C. Harry Kahn

Harry und der Tod am Regenberg


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möchte ich Ihr Know-how einmal mehr in Anspruch nehmen.“ Er zieht einen weiteren Stapel Fotos aus der Tasche. „Diese Bilder wurden bei der Leiche gefunden. Das heißt, nicht die Abzüge, sondern eine von diesen winzigen SD-Speicherkarten. Es muss sich um etwas Wichtiges handeln, denn sie hatte sie in ihrem BH versteckt, was sicher wegen der scharfen Ecken etwas unbequem war. Sagen Sie mir, was Sie davon halten.“

      Das erste Foto zeigt einen Berg. Es kann kein sehr hoher Berg sein, denn er ist bis zum Gipfel bewaldet. Nur zwischendurch ist an der einen oder anderen Baumlücke kahler, steiler Fels zu sehen. Es ist eine Aufnahme, wie kein Profi mit Selbstachtung sie je schießen würde. Schuld daran ist das Wetter. Es muss in Strömen geregnet haben. Alle Konturen sind unscharf; die Farben der Bäume, der Felsen, des Himmels verlaufen in einem alles überziehenden Grau.

      „Da hat sie nur aus Versehen auf den Auslöser gedrückt“, gebe ich meine Meinung kund. Aber das will er nicht akzeptieren und legt mir die nächsten Bilder vor, an die zwanzig Aufnahmen, die immer wieder denselben Berghang zeigen, in verschiedenen Kameraeinstellungen, manche von einem leicht veränderten Standpunkt aus, auch Zoom-Aufnahmen mit einem Zweihundert-Millimeter-Objektiv von verschiedenen Punkten des Hanges. Natürlich hat er Recht. Nicht nur wurden die Bilder keineswegs aus Versehen gemacht, es wurde sogar große Sorgfalt darauf verwendet. Schlecht sind sie trotzdem, denn ohne Licht kann man kein Lichtbild machen. Also: welche Absicht steckt dahinter?

      „Sie war also Fotografin? Was wissen Sie sonst noch über sie?“

      „Noch nichts, und auch dass sie ein Foto-Profi war, ist nur eine Vermutung.“ Er zuckt resigniert mit den Schultern. „Wir haben ihre Fingerabdrücke nach Toronto geschickt, aber es dauert immer eine Weile, bis unsere Anfragen beantwortet werden. Daran sind einerseits die drei Stunden Zeitdifferenz schuld, und andererseits werden wir von der Westküste einfach nicht so furchtbar ernst genommen.“

      „Warum meinen Sie, dass die Fotos wichtig sind?“ will ich wissen.

      „Erstens ist da der Aufbewahrungsort der Speicherkarte. Zweitens die mehrfache Wiederholung desselben Motivs. Drittens die anderen Fotos auf der Karte. Haben Sie einen Computer, auf dem wir das alles ansehen können?“

      In meinem Studio schaut er sich verwundert um. „Für einen arbeitslosen Fotografen im Ruhestand ist das ziemlich aufwendig“, bemerkt er.

      „Ich habe ja nicht gesagt, dass ich den ganzen Tag nur fernsehe. Ich nehme nur keine neuen Aufträge mehr an. Das hätte sich heute Vormittag beinahe schon wieder geändert. Haben Sie die Speicherkarte?“

      Während der Computer bootet, versucht er, mehr über meinen neuen Auftrag herauszufinden. Ich wimmle ihn ab und vertröste ihn auf – vielleicht – später. Erst einmal die Fotoanalyse.

      Ich klicke uns schnell durch die schon bekannten Fotos. Das erste neue zeigt einen anderen Berghang. Dieser ist kahl, unbewaldet, blanker Fels. Die Beleuchtung ist günstiger, es herrscht helles Sonnenlicht, wahrscheinlich ist es früher Nachmittag. Konturen und Farben sind brillant herausgearbeitet. Das Bild hat trotz des reizlosen Motivs eine künstlerische Qualität.

      „Sie hatte ein Faible für Berge“, gebe ich meine Schlussfolgerung kund.

      „Für einen Berg“, korrigiert er mich. „Sehen Sie sich die Gipfellinie an, und vergleichen Sie sie mit dem Ausdruck des ersten Fotos. Sie sind identisch.“

      Er hat wieder Recht. Es ist derselbe Berg, vor und nach einem kolossalen Erdrutsch, der den ganzen Bergwald abgerissen hat.

      „Wir haben noch nicht herausbekommen können, wo diese Aufnahmen gemacht wurden. Das Geografische Institut der Universität sucht nach der Antwort. Was ich von Ihnen wissen will: Warum fotografiert sie den Berg an zwei verschiedenen Tagen? Sollte das eine Dokumentation werden?“

      So sieht es zumindest aus. Fragt sich nur, was sie dokumentieren wollte. Ich sehe mir die Tele-Aufnahmen des trüben Bergwaldes noch einmal an. Zwei Stellen hat sie ausgewählt. Ich zoome eine heran, bis die einzelnen Pixel auf dem Monitor zu sehen sind. Aus der graugrünen Suppe stechen, verschleiert, aber deutlich erkennbar, gelbe und orangefarbene Punkte hervor. Die gelben summieren sich zu etwas, das zwei Schutzhelme sein könnten, und dann müsste das Orange wohl zu Schutzjacken gehören, wie sie Arbeiter beim Straßenbau tragen. Straßenbauarbeiter im Bergwald. Waldarbeiter. Was sie dort machen, ist nicht erkennbar. Ohne die Leuchtfarben hätte ich sie nie bemerkt.

