C. Harry Kahn

Harry und der Tod am Regenberg


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„Sie haben den Fund einer Leiche gemeldet?“

      „Das habe ich, Herr Inspektor. Aber nicht hier, sondern drüben im Wald.“

      „Ja, ich weiß.“ Er zieht einen Zettel aus der Tasche und liest die Instruktionen vor, die ich der Dame am Telefon gegeben habe. „Auf der Uferstraße, ungefähr vierhundert Meter hinter dem letzten Haus, führt ein schmaler Fußweg im Zickzack den Steilhang hinauf. Oben angekommen, folgt man nicht dem Fußweg, der in westlicher Richtung am Abhang verläuft, sondern geht weiter auf elf Uhr an einem kleinen Dickicht vorbei und wendet sich dann genau nach Süden, cirka dreihundert Schritte. Was wollen Sie, Watson? Indianer spielen?“

      „Mister Marlowe, es gibt an der Stelle keine Hausnummern. Wie soll ich sonst den Ort beschreiben?“

      „Sie hätten einfach dort bleiben können. Warum haben Sie den Tatort verlassen? Wollten Sie etwas beiseiteschaffen?“ Er möchte offenbar den harten Cop spielen, genau wie Banner in der Serie Denver 007.

      „Ich habe den Tatort verlassen, Herr Inspektor, um neun-eins-eins anzurufen, und weil ich keine Lust hatte, tagelang Totenwache zu halten, bis vielleicht jemand anderes vorbeikommt, den ich zum Telefonieren schicken könnte.“

      Sein Blick sagt ganz deutlich, dass er meinen Intelligenzquotienten nicht im dreistelligen Bereich vermutet. „Was war mit Ihrem Handy?“

      „Ich schäme mich zu Tode, aber ich besitze kein Handy. Ich will nicht jederzeit für jedermann erreichbar sein. Übrigens zahle ich auch im Supermarkt noch mit richtigem Geld statt mit Kreditkarte. Macht mich das zum Verdächtigen?“

      „Wir werden sehen. Jetzt kommen Sie und zeigen mir den Tatort.“

      Ich habe das Gefühl, dass seine anfängliche Aggressivität nach und nach einer Art von Erbarmen weicht. Ein Polizist, der Mitleid mit einem Tatverdächtigen hat? Ich nehme Harry auf den Arm und mache eine einladende Geste zur Tür.

      Er bewegt sich nicht. „Der Köter bleibt hier. Gehen Sie schon, wir verlieren wertvolle Zeit!“

      Seine Arroganz geht mir langsam auf die Nerven. Er versucht, mich rumzukommandieren, als wäre er mein Boss. Ich habe mein ganzes Leben lang darauf geachtet, keinen Boss zu haben. Nichts finde ich unerquicklicher, als mir von irgendeinem Hohlkopf Befehle erteilen zu lassen. Ich habe immer nur mit Auftraggebern zu tun, denen ich einen Job vor die Füße knallen kann, wenn sie sich anmaßend benehmen.

      „Der Köter heißt Harry, und Harry kommt mit. Harry allein zu Haus ist kein guter Titel für einen Film.“ Zu meiner Überraschung dreht er sich wortlos um und marschiert zur Tür. Wir bleiben ihm auf den Fersen.

      Vor dem Haus parkt ein alter Pontiac, der so unauffällig ist, dass man ihn schon auf den ersten Blick als Polizeiauto erkennt. Am Steuer sitzt ein anderer Polizist in Zivil. Hinter dem Pontiac stehen zwei Streifenwagen und ein Minibus. Keiner hat das Rotlicht auf dem Dach eingeschaltet, wie sie sich meinem Haus auch ohne Sirene genähert haben. Wahrscheinlich wollten sie vermeiden, dass ich mich durch die Hintertür aus dem Staub mache. Ich setze mich auf den Rücksitz und erwarte beinahe, dass Marlowe beim Einsteigen meinen Kopf mit der Hand nach unten drückt. So wirds im Kino gemacht. Er lässt das aber sein, und unser Konvoi fährt die Uferstraße hinunter.

      „Langsam“, sage ich. „Hier. Stopp.“

      „Dreihundertachtzig Meter“, sagt Marlowe.

      „Sie haben zu spät mit Zählen angefangen“, sage ich.

      Wir steigen aus und klettern den Hang hinauf. Der Pfad windet sich in Serpentinen, ist aber immer noch sehr steil. Marlowe geht voran, hinter mir kommt sein Fahrer und dann die Besatzung eines Streifenwagens. Die anderen bleiben in ihren Autos sitzen. Harry findet es unzumutbar, dass er diesen Steilhang zum zweiten Mal an einem Tag bewältigen soll. Er verweigert mir die Gefolgschaft. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn zu tragen. Wir sollten doch noch ein paar Stunden ernsthaftes Hundetraining absolvieren, Harry! Der Weg ist glitschig nach dem vielen Regen. Er ist immer glitschig, denn es regnet immer. Ich bin hier schon öfters ausgerutscht und einmal den ganzen Hang hinabgekollert. Heute trifft dieses Los den Fahrer. Er heißt Sean, wie ich unterwegs mitbekommen habe, obwohl seine Vorfahren eher aus Asien als aus Irland stammen dürften. Der uniformierte Polizist kriegt ihn noch zu fassen, und Sean rappelt sich mühsam wieder auf. Er flucht ausdauernd in verschiedenen Sprachen, die ich nur zum Teil verstehe. Dabei betrachtet er seine schlammbedeckten Handflächen und weiß offensichtlich nicht, wohin damit. Schließlich gibt er sich einen Ruck und wischt sie an der noch sauberen Seite seiner Hose ab. Oben angekommen, gehen wir auf elf Uhr an einem kleinen Dickicht vorbei und dann genau nach Süden. Es sind mehr als vierhundert Schritte.

