Ingo M. Schaefer

ARTIR - Krieger der Wahrheit


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mich. Jemand stand über mir auf der Klippe.

      „Ihre Krallen sind immer vergiftet. Der ist tot.“ Die Stimme des Unsichtbaren.

      „Sie fanden die Leiche nicht.“

      „Na und! Er ist ertrunken oder die Schnapper haben ihn zerrissen. Wie willst du da seinen Körper finden?“

      „Ich wünschte, ich hätte deinen Optimismus. Wenn er doch lebt?“

      „Dann verschwendest du nur Zeit. Deren einzige Hoffnung ist dahin. Die letzten Züchtungen im Norden versprechen viel. Endlich. Wir lassen sie über Plawass herfallen. Die Decke wird sie anlocken. Wir werden genug haben, um die ganze Stadt in den Boden zu stampfen.“

      „Wir sollten die Neun nicht dorthin senden. Es dauert zu lange, bis alle dort eintreffen. Bruder, in den Städten brauchen wir sie dringender. Sie garantieren die Furcht. Die Gruppen könnten sonst unsere Macht infrage stellen.“

      „Wir fegen sie hinweg, wenn wir die Horte vernichtet haben. Marov erledigen wir dazu. Vor zwanzig Jahren spähte er für uns die Familien aus. Jetzt steigt ihm zu Kopf, dass die Weisen ihn zum Ratsmitglied ernannten. Er stellt zu viele Fragen. Nein, die Neun werden dafür sorgen, dass Plawass unvorbereitet bleibt. Fällt der Hort, dann fällt auch Balidan.“

      „Hm.“

      „Was?“

      „Und wenn er nicht tot ist?“

      „Was soll das, Vorvo? Er ist tot! Verstanden! Tot, tot und tot!“

      „Warum schreist du, Lorov?“

      „Du ignorierst Fakten.“

      „Ich sorge nur vor. Meine Vorsicht hat uns soweit gebracht.“

      „Komm mir nicht so, kleiner Bruder!“

      „Er hat bisher alle Anschläge überlebt.“

      „Hör auf! Er kann die Kraft nicht nutzen. Er ist nicht gefährlicher als ein Kind.“

      „Weil er nicht weiß, was er ist.“

      „Und er darf es nie herausfinden. Was rede ich? Er wird es nie, weil er tot ist. Ihr Gift ist das Tödlichste, das wir kennen. Es gibt kein Gegenmittel. Er fiel in den Fluss und niemand sah ihn auftauchen. Es ist endlich vorbei. Begreife das doch endlich!“

      „Ja, wir kennen kein Gegenmittel. Was wissen die Schlamen oder die anderen?“

      „Er hielt sich nie länger als eine Stunde in einer Stadt auf. Er hat nirgendwo Kontakte aufbauen können.“

      „Das liegt aber an den-.“

      „Sei still! Benutze nie ihren Namen! Es hat lange gedauert und viele Tote, bis wir den Namen aus den Horten und der Jugend tilgten. Fang du nicht damit an. Er ist tot. Basta. Wir vernichten die Horte und herrschen über Balidan für immer.“

      „Lorov! Ich bitte dich doch nur an die-.“

      „Genug, kleiner Bruder! Die Unterredung ist vorbei. Ich bin der Ältere und gebiete. Entferne dich, starte mit dem, was immer du machen willst! Aber verschone mich mit deinen Hirngespinsten, Die-du-kennst-ihren-Namen kämen zurück. Ich habe es heute beendet - für immer.“

      Ich hörte Schritte, die sich entfernten.

      Kapitel 2

      Wellendonner weckte mich. Die kleine Mulde, in der ich lag, bot kaum Schutz vor der Gischt der Wellen. Warum Wasser belebend auf mich wirkte, wusste ich nicht. Im Gegensatz zu dem sauren Wasser in den Bergen, das gerade noch genießbar war, schmeckte Meerwasser süß und erfrischend. Die Mulde lag nicht hoch, um auszutrocknen, auch nicht tief, um überschwemmt zu werden. Ständig bestäubten mich kleinste Tropfen. Ich zwang mich wach zu werden, um mir klar zu machen, was mich überhaupt überleben ließ und was in Tawa geschehen war.

      Ein unsichtbarer Mann schwebte. Obwohl ich drei tiefe Furchen auf der Brust hatte, bezweifelte ich die Beteiligung magischer Vomenkrallen. Woher sollte ein Vomen Naverengift haben und das Gegengift nicht kennen? Nein. Der Alte war nach der Stimme mindestens zwei Meter höher über mir gewesen. Er hätte mich niemals aufschlitzen können. Vomen waren kleiner als ich. Mit dem Arm hätte er mich nicht erreicht. Etwas anderes mit drei Krallen verletzte mich und war bestimmt kein Mensch. Etwas tiefer und mein Herz wäre zerfetzt worden.