      „Sie hat diese Männer fotografiert“, schließe ich messerscharf. „Nur zu welchem Zweck? Vielleicht fällen sie illegal irgendwelche geschützten Bäume. Mehr lässt sich aber hier nicht mehr herauslesen.“

      „Männer im Bergwald! Sie haben in einer Stunde schon viel mehr entdeckt als meine Leute seit gestern Nachmittag. Wenn wir nur mal ein paar ordentliche Computer bekämen! Jedenfalls vielen Dank für Ihre Mühe. Ich lade Sie dafür zum Lunch ein. Ihr Lieblingsrestaurant, Spaghetti, Pizza oder Hamburger?“

      Wir einigen uns auf den Schnellimbiss an der Zehnten Avenue. Das Personal dort ist tolerant und ignoriert Harry, solange er sich nicht allzu deutlich bemerkbar macht. Harry weiß das genau und hat noch nie einen Mucks hören lassen. Marlowe bestellt für sich ein Stück Pizza und ein Mineralwasser. Ich nehme zwei Hamburger, einen mit und einen ohne Senf. Der ohne ist für Harry. Er liebt Hamburger. Wir erobern einen der hohen Stehtische mit zwei Barhockern, rätseln weiter an den Fotos herum und bedauern diese junge, elegante Frau. Marlowe betrachtet diese Einladung offensichtlich nicht als Entlohnung für geleistete Dienste. Sie ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, ein Freundschaftsangebot. In seinem ganzen Verhalten scheint er mir heute viel freundlicher gesinnt als gestern. Wirklich sehr viel freundlicher. Ich finde ihn eigentlich auch sympathisch. Der knurrige Ton von gestern ist offenkundig nur ein berufliches Werkzeug.

      „Wissen Sie schon die Todesursache, Inspektor?“ frage ich. Ich erwarte keine Antwort auf eine so heikle Frage.

      „Meine Freunde nennen mich Phil. Tod durch Herzversagen. Aber es war Mord. Sie trägt an Armen und Beinen Spuren von Verbrennungen durch Elektrizität. Das hat ihr Kreislauf nicht ausgehalten. Wir konnten sie noch nicht identifizieren, keine Handtasche, keine Papiere, keine Schlüssel, kein Handy. Nur diese Fotodiskette. Übrigens scheint sie nicht von hier zu sein. Alle Etiketten in ihrer Kleidung – teure Marken – sind französisch.“

      Es klingelt, es klopft. Es klingelt in meinem Kopf. Laut! „Ich glaube, Phil, ich kann dir helfen. Wenn mich nicht alles täuscht, heißt sie Jeanne Lafontaine und kommt aus Montreal.“ Ich erzähle ihm von meinem Besuch bei Dan.

      Er lässt die Hälfte seines Mittagessens liegen, zerrt mich aus dem Lokal, kaum dass ich mir noch Harry schnappen kann, der auch noch nicht aufgegessen hat, und schiebt uns in seinen Wagen. Der steht praktischerweise direkt vor der Tür im Parkverbot. Polizisten sind ja immer im Dienst und dürfen so was. Jetzt geht es endlich wieder lebensecht weiter, wie im Fernsehen. Von irgendwo bringt er ein Rotlicht her, das er aufs Dach setzt. Gleichzeitig schaltet er seine Sirene ein und beschleunigt auf ungefähr zweihundert. Damit hört der Realismus auch schon wieder auf. Kein Lastzug stößt rückwärts aus einer Einfahrt, um uns den Weg zu versperren, wir geraten nie auf die Gegenfahrbahn, nicht einmal die Reifen quietschen. Der Mann hat noch viel zu lernen! Aber wenigstens spricht er in sein Funkgerät.

      „Jeanne Lafontaine. Ich brauche die Adresse. Fragt bei der Telefongesellschaft, beim Stromversorger. Fünf Minuten!“ Die Dringlichkeit der Anfrage wird durch den akustischen Hintergrund der Sirene potenziert. Für Harry ist der Hintergrund Vordergrund, und er findet das Geräusch widerwärtig. Zuerst wollte er dagegen anbellen, aber jetzt wimmert er nur noch leise. Gern säße er jetzt im Rucksack, aber den habe ich leider nicht mitgebracht. Ich nehme ihn auf den Schoß und kraule ihm den Nacken. Das beruhigt ihn einigermaßen. Harry ist froh, dass wir in unserem Auto keine Sirene haben.

      Vor der Polizeistation lässt Marlowe den Wagen mit laufendem Motor und rotierendem Rotlicht irgendwo stehen und verschwindet in dem Gebäude. Mir ist nicht ganz klar, was er von mir will. Wahrscheinlich hat er uns nur mitgeschleppt, weil ihm in der Eile nichts Besseres eingefallen ist. Harry wird ungeduldig, und ich fühle mich unbehaglich unter den entrüsteten Blicken der Leute, denen wir im Wege stehen. Als könnte ich was dafür. Wir