen würde. Wir zickzacken uns voran und drücken uns immer wieder gegen parkende Autos, um dem Kontakt mit einem jener Zwei-Tonnen-Transporter mit überdimensionierten Reifen zu entgehen, die hier als Freizeitfahrzeuge benutzt werden. Dann stehe ich plötzlich vor einem schmalen, zweistöckigen Haus mit einem kleinen Vorgarten. An den Zaun aus naturbelassenem Holz ist eine weiße Tafel mit schwarzer Schrift genagelt: North Side Docu Productions.

      Da wir jetzt schon mal da sind, kann ich auch klingeln. Klopfen, natürlich. Dan öffnet selber. Seine Wir-geben-nichts-an-der-Haustür-Miene verzieht sich zu einem handelsüblichen Ich-bin-erfreut-Sie-zu-sehen-Lächeln.

      „Hallo, John, das ist eine Überraschung, besonders nach unserem Telefonat vorhin. Komm herein! Was hast du da bei dir?“

      „Das ist Harry. Wir sind ganz zufällig in der Gegend. Aber vielleicht darf dich Harry um einen Schluck Wasser bitten?“

      „Mit Vergnügen. Hallo, Harry. Aber jetzt kommt rein. Kaffee für dich, John, oder was Stärkeres?“

      „Kaffee passt gut.“ In diesem Teil der Welt wird in den Büros früh am Morgen ein großer Topf Kaffee gebraut, aus dem sich bis Büroschluss jeder bedient. So schmeckt er auch. Dan kommt schnell zurück, mit einem großen, duftenden Cappuccino. Von wegen Kaffeekanne auf Wärmeplatte! Dan ist kein Verlierer! Er besitzt eine moderne italienische Kaffeemaschine. Nur ein Wassergefäß für Harry kann Dan nicht finden. Doch, im Mülleimer liegt noch ein Plastikbehälter.

      „Ich bin sehr froh, John, dass du es dir doch noch überlegt hast. Hätte ich früher gewusst, dass du wieder im Lande bist, hätte ich dir selbstredend den Job zuerst angeboten. Diese Jeanne Lafontaine ist gut, aber nicht so gut wie du. Und nicht so zuverlässig. Sie hat mir einfach alles vor die Füße geschmissen, und ohne deine Hilfe könnte ich meine Termine nicht mehr einhalten. Willst du gleich anfangen oder erst morgen früh?“

      „Wer sagt, dass ich überhaupt anfangen will? Warum will sie nicht mehr für dich arbeiten?“

      „Wenn ich das wüsste, John, könnte ich sie wahrscheinlich umstimmen. Sie ist einfach am Freitag nicht erschienen, hat sich nicht krank gemeldet, geht nicht ans Telefon, ist schlichtweg verschwunden. Vielleicht hatte sie Heimweh nach Quebec und nach französischem Essen. Wir machen einen Film für das Tourismusministerium. Whistler, weißt du, Winterolympiade. Die Umweltschützer protestieren gegen alle möglichen Maßnahmen, und wir sollen dokumentieren, dass das Habitat der Bären nicht gestört wird, der Ausbau von Skipisten den Gletscher sogar entlastet und so weiter. Jeanne war unser Scout. Nächsten Montag ist Drehbeginn. Du hast also eine Woche und fängst praktisch bei Null an, denn sie hat fast nichts hinterlassen, nur wenige Fotos und ein paar fast unleserliche Notizen. Ich geb dir einen Helfer mit, aber Sonntagmittag brauche ich dein Material. Das übliche Honorar plus zwanzig Prozent als Bonus. Noch mehr Kaffee?“

      Dan ist so selbstgefällig, dass er ein Nein als Antwort einfach nicht hört. Ich gebe ihm siebenundzwanzig Variationen desselben Themas: Ich will nicht mit dir arbeiten! Dan skizziert Lagepläne und Kamerawinkel, beschreibt die Charaktere des Aufnahmeteams, gibt mit seiner neuen technischen Ausstattung und mit seinen Kontakten zum Ministerium an. Dan schreibt einen Scheck, den ich zerreiße, und bringt mich und Harry schließlich zur Tür. Sein Lächeln wirkt noch ein bisschen normierter.

