C. Harry Kahn

Harry und der Tod am Regenberg


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Art Empfangschef thront.

      „Die Mordkommission befindet sich einen Stock höher“, informiert er mich, den Blick fest auf Harry gerichtet. „Den Hund müssen Sie aber draußen lassen.“

      „Harry ist ein wichtiger Zeuge“, belehre ich ihn. Mit dem wichtigen Zeugen unterm Arm und einem Kribbeln im Rücken erklimme ich die Treppe.

      „Halt, Polizei, keine Bewegung!“ Der so vertraute Ruf ertönt nicht. Ist der Polizist etwa gar nicht echt? Auf dem Treppenabsatz blicke ich zurück. Er hat keine Pistole gezogen, steht nur da und hebt ratlos die Schultern.

      Aus einer offenen Tür höre ich Marlowes Stimme. „Zum Teufel noch mal, dies ist die Mordkommission, Mann. Ich brauche die Information jetzt, nicht, wenn es Ihnen passt. Jetzt, maintenant, subito, en seguida! Kapiert? Nein, Sie rufen nicht zurück, ich warte. Und wenn ich länger als drei Minuten warten muss, dann schicke ich Ihnen drei Streifenwagen und lasse Ihr Gebäude nach einem entflohenen Häftling durchsuchen. Sie ahnen nicht, was bei einer gründlichen Suche alles kaputtgehen kann! Drei Minuten ab jetzt.“ Er sieht uns in der Tür stehen und winkt uns herein. „Entschuldige, John, ich hab euch ganz vergessen. Sucht euch einen Stuhl, es dauert nicht lang.“

      Einen Stuhl zu finden ist nicht schwer. Es gibt nur einen, und der steht vor Seans Schreibtisch. Dies scheint sein Büro zu sein. Ein bisschen nüchtern, aber sonst ganz angenehm, viel besser jedenfalls als die hektischen Großraumbüros aus dem Fernsehen, in denen Polizisten in Uniform und in Zivil herumwimmeln und Besucher mit oder ohne Handschellen, wo Stimmengewirr und Telefonkakofonie dem Zuschauer keinen klaren Gedanken mehr zugestehen. Ja, ohne Marlowes bühnenreif vorgetragenen Wutausbruch wäre es sogar ein gemütliches Büro. Sean hat sich in seinem Sessel zurückgelehnt und versucht, seine Irritation hinter einer gelassenen Miene zu verbergen.

      Marlowe vollführt einen Trommelwirbel mit den Fingern und wartet. „Na also! Sie sind sogar noch zehn Sekunden unter der Zeit. Die schreibe ich Ihnen für das nächste Mal gut. Wie lange wohnt sie schon dort? Irgendwelche Auffälligkeiten? Danke. Sehen Sie, so gewinnt man die Polizei als Freund.“ Und zu mir und Harry gewandt: „Diese Bürokratenärsche versuchen immer ihre Spielchen mit uns. Wir haben eine Adresse. Es wäre mir lieb, wenn du mitkommen könntest. Vielleicht ist etwas unter ihren Fotografensachen, das wir nicht auf Anhieb erkennen. – Sean, auf gehts.“

      Marlowe fährt selber, ohne Rotlicht und ohne sonderliche Eile. Sean fühlt sich auf dem Beifahrersitz sichtlich fehl am Platz. Es bleibt mir genügend Zeit, ihn in die Verflechtung zwischen der toten Frau, dem Filmproduzenten, der verschwundenen Fotografin und mir einzuweihen. Vor einem kleinen Apartmentgebäude in False Creek parkt Marlowe auf der falschen Straßenseite. Vor zwanzig Jahren war dies ein trendiges Viertel, wo postmoderne Neubauten zu überzogenen Preisen im Stundentakt verkauft wurden. Bald aber regnete es in die oberen Wohnungen, Türen klemmten, Fensterspalten machten das Heizen unerschwinglich, und eine Firma, die man dafür hätte zur Verantwortung ziehen könnten, existierte schon lange nicht mehr. Schäbigkeit griff schnell um sich, und wer jetzt dort wohnt, hat nicht vor, lange zu bleiben.

      Die Sekte der Türklingelfreunde hat hier einen Sieg errungen. Es gibt acht Knöpfe. Die Schilder dazu haben keine Namen, nur die Nummern der Apartments. Eines der beiden untersten sagt Manager. Sean muss die Frau aus dem Nachmittagsschlaf gerissen haben. Ja, das sei ein Bild von Jeanne Lafontaine, sie habe nur für drei Monate gemietet. Nein, Besucher seien der Managerin nicht aufgefallen, und Miss Lafontaine habe sie schon länger nicht mehr gesehen, eine Woche vielleicht oder auch zwei. Das hat sie auch den beiden Herren gesagt, die vorgestern hier waren. Miss Lafontaine hatte sie geschickt, die sollten was holen.

      Die Managerin hat einen Hauptschlüssel und lässt uns in die Wohnung im zweiten Stock. Nein, den Herren hat sie nicht aufgeschlossen, die hatten ihren eigenen Schlüssel. Sie sahen ganz normal aus, ungefähr so wie wir drei, ziemlich genauso groß und auch genauso alt und ebenso gekleidet. Ich habe eine gelbe Regenjacke an, Phil trägt heute einen formellen Anzug mit Krawatte, und Sean hat sich mit einer großkarierten Jacke als amerikanischer Tourist verkleidet. Ich versuche, mir vorzustellen, wie ein Fahndungsaufruf wohl aussehen könnte.

