C. Harry Kahn

Harry und der Tod am Regenberg


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hat er schnell den richtigen Einfall. „Moment mal! Watson, Sie sagten, Sie sind Fotograf. Wollen Sie dem Police Department und mir persönlich einen großen Gefallen tun? Wir müssen das hier alles festhalten, bevor der Regen einsetzt. Können Sie das machen?“ Ich nicke nur. Marlowe schnauft erleichtert aus.

      „Sehr schön, das ist wirklich eine große Hilfe. Schnappen Sie sich die Kamera und dokumentieren Sie diesen Fundort. Sean zeigt Ihnen, worauf Sie zu achten haben.“ Er lässt mich stehen und wendet sich den Aufgaben zu, die ein Polizist seines Ranges zu erledigen hat.

      Die Kamerakiste, zu der Sean mich führt, gereicht einer Mordkommission zur Ehre. Die Kamera selbst ist ein Spitzenprodukt, und darüber hinaus enthält die Kiste alle Linsen, Filter, Stative und Leuchten, die ich mir wünschen kann. Das meiste brauche ich gar nicht, nur einen Blitz für Aufnahmen an der Schattenseite und ein Makroobjektiv. Seans Einweisung kann er sich schenken. Vor zwei Jahren haben wir unten in Hollywood einen Film gedreht, wir nannten ihn Lila Tulpen, aber ins Kino kam er unter einem ganz anderen Namen. Es spielten viele Stars mit, und gleich am Anfang gab es eine Leiche, nicht im Wald, aber irgendwo im Freien. Der Produzent wollte sich das Honorar für einen Schauspieler sparen und ernannte mich zum Polizeifotografen. Die Fotos mussten gut sein, denn sie wurden später in der Gerichtsverhandlung gezeigt. Die Mörderin wurde dann auch aufgrund dieser Aufnahmen verurteilt. Ich arbeite eine halbe Stunde lang intensiv. Harry hat verstanden, dass er nicht unter dem rot-weißen Band durchlaufen darf. Ich frage mich, ob er seine Intelligenz von mir hat.

      Gerade als ich die letzten Aufnahmen mache, kommt die Ärztin an. Sie scheint mit der korrekten Prozedur nicht vertraut zu sein. Statt mit den Fingerspitzen berührt sie die Halsschlagader mit einem Stethoskop, erklärt, dass die Frau tot, die Todesursache aber nicht an Ort und Stelle zu klären sei. Sicher könne sie nur sagen, dass die Leiche nicht aus eigener Kraft hierher gekommen sei. Das haben die anderen auch schon vermutet, und das Fehlen von Dingen, die eine Frau normalerweise mit sich führt, eine Handtasche zum Beispiel oder Schuhe, ist nur eine Bestätigung dafür.

      Wir hängen noch eine Zeit lang herum, während alle möglichen Menschen kommen, ihre Aufgabe verrichten und wieder gehen. Die weiße Frau wird von zwei Männern in einem ganz anderen Weiß abgeholt. Im einsetzenden Regen packen die Spurensucher ihre Instrumente ein. Es ist wohl ein zwölf-Stunden-Regen, der im Lauf der Nacht aufhören wird. Morgen, sagt der Wetterbericht, soll es ausgesprochen schön werden. Oder wenigstens trocken. Harry knurrt der Magen, und mir bestimmt auch. Schließlich rafft sich Marlowe auf und lässt uns gehen. Er klingt jetzt viel freundlicher als am Anfang unserer Bekanntschaft. Morgen Vormittag soll ich ins Polizeirevier kommen und ein Protokoll unterschreiben. Aber ohne Hund! Nein, ich komme mit Harry oder gar nicht. Also dann, zum Teufel, eben mit Hund.

      Auf halbem Weg wird aus dem Regen ein richtiger Schauer. Bis wir heimkommen, bin ich durchnässt bis auf die Haut. Harry sowieso.

      2. Phil

      Auf irgendeine Weise muss uns das Drama des Vortages doch angestrengt haben, denn wir schlafen beide länger als gewöhnlich. Dann aber beginnt Harry mir auf eindringliche Art mitzuteilen, dass er jetzt einen Bärenhunger habe. Bescheidenheit ist noch nie Harrys Ding gewesen. Ich wette, er hält sich sogar für bärenstark. Wie auch immer, Frühstück ist angesagt.

      Harry und ich frühstücken immer gemeinsam. An sonnigen Tagen gibt es Cornflakes mit Milch. Eine Packung reicht uns beiden oft drei Monate. Meistens essen wir Toast mit einer Masse, die aus dem Käseregal im Supermarkt kommt. Für mich gibt es dazu noch jede Menge Kaffee, für Harry nur Wasser. Kaffee macht ihn bärenkampfeslustig. Heute ist einer jener Tage, an denen wir Lust auf Bacon und Spiegelei haben. Ich mag meines gern von beiden Seiten gebraten, aber Harry hat es lieber halb roh und auch den Bacon nicht zu kross. Mir solls recht sein.

      Mitten in der dritten Tasse Kaffee – und ich bin in der Zeitung noch nicht bis zu der Notiz über die im Wald aufgefundene Tote vorgedrungen – läutet das Telefon. Um diese Zeit kann das nur ein Fremder sein. Vielleicht dieser Inspektor, der uns schon knurrend fürs Protokoll erwartet.