      „Sie haben stets Gift an ihren Krallen. Es gibt kein Gegengift.“

      Meine gesammelte Naverenspucke rettete mich. Das Blut der Naveren war giftig. Wenn der unsichtbare Lorov über Krallen anderer sprach, er selber mir nichts getan hatte, so musste etwas mir Unbekanntes und ebenso Unsichtbares mit drei Krallen meine Brust verletzt haben. Die sonderbarsten Gedanken knäuelten sich zu einem unentwirrbaren Knoten. Ich schüttelte mich, musste mich beruhigen. Nichts außer mir und mein Verstand half mir aus der Lage. Egal, was gestern geschehen war, egal, wie ich überlebt hatte. Ich war in Gefahr. Auf der anderen Seite der Klippe lag eine Stadt, die mich tot sehen wollte.

      Wusste der Vomen wirklich nicht, dass Naverenspucke das giftige Blut neutralisierte? Ich kannte nur ein Wesen, das einer Navere so nah wie ich kam. Eine Schwarzfeder. So nannte ich sie. Sechs Flügel, zwei riesige aus schwarzen Federn und vier aus durchscheinendem Leder, die die Flugarbeit verrichteten. Die schwarzen Flügel sah ich nie schlagen und überhaupt die Schwarzfedern sehr selten. Sie blieben fast nur am Himmel. Jedenfalls konnte ich sie sehen. Wenn sie zu Boden sanken, griffen sie Naveren an. Meist verloren die Luftriesen. Ich war ihnen nie näher als einige Kilometer gekommen. Ich haute mir auf die Wange. Ob Schwarzfeder oder nicht. Die ganze Gedankenraserei half mir nicht aus meiner Lage.

      Was kümmerte mich Lorov oder sein Bruder? Was hatte ich damit zu tun, ob sie Balidan beherrschen wollten? Nichts und wieder nichts. Ich konnte nicht kräfftern und wusste nicht, wer ich war. Ich hatte genug damit zu tun, um zu leben. Was interessierten mich die Intrigen und verrückten Pläne der Brüder?

      Ich befreite mich von meinen Taschen, entknotete das nasse Hemd. Die drei Furchen bluteten nicht mehr. Ich hatte noch drei volle Kolben. Einen öffnete ich. Es war wichtig ein zweites Mal Spucke auf die Kratzer zu streichen, auch wenn es schmerzhafter war als die Folter der Vomen. Fünf Schwarze, wenn ich die Frau dazu rechnete, waren notwendig, um mich zu Boden zu werfen. Früher genügte einer. Das sagte ich mir laut, um mich aufzubauen. Ich knotete das Hemd abermals fest um mich herum. Spucke und Wasser. Beide zusammen heilten meine Wunden. Je süßer umso schneller. Warum das so war, wusste ich nicht.

      Ich breitete meinen Mantel aus. Er bestand aus Schnapperhaut, die Nässe abwies. Drei Tage lag ich in der Mulde. Fünf Jahre Wildnis, permanent verwundet und mein innerer Antrieb, der mich nach Süden zog, hatten mich abgehärtet. Aller Speichel war aufgebraucht. Ganz verheilt waren die Kratzer nicht, aber sie schlossen sich. Auf jeden Fall kam bald die nächste Konfrontation mit einem oder einer Naveren. Sie wollten mich fressen. Ich brauchte die Spucke.

      Zumindest lag ich auf der richtigen Seite um weiter gen Westen und gen Süden zu kommen.

      Ich hangelte mich an der Klippe nach Westen entlang. Das raue Gestein ritzte Hände und Beine blutig. Mit zunehmender Dunkelheit stieg ich über die Kante. Tawa lag weit hinter mir. Wenn Lorov auf etwas saß, das schwebte und unsichtbar war, wollte ich viele Kilometer zwischen ihm und mir legen. Ich wanderte die Nacht durch. Eine schnarchende Naverensippe umging ich. Im Morgengrauen fand ich eine Nadelbaumgruppe und kletterte an den Dornen soweit hoch, dass Naveren erfolglos sprangen und kein Vogel von oben etwas sah. Ich entdeckte einen kleinen See, der die Bäume hier überleben ließ.

      Derart mit Wasser und Schutz abgesichert kam niemand an mich heran, was für meine derzeitige Lage zum Überleben wichtig war.

      Der alte Lorov war sich sicher, mich getötet zu haben, und hatte Angst davor, dass ich erfuhr, wer ich war. Dann wurde sein Gespräch mit dem Bruder seltsam. Es gäbe Leute, die auf mich warteten, für die ich eine Hoffnung sei. Warum vertrieben mich dann die Menschen aus den Städten, die ich betrat? Das machte keinen Sinn. Welcher Name durfte nicht genannt werden und wäre nun gelöscht in der Jugend?

      Sie