      Innen sieht es aus wie in jedem der zahllosen möblierten Apartments, die rund um die ganze Welt von häufig wechselnden Mietern bewohnt werden. Das Mobiliar stammt nicht aus jenem weltweit bekannten schwedischen Möbelhaus, aber möglicherweise von einem örtlichen Konkurrenten. Das Sofa im Wohnzimmer ist nicht neu und nicht alt, der Teppichboden könnte Reinigung vertragen, schreit aber noch nicht allzu laut danach. Lafontaine war entweder eine sehr sparsame Frau, oder Dan hat ihr Honorar so schofel gedrückt, dass sie sich kein ordentliches Hotel leisten konnte. Andererseits hat ihre Kleidung nicht nach Billigkaufhaus ausgesehen.

      „Ganz und gar nicht“, bestätigt Sean. „Das sind ausgesprochen teure Label. Vielleicht war sie Modefotografin und ist billiger an die Sachen gekommen.“

      „Telefonier die Modedesigner in Montreal durch“, ordnet Marlowe an. Nein, er ordnet nicht an, er befiehlt nicht, er schlägt vor, empfiehlt. „Irgendwer in der Szene muss sie kennen. Wir brauchen Adresse, Angehörige und all den Kram.“

      In den Küchenschränken finden wir Kaffeetassen aus braunem und Teller aus durchsichtigem Glas, im Kühlschrank eine Familienpackung Müsli und einen Zwei-Liter-Eimer fettarmen Joghurt. Im Wohnzimmer steht ein Tisch vor dem Fenster, der wahrscheinlich als Schreibtisch gedient hat, denn darauf liegen verschiedene Papiere. Sean steckt sie vorsichtshalber in die mitgebrachte Einkaufstüte.

      „John, du könntest dich nach typisch fotografischen Dingen umsehen, aber fass möglichst wenig an, wegen der Fingerabdrücke. Nein, warte ...“ Aus der Tiefe einer Jackentasche holt Marlowe ein Reservepaar Latexhandschuhe hervor. Ich habe mich immer gewundert, woher die Detektive im Krimi ihre Handschuhe bekommen und die Plastikbeutelchen für die Beweisstücke. Jetzt ist mir klar, dass die zur Standardausrüstung gehören wie Farbfilter oder Stativ beim Fotografen. Farbfilter finde ich in einer kleinen Kommode, auch ein kleines Tischstativ und ein ziemlich teures elektronisches Blitzgerät. Mehrere Wechselobjektive. Ein paar kleine Spotlights, wie man sie bei der Außenarbeit verwendet, wenn man nur eine Autobatterie zur Verfügung hat.

      „Interessant, was alles fehlt“, erkläre ich den beiden Kriminalbeamten. „Keine Kamera! Jeder Profi hat mehrere, ein halbes Dutzend oder so, trägt aber nie alle gleichzeitig mit sich rum. Ein Profi hat immer einen Vorrat an Filmen. Sie hat digital fotografiert, also müssten Speicherchips herumliegen. Aber vor allem fehlt der Computer, auf dem sie ihre Bilder ansehen, bearbeiten, auswerten kann.“

      Auch Phil und Sean haben wenig gefunden, was sich mitzunehmen lohnt, kein Wunder im Zeitalter von Laptops und E-Mail. Der Kleiderschrank im Schlafzimmer enthält nur Auserlesenes. Dem Anschein nach ist die Kollegin in Designerkleidung auf den Bergen herumgekraxelt. Im Badezimmer nur ein Minimum an Kosmetika, mit Sicherheit nichts, was in irgendeiner Weise mit einem Mord zusammenhängen könnte.

      Auf Befragen gibt die Managerin zu Protokoll, Lafontaine habe einen Kombiwagen gefahren, vielleicht war es auch kein Kombi, grau oder blau oder grün oder braun, nicht besonders groß, ein Ford oder Chrysler, vielleicht auch ein Japaner. Das Nummernschild könnte von Quebec gewesen sein, vielleicht auch von hier, wenn der Wagen gemietet war. Die Frau sieht wohl wenig von dem, was sich außerhalb ihres Großbildfernsehers abspielt.

      „Wenn wir den Wagen finden, erfahren wir vielleicht etwas mehr“, knurrt Marlowe. „Gib eine Fahndung raus. Nach einem Auto, vielleicht ein Kombi oder ein normaler Pkw. Es hat höchstwahrscheinlich eine Farbe und möglicherweise ein Nummernschild. Sollte nicht schwer zu finden sein.“ Er hat sogar so etwas wie Humor. Das passt zwar nicht ins Bild – ich kann mich an keinen Fernsehcop erinnern, der je eine originelle Bemerkung hätte fallen lassen –, aber ich gebe ihm dafür noch ein paar Sympathiepunkte.

      Sean fährt, Marlowe, den ich jetzt Phil nenne, sitzt auf dem Beifahrerplatz. Es ist wie gestern bei unserer ersten Begegnung, nur ist die Atmosphäre viel entspannter. Sie scheinen meinen fachlichen Beitrag ernst zu nehmen und behandeln mich fast wie ihresgleichen. Trotzdem beschließe ich, sie noch nicht in meinen Plan einzuweihen. Im Krimi bringt es die Polizei immer auf die Palme, wenn sich ein Zivilist einmischt. Im Leben ist es wahrscheinlich nicht anders.

      Es