Ingo M. Schaefer

ARTIR - Krieger der Wahrheit


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Mein Magen wollte sich entleeren. Ich würgte sein Begehren nieder und spürte, dass ich mit der Frau und den Toten allein war.

      Ich zog mich aus dem Leichenhaufen, stand auf und beugte mich tief. Mit den Händen drückte ich die Schnitte zusammen, die brannten und bluteten.

      „Du stirbst“, stellte sie ohne Gefühl fest. „Er verschonte dich, weil er dich bereits vorher getötet hat. Die Krallen sind giftig. Es gibt kein Gegenmittel. Du bist tot. Verschwinde und stirb!“

      Das Gift brannte. Wenn die Bäume um mich herum zu wanken begannen, besaß ich eine kleine Chance. Aber ich hatte mir etwas vorgenommen, egal, ob ich starb. Meine Entscheidung galt bis zum Ende.

      Menschen verschiedener Gruppen, aber vor allem Schwarze, näherten sich uns. Gebeugt stand ich vor der Frau. Meine empfindlichen Ohren schmerzten bereits durch das Stimmengewirr der sich nähernden Menschenmenge. Da ich blutete, keine Waffen trug, konnten sie vieles vermuten, wie die vier Männer starben. Auf jeden Fall stand ich als Schuldiger fest.

      Die Vome - für mich Schlame - betrachtete mich interessiert. Sie atmete tief aus.

      „Warum nanntest du mich Schlame?“, murmelte sie, damit niemand mithörte. Sie sah wie jede andere Vome aus - außer für mich.

      „Weil ich genau das in dir sehe“, keuchte ich. „Du bist eine Schlame. Das ist die Wahrheit.“

      „Wahrheit?“, fluchte sie. „Die ist heutzutage nicht erwünscht. Du scheinst kein Schlamen zu sein. Für einen Delmen siehst du zu stattlich aus, obwohl du dich klein machst. Und ein Allmen hätte nie gewagt, mich zu beleidigen. Was bist du?“

      Ihre Haltung hatte mit einer Vome nichts mehr gemein. Ich spürte echtes Interesse und ging meinen Weg bis zum Ende.

      „Ich weiß nicht, was ich bin. Ich heiße Artir,“ und wollte gerade um Aufnahme bitten, als ihr Interesse durch eisige schmale Augen abgelöst wurde. Weder eine Vome noch eine Schlame sprach aus ihr, als ob ein uralter Zauber Besitz von ihr ergriff.

      „Artir? Du bist ein -.“ Etwas verschloss ihren Mund. Ihre Augen wurden groß. Sie schubste mich und trat nach mir aus.

      „Verschwinde aus der Stadt! Sofort!“

      Ich strauchelte, blieb verwundert stehen. Sie bückte sich, sammelte Kieselsteine und warf diese über meinen Kopf. Ich lief davon. Dabei legte ich die Hände schützend auf die Wunden. Einige Steine trafen die Beine. Ich kannte Schmerzlicheres.

      Tawa, die kleine Stadt, beherbergte einen monströsen Wahnsinnigen, aber vertrieb mich. Wütend auf mich selbst, weil ich wieder keinen Anschluss fand, rannte ich. Meine Brust schien sich aufzulösen, weil ich nach Luft schnappte. Nun begann ich zu stolpern. Einige Gifte hatte ich bisher überlebt. Das Gift der Naveren tötete besonders einfallsreich. Eine Stunde brannte die Wunde, schloss sich nicht. Die eintretenden Halluzinationen brachten in der Wildnis später den sicheren Tod. Als ich das erste Mal halluzinierte, besaß ich nur einen Versuch und fand das Gegenmittel.

      Verwendete der alte Vomen Naverengift? Ich starb oder lebte. Es gab keinen geeigneten oder falschen Zeitpunkt, um zu sterben. Der Tod geschah einfach. Es gab nichts, wovor ich mich fürchten musste.

      2

      Ich taumelte zu den abgelegten Sachen. Tasche aufreißen, selbst gebaute Kolben herausholen, Hemd ausziehen, erledigte ich in wenigen Lidschlägen. Ich öffnete den ersten Behälter und schöpfte mit zwei Fingern eine stinkende Masse heraus: Spucke aus dem Maul eines lebenden Naveren. Die blutenden Risse bestrich ich damit. Die leeren ausgehöhlten Aststücke fielen in den Beutel zurück. Es gab nur diesen Versuch. Mehr konnte ich für mich nicht unternehmen.

      Das Hemd wickelte ich als Verband um die Kratzer und knotete die Zipfel fest zusammen. Meine Knie knickten ein und ich erlebte die Umgebung schummriger. Die tiefe Schlucht drehte sich vor mir. Die Halluzinationen setzten also ein. Ich hörte Rufe und rennende Füße. Ich musste weg. In der Regel ließen die Bewohner mich in Ruhe, wenn ich die Stadtgrenze passiert hatte. Diesmal wollten sie meinen Tod.

