Ingo M. Schaefer

ARTIR - Krieger der Wahrheit


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musste weiter stromaufwärts, bis ich einen geeigneten Abstieg hinunter zum Wasser fand. Neben dem Strom lief ein Felsenband, war mal einen Schritt, mal einen Fuß breit, bis sich die Schlucht zum Kessel öffnete. Wie ich mir dachte, stand hier keine Wache. Die Menschen dieser seltsamen Stadt rechneten nicht mit Besuch aus dieser Richtung. Tatsächlich begegnete ich in den fünf Jahren meiner Wanderung niemals einem Menschen in der Wildnis.

      Keine Wachen sagten viel über das Selbstverständnis der Bewohner aus. Die Wildnis, mein Lebensraum, existierte für Tawa und seine Bewohner nicht. Ich vermutete, dass dies für alle Menschen in Balidan galt. Tatsächlich trauten sich die Leute niemals die Straßen zu verlassen, die die Wildnis trennten und Städte verbanden, um einen Fuß auf natürlich bewachsenen Boden zu setzen.

      Auf dem Felsband kam ich schnell voran und stand am Ende der Schlucht, als es bereits dunkler wurde. Die Kessellage begünstigte einen frühen Abend.

      Von hier unten wirkten die steilen hohen Wände bedrohlich und einengend, weil ich die Weite gewohnt war. Was die Menschen wohl planten, als sie mit mächtigen Kräfftern dieses Loch in die Erde frästen? Für mich war es ein Gefängnis; die Wache ließ niemanden herein und wohl auch niemanden heraus. Vielleicht brauchte ich auch keinen Ausgang. Wenn sie mich aufnahmen, ich dazu gehören durfte, könnte ich sogar mit den Wänden leben.

      Dornenlose Nadelbäume ragten bis zur Hälfte der Steilwände in die Höhe. Die Bewohner hatten sie soweit mit Kraft verändert, dass sie aus einem Stamm bestanden, den man einfacher fällen konnte. Das hatte ich in Targent mal kurz beobachten können. Der Ring aus Nadelbäumen war gute fünfhundert Meter breit, um durch Laubbäume, die ebenfalls niemals in der Wildnis existierten, abgelöst zu werden. Gewöhnliche Laubbäume bestanden aus drei miteinander verwachsenen Stämmen und trugen zahlreiche verschiedene kleine Früchte wie zum Beispiel die süßen Sagakugeln, die, nachdem sie gepflückt waren, hell leuchteten. Die Sagabäume vor mir waren kleiner und zwei-stämmig. An diesen Zweigen hingen kopfgroße bunte Früchte. Wildsagas blieben klein wie meine Fingernägel. Ich sah viele andere Früchte, die so verändert waren, dass ich sie nicht erkannte. Niemand nannte mir ihre Namen. Meine Aufenthalte in Städten mit ihren Nahrungsgürteln blieben zu kurz.

      Das hatte einen Grund. Jemandem gefiel nicht, was ich sagte, daraufhin lähmte man mich mit der magischen Kraft und dann fiel man über mich her - mit Klingen, Messern oder auch Hämmer. Ich war allen Erwachsenen wehrlos ausgeliefert. Ich wusste nicht, wie man die Kraft, dieses geheimnisvolle Etwas, nutzen konnte. Niemand erklärte mir, wie es ging. Da ich zu keiner der acht Gruppen gehörte, kümmerte sich niemand um mich. Mir blieb nur die Wildnis und in jeder Stadt um Aufnahme zu bitten. Bisher vertrieben sie mich aus den Städten, folgten mir aber nie in die Wildnis.

      Hier am Ende der Schlucht versteckte ich abermals die Taschen und den Stock. Meine Kapuze zog ich fest über mein weißes Haar.

      Um zu überleben, musste ich lautloser sein als die Tiere. Ich schlich mich durch den Gürtel näher an die Stadt mit ihren Menschen heran.

      Die erste Frau, die ich über eine Steinbrücke auf mich zu gehen sah, verwirrte mich. Obwohl sie sich schwarz kleidete, sah ich in ihre Augen, in ihr Inneres und sah eine Schlame vor mir und traf blitzschnell eine folgenschwere Entscheidung. Ich sprang aus dem grünen Gürtel in ihren Weg, so dass sie abrupt stoppen musste.

      „Sei gegrüßt, Schlame!“, rief ich vorlaut und sah zu spät die vier Vomen, die ihr folgten. Arme streckten sich mir entgegen, zeigten auf mich. Eine harte unsichtbare Wand traf mich und haute mich zu Boden.

      Die Folter begann. Meine Haut schien zu reißen. Nägel schlugen in die Knochen.

      Die vier Vomen drückten meinen Körper mit der geheimnisvollen Kraft nieder. Sie lachten über mich, weil ich machtlos war.

      Die Frau blieb stehen, sah mich kalt an, zog sich weder zurück, noch griff sie ein. Die Männer kreisten mich ein. Das hatte ich ja toll hinbekommen. Warum musste ich reden?