      „Hallo“, gebe ich mich zu erkennen.

      „Hallo! Spreche ich mit John H. Watson?“ will einer wissen.

      „Ich gestehe nur, wenn Sie mir sagen, wer Sie sind.“

      „Hallo, John! Schön, dass ich dich so schnell gefunden habe! Hier ist Dan Helmer von North Side Docu Productions. Lange nicht voneinander gehört. Hast du ein paar Augenblicke Zeit, oder störe ich dich bei was Wichtigem?“

      „Du störst bei was Wichtigem. Ich frühstücke gerade.“

      „Dann lass dich nicht stören, John. Ich höre, du befindest dich gerade in einer schöpferischen Pause? John, du musst eine Pause in die Pause einlegen! Drei Wochen, höchstens vier. Wir sind mitten in einer Produktion, und ich habe meine Fotografin verloren. Wenn ich nicht sehr schnell Ersatz finde, geht das Projekt den Bach runter. Du musst mir aushelfen. Dein Honorar kannst du selber bestimmen.“

      „Dan, ich nehme keine neuen Aufträge an. Und von dir schon gar nicht. Such dir jemand aus den Gelben Seiten. Tschüs dann, Dan.“

      Ein lauter Schrei aus dem Hörer stoppt mich in der Bewegung des Auflegens. Ich halte das Ding noch einmal ans Ohr.

      „John, Dr. Watson, hör mich an! Komm herüber, lass uns reden. Ich bin noch im selben Büro wie damals. Komm und hilf mir, um der alten Zeiten willen!“

      „Ich hasse es, wenn man mich Dr. Watson nennt. Und gerade wegen der alten Zeiten werde ich nicht kommen. Good bye, Dan.“

      Wie kommt er nur auf die Idee, die alten Zeiten zu beschwören, gerade so, als hätten wir uns damals in Freundschaft getrennt? Ausgerechnet Dan Helmer!

      „Das war Dan Helmer“, informiere ich Harry. Der ist längst fertig mit seinem Spiegelei und will natürlich Einzelheiten wissen. „Die genaue wissenschaftliche Bezeichnung lautet Daniel P. Helmer junior. Dan hat eine Firma, die Dokumentarfilme produziert. Tiere, Natur, viel Ökologisches. Vor ein paar Jahren, du warst damals noch nicht auf der Welt, hatte ich einen Auftrag von ihm. Es ging um Lachse, und ich war der Scout. Bei dieser Art von Filmen, in denen die Natur die Hauptrolle spielt, gibt es nur ein rudimentäres Drehbuch. Deshalb zieht zunächst ein Scout los, findet geeignete Lokalitäten, stellt fest, zu welcher Zeit die Tiere dort am besten gefilmt werden können und so weiter. Erst dann ist es sinnvoll, das ganze Kamerateam loszuschicken. Zwei Monate hat mich das damals gekostet, und als der Film fertig war, da war die Fernsehstation, die ihn in Auftrag gegeben hatte, pleite. Dan hatte Tränen in den Augen, als er uns eröffnen musste, dass er uns kein Honorar zahlen könne. Wenn wir aber Geduld hätten, würde er versuchen, den Film zu verkaufen. Und wir würden dann am Gewinn beteiligt, statt nur das verabredete Honorar zu bekommen. Wir waren unglaublich blauäugig. Der Film ist auf allen Sendern in Europa gelaufen und hat mindestens zehnmal seine Kosten eingespielt. Aber Dan rückt kein Geld heraus, und unsere Anwälte sind sich einig, dass wir auch nie einen Dollar sehen werden. Das Schlimmste ist, dass er auch noch all meine Negative aus dem Projekt hat und sie nicht zurückgibt. Da sind ein paar super Bilder drunter, Harry, die uns viel Geld einbringen würden.“

      Harry hat gar nicht zugehört. Er steht an der Tür und trippelt von einem Bein aufs andere. Höchste Zeit für unseren Vormittagsspaziergang. Bis ich meine Schuhe und die wasserdichte Jacke mit Kapuze angezogen habe, kommt er schon wieder zurück, beutelt sich, dass es nur so spritzt, und setzt sich neben die hintere Wagentür. Er will heute nicht in den Forst. Unser gestriges Erlebnis hat ihn traumatisiert. Am Ende muss ich ihn gar zur Hundepsychologin bringen. Also gut, gehn wir heute mal ganz woanders hin. Rein mit dir!

      Wie immer finde ich mit diesem Auto auch in der Innenstadt schnell eine Parklücke. Jetzt muss Harry in den Rucksack, die öffentlichen Verkehrsmittel tolerieren keine Vierbeiner. Das ist der einzige Grund, warum ich nicht öfter Seabus fahre, denn die Überquerung der English Bay ist jedes Mal ein faszinierendes Abenteuer. Am Ende der Bucht ragen die Getreidesilos in den Himmel. Mühelos schlucken sie die Millionen Tonnen Weizen, die auf endlos langen, tausendachsigen Güterzügen aus Alberta, aus Manitoba über die Rocky Mountains herangeschafft werden. Eine Wolke aus feinem