      Oder halluzinierte ich diese Annahme? Der Nadelbaum vor mir bekam fünf, nein, sieben Stämme. Der schmale Felsstreifen, der mich zuvor sicher hierher führte, kippte schräg in den Strom. Wassermassen stiegen hoch bis an den Rand. Wie eine blaue Wand raste eine Riesenwelle die Schlucht entlang direkt auf mich zu und würde mich zerschmettern. Ich wischte das Trugbild fort, indem ich mir mehrmals ins Gesicht klatschte.

      „Hier sind Spuren.“ Eine männliche Stimme. Nicht der Unsichtbare. Fast sympathisch.

      „Wir müssen ihn finden. Helft ihm!“ Eine Frauenstimme. Vomia. In Sorge.

      Quatsch! Niemand sorgte sich um mich. Ich halluzinierte bereits. Das Gift. Ich schüttelte den Kopf, um die Benommenheit einfach loszuwerden. Sie jagten einen Schwerverletzten, weil sie nicht abwarten wollten, mir den Todesstoß zu geben. Wirkte die Naverenspucke? Ich warf mir die Taschen über, schob den Stock zwischen Riemenlaschen, damit ich die Hände frei hatte.

      Meine Ohren hörten sie. Sie waren fast da. Sehweite sei Kraftweite, hatte ich gehört. Wenn die mich sehen konnten und mit der Kraft lähmten, dann starb ich gewiss.

      Ich sprang in den Fluss, der mich zu den Schnappern ins Meer brachte.

      Wasser.

      Ich sank.

      Die Tiefe empfing ein zurückkehrendes verloren geglaubtes Kind.

      Klarheit.

      Die Menschen beherrschten das Land. Ich war definitiv einer. Warum liebte ich das Wasser, das Meer, Flüsse, Seen? Der Strom nahm mich auf. Kühlung. Wohltat. Meine Hände bewegten sich automatisch, um vorwärts zu kommen. Andere wären durch Kleidung und Taschen ertrunken. Ich war eins mit dem Wasser. Um mich herum tummelten sich die zahmen Fische wie Zartflos und Dicklips, die sich von Flusspflanzen wie das Schlinggras ernährten. Der Fluss versuchte sie zu nimmersatten Mäulern zu treiben. Ich war der einzige, der davon trieb.

      Ich konnte lange, sehr lange unter Wasser bleiben, und wusste nicht warum. Ich schätzte, wie flott ich dem Belt entgegen trieb, um vorbereitet zu sein, bevor die Schnapper kamen. Der Strom brachte Nährstoffe zum Belt. Dort nahmen die pflanzenfressenden Meeresfische, wie die Farben wechselnden Ohnezahns, die Nährstoffe auf. Je mehr sie fraßen, um so dunkler und unsichtbarer wurden sie. Dennoch bot jede Flussmündung Beute für Hafenschnapper.

      3

      Die Ohnezahns mehrten sich. Ich kämpfte gegen die Strömung und tauchte bis zu den Augen auf. Die Delmenhäuser, wie ich aus der Nähe nun sah, waren nicht verwaist sondern durch Brand zerstört. Die Dächer blieben unversehrt. Ich trieb am Schiffswrack vorbei, dass ich vom oberen Rand aus gesehen hatte. Es erzählte eine furchtbare Geschichte. Mit einem unsichtbaren mörderischen Wahnsinnigen wunderte mich das nicht. Einen zusätzlichen Rundblick wollte ich nicht riskieren und tauchte wieder.

      Die meterlangen Hafenschnapper jagten ihre Beute. Ihre Zähne rissen jedes Fleisch. Ich zog den Stock aus den Laschen und bewegte mich zum steilen inneren Felsenrand. Hinter dem Hafenbecken öffnete sich der Klippenspalt in eine blaue, dann schwarz werdende Tiefe.

      Ich blieb noch unbehelligt, weil ich nicht nach Beute aussah. Ich tauchte am Rand entlang auf den Spalt zu, hoffend, dass die Klippen des Belts zerklüftet waren. Viel Raum wollte ich eilig zwischen Schnapper, Menschen und mich bringen.

      Der Angriff kam prompt, als ich durch die Hafeneinfahrt trieb und im Belt aufatmen wollte. Zähne schossen auf mich zu - Stock hinein. Der Schnapper sank zuckend und blutend in die Tiefe. Ich schwebte im Wasser, hielt still. Andere jagten dem verletzten Fisch hintendrein. Ich tauchte auf. Jetzt erst schluckte ich das nasse Element. Süßlich. Ich trank gierig. Die kilometerlange zerklüftete Klippenwand erhob sich über mir. Ich sah eine Vertiefung. Dort musste ich hin. Ich zog mich hoch. Meine Knie gaben nach. Ich griff oft daneben, riss mir Hände und Füße blutig, bis ich in der kleinen Mulde lag, den Stock als Halt in der Wand verkeilt. Ich schlief sofort ein.