      „Danke für den Kaffee, Dan. Und natürlich auch danke von Harry. Viel Erfolg mit deiner Produktion.“

      Wir arbeiten uns mühsam und auf weniger befahrenen Schleichwegen den Berg hinunter. Jetzt brauche ich wirklich einen Kaffee, und nicht aus einem italienischen Automaten. Also rein in den Sack, Harry, und verhalte dich ruhig.

      Die Rückfahrt auf dem Seabus ist noch bewegender als die Fahrt in die andere Richtung. Vor mir liegt Downtown, das Stadtzentrum von Vancouver, mit seinen Myriaden von Wolkenkratzern, denen alle paar Wochen ein neuer zuwächst. Man sagt, Vancouver sei eine der schönsten Städte der Welt. Das finde ich auch, zumindest an den wenigen Tagen im Jahr, an denen es nicht regnet. Gleich neben der Anlegestelle des Seabus befindet sich der Ocean Terminal. Ein Kreuzfahrtschiff liegt dort vertäut, so viele Decks, dass ich beim Zählen immer wieder durcheinander komme. Ich habe nie verstanden, warum diese schwimmenden Türme nicht beim leisesten Seegang einfach umkippen. Sie fahren im Sommer an der Westküste hinauf bis Alaska, wo sich die Passagiere an Eisbergen, Walen und der Kunst der Schiffsköche ergötzen. Nicht mehr lange, vermute ich, denn die Wale brechen auseinander und die Eisberge sind am Aussterben – oder umgekehrt.

      Harry darf jetzt wieder auf eigenen Füßen laufen, ich muss nur aufpassen, dass nicht jemand auf ihn tritt. Zwanzig Minuten später sind wir daheim. Ich stelle fest, dass ich nicht dazu gekommen bin, meine Negative von Dan zu verlangen. Er hat mich mit seinem Geschwätz ganz einfach überrollt. Während ich Wasser in die Kaffeemaschine fülle, zeigt mir Harry an, dass wir Besuch bekommen. Da klopft es auch schon an der Tür. Sehr energisch, mit der Autorität der Staatsgewalt.

      „Wir haben auf Sie gewartet“, verkündet Marlowe. Heute bleibt er stehen, bis ich zur Seite trete und eine einladende Bewegung mache. Er lässt sich in meinem Lieblingssessel nieder, und ich setze die Kaffeemaschine in Gang.

      „Tut mir leid, Inspektor, wir waren verhindert. Aber wir wollten gleich nach dem Mittagessen vorbeikommen. Milch und Zucker zum Kaffee?“ Er will nur Milch, erklärt mir, das Protokoll sei doch nicht so wichtig, ich könne es ja an einem der nächsten Tage unterschreiben. Überhaupt wirkt er gar nicht wie ein Polizist, eher wie ein Nachbar, der auf einen Plausch hereinschaut.

      „Sie sind nicht zufällig mit Sherlock Holmes verwandt?“ fragt er unvermittelt.

      „Inspektor! Sherlock Holmes und Dr. John Watson waren doch keine Brüder oder Cousins. Watson war der ständige Begleiter und gewissermaßen der Resonanzboden des großen Meisters, der dessen Ideen zum Klingen brachte. Er hat im Übrigen viel mehr kluge Gedanken beigesteuert als er dann in seiner Bescheidenheit aufgeschrieben hat. Und er war mein Urgroßvater, ich trage seinen Namen.“

      Marlowe grinst breit. „Wie klein die Welt doch ist. Mein Großvater war der Privatdetektiv, der beispielsweise den berühmten Fall der Kleinen Schwester bearbeitet hat. Wir haben also beide die Aufklärung von Straftaten in unseren Genen. Da stört es Sie sicher nicht, wenn ich Sie als Resonanzboden benutze?“ Er zieht einen Packen Fotos aus der Tasche. „Ich muss Ihnen ein Kompliment machen, Watson. Dies sind die besten Tatortfotos, die ich je gesehen habe. Sollte der Fall je vor Gericht kommen, wird sich auch die Jury darüber freuen. Sie sind wirklich ein Profi. Gelegentlich würde ich gern mal andere Arbeiten von Ihnen sehen.“

      Ich murmele ein Dankeschön für die Anerkennung, und er kann ja mal vorbeikommen, wenn wir mehr Zeit haben, dann zeige ich ihm ein paar Aufnahmen, und was man