      Ich kannte die Antwort. Niemals würde ich still sein, wenn es um die Wahrheit ging. Die Frau war keine Vome. Mochte sie Schwarz tragen und alle Merkmale dieser Gruppe mit der Verwandlung erhalten haben. Sie war im Innersten, das tief verschüttet war, eine Schlame.

      Die Männer würden ihren Spaß haben, mich zusammenschlagen. Aber die Treppen hoch hinaustreiben? Das bezweifelte ich. Ich saß, nein, ich lag in der Falle. Konnte es schlimmer werden? Eigentlich nicht. Schwere Hammer trafen meine Arme, Beine, Hände, Füße und den Kopf, allerdings ohne die Knochen zu brechen. Die Kraft konnte jeden Schmerz in mir hervorrufen und mich lähmen, aber verletzen konnten nur reale Gegenstände, Waffen, Werkzeuge oder Krallen. Die hatten die Männer glücklicherweise nicht dabei. Aber sie waren in der Lage mit der Kraft eine Waffe zu schaffen, eine Vomenkralle, dann hatte ich ein ernstes Problem. Ich gab kein Geräusch, kein Murren, kein Keuchen von mir. Diese Genugtuung gab ich ihnen nie. Das Gemeine war, ich erfuhr niemals das Ende einer solchen einseitigen Auseinandersetzung, weil die Schmerzen lange anhielten. Mittlerweile standen die vier Männer nur noch einen Schritt entfernt, als ich über mir ein Geräusch hörte. Ein leises Rascheln, als ob Tuch Haut streifte. Etwas war über mir, das ich nicht sehen konnte.

      „Haltet ihn still! Ich bestrafe ihn!“ Die Stimme knarzte in meinen Ohren und hörte sich alt an. Den Sprecher sah ich nicht und wusste sofort, dass ich sterben sollte. Ich lag platt, konnte weder Lid schließen, noch Finger krümmen. Die Frau sah teilnahmslos zu mir. Unsichtbare Fesseln hielten Arme und Beine am Boden.

      Mein Hemd und die Haut platzten auf. Etwas Scharfes schlitzte mich auf.

      Das war schlimm.

      Drei blutende Furchen zogen sich über meine Brust. Flammen züngelten hinter meiner Stirn, trieben Wasser durch meine Haut. Kein Laut kam über meine Lippen. Die Wunden brannten, als ob tödliches Naverengift sich mit meinem Blut vermischte.

      „In den Belt mit ihm! Sollen die Schnapper ihn fressen“, befahl der Unsichtbare. Ich hörte keine Schritte, keine Stoffe rieben mehr aneinander.

      Ich schwitzte. Das Brennen konnte ich ertragen, Schnapperzähne nicht. Schnapper mit ihren zahlreichen Unterarten beherrschten die Meere und Gewässer. Sie besaßen ein großes Maul mit mehreren scharfen Zahnreihen und harten Flossen, die sie äußerst wendig auf engstem Raum machten. Dieser Raubzahn riss in wenigen Minuten einen drei Meter langen Ohnezahn in Stücke. Wie ich blutete, waren alle Hafenschnapper innerhalb weniger Sekunden bei mir.

      „Er beleidigte mich. Ich bestimme, was mit ihm geschieht!“

      Die Frau trat vor, schob zwei Männer beiseite.

      „Ich entschied für dich“, fauchte der Unsichtbare.

      Dass die Kraft jemanden vor den Augen anderer verschwinden ließ und schwerelos dazu, machte mich wütend und ließ mich kurz alles um mich herum vergessen.

      „Es liegt nur an mir, diesen Wurm zu bestrafen“, erwiderte die Frau mit fester Stimme. „Komme nicht zwischen einer Vome und ihrer Beute! Schafft ihn vor die Stadt! Die Naveren sollen ihn zerreißen. Ich will dabei zusehen.“

      Die Vome unterstrich mit Händen, ihre Anweisung auszuführen. Anstatt drei Meter lange Meereskiller sollten mich ebenso lange Raubkatzen verspeisen. Zumindest atmete ich.

      Dass sie mittlerweile vier Leute benötigten, um mich zu lähmen, sollte mir Mut geben. Früher schaffte dies bereits einer. Der alte unsichtbare Mann war sicher ein Schwarzer. Nicht oft bekam ich diese Krallen zu spüren. Mittlerweile jagten mir die Furchen bekannte Schmerzwellen durch den Körper. Der Alte musste seine Krallen mit Gift versehen haben. Wo aber hatte der das Gift her, dessen Wirkung mir bekannt vorkam?

      Dieselben Schneiden zerrissen plötzlich die vier Kehlen der Männer. Warmes Blut spritzte auf mich. Tote Körper begruben mich. Die Lähmung und die Folter waren fort, aber das Gewicht der Leichen presste mich zu Boden. Jetzt zog ich die Schnapper des gesamten Belts an.

      „Ich verschone dich, Vomia, und deine Beute, weil du meine Erste gewesen bist. Solltest du mir abermals widersprechen, rettet dich nichts mehr.“ Die Stimme verlor sich.

      Was meinte der Mann mit „meine Erste“? Seine Geliebte? Seine Ehefrau?