      Die weiße Frau liegt noch da wie vor einer Stunde. Marlowe hält uns mit einer Armbewegung auf Distanz. Er selber nähert sich mit größter Vorsicht, geht neben der Frau in die Hocke – und legt doch tatsächlich die Fingerspitzen an ihre Halsschlagader. Er blickt auf und sagt zu einem der Streifenpolizisten: „Sie ist tot. Jim, holen Sie die anderen.“ Und zu mir: „In der Zwischenzeit rekonstruieren wir, wie Sie auf die Leiche gestoßen sind.“

      Wie bei einer Theaterprobe gehen wir meine Schritte durch, von Harrys Alarmgeschrei bis zu meinem Verlassen der Szene. Harry muss sich jetzt einigermaßen sicher fühlen, denn er bellt und jammert nicht. Er weicht aber auch keinen Schritt von meiner Seite.

      Marlowe enttäuscht mich. Er hat kein Notizbuch, um meine Aussage säuberlich aufzuschreiben, er scheint sich alles im Kopf zu merken. Dann stellt er noch ein paar Routinefragen. „Erzählen Sie mal was über sich, Dr. Watson. Wovon leben Sie?“

      „Überwiegend von Spaghetti und Pizza, aber manchmal hole ich mir auch was von McDonald’s.“

      „Wenn ich jetzt mal kräftig lache, werden Sie dann mit Ihren Witzeleien aufhören? Ich will wissen, als was Sie arbeiten, womit Sie das Geld verdienen, das Sie bei McDonald’s verschleudern.“

      „Verzeihung, Herr Inspektor. Ich bin arbeitslos. Das heißt, ich verdiene zurzeit keinen Penny. Bis vor ein paar Monaten war ich Fotograf, freischaffend. Ich wette jeden Einsatz, dass Sie schon irgendwo irgendwann ein Foto von mir gesehen haben. Bildreportagen für Zeitschriften waren meine Spezialität, und Standfotos bei Filmaufnahmen. Jetzt habe ich Urlaub. Vielleicht für ein Jahr, vielleicht für immer. Vor drei Jahren habe ich an ein paar Filmen hier mitgearbeitet. Vancouver hat mir gefallen. Ich habe mir ein Haus gekauft und gedenke, hier zu leben.“

      Die Besatzung der zurückgebliebenen Autos, angeführt von Jim, raschelt durch das dünne Unterholz hinter uns. Sie schleppen tausenderlei Kisten und Kasten und nicht definierbare Gerätschaften mit sich. Früher, als ich noch manchmal zelten ging, sah meine Ausrüstung ähnlich aus. Einer findet ein paar herabgefallene Äste, und daran spannen sie, wie sie es gelernt haben, ein rot-weißes Band um die weiße Dame, um aufdringliche Journalisten und sensationshungrige Passanten abzuhalten. Sean, der die ganze Zeit durch die Gegend geschlendert ist, spricht halblaut mit Marlowe. Der steuert entschlossenen Schrittes und bohrenden Blickes auf mich zu.

      „Watson, warum haben Sie uns nicht gesagt, dass dort hinten eine Forststraße vorbeiführt? Wir hätten ganz nahe heranfahren können.“

      Ich wusste nichts von einer Forststraße. Harry und ich gehen immer den gleichen Weg, und es ist heute das erste Mal, dass wir davon abgewichen sind. Marlowe scheint mir das nicht zu glauben, aber was soll er machen? Er schickt einen Mann los, um herauszufinden, wo die Forststraße hinführt und ob sie befahrbar ist. Die anderen, Uniformierte und Zivilisten, stehen herum und warten. Noch ist niemand erschienen, um die rot-weiße Absperrung zu durchbrechen.

      Marlowe telefoniert ausgiebig auf seinem Handy. Seine auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnisse teilt er Sean mit. „Die Doktorin ist unterwegs. Ich habe ihr gesagt, sie soll erst einmal warten, bis wir die Zufahrt gefunden haben. Und der verdammte Fotograf ist krank. Bis die einen anderen finden, kann es Stunden dauern.“ Sein Blick wandert über die Anwesenden und bleibt an dem jungen Uniformierten hängen. „Jim, Sie kommen gerade aus der Polizeischule. Da können Sie auch fotografieren.“

      Jim stottert ein bisschen. „Wir hatten einen Kurs, Inspektor, aber ich war nicht besonders gut.