Karin Firlus

Gestrandet in Nairn


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hatte, war eine Festanstellung an einem Gymnasium in der Nähe. Bisher hatte ich immer nur Zeitverträge gehabt, die für ein halbes oder ein Jahr galten. Auch in diesem Jahr wies nichts darauf hin, dass sich in dieser Hinsicht etwas zum Besseren wenden würde. Anfang Juli, zu Beginn der Sommerferien, würde mein Zeitvertrag zunächst auslaufen. Und ob ich ab dem nächsten Schuljahr entweder arbeitslos sein würde oder, mit viel Glück, an irgendeiner anderen Schule einen befristeten Zeitvertrag bekäme, würde sich wohl, wie meist, erst einige Tage vor Ende der Ferien ergeben.

      Zwar herrschte grundsätzlich Lehrermangel, aber nicht in Englisch und Geschichte. Und genug Geld, um alle benötigten Lehrkräfte zu bezahlen, war auch nicht vorhanden. Also speiste man viele von uns Junglehrern mit Aushilfsstellen ab, die nie länger als maximal ein Schuljahr währten. Vor den Sommerferien war dieser Job dann beendet, was der Regierung ersparte, diese Lehrer über die Ferien bezahlen zu müssen.

      *

      Von Mai bis Anfang Juni war Korrekturzeit angesagt. Das hieß für Erik, dass ich wochenlang kaum ansprechbar war und praktisch keine Freizeit hatte. Ich saß nachmittags und an den Wochenenden am Schreibtisch und beschäftigte mich mit englischer Grammatik, der Umweltthematik in der Zehnten, dem amerikanischen Traum sowie diversen Epochen der europäischen Geschichte. Mir schwirrte der Kopf von Vokabeln, Grammatikformen und Jahreszahlen, und die Migräneanfälle, die mich seit dem Winter plagten, kamen seit einiger Zeit fast einmal pro Woche.

      Korrigieren war zeitintensiv und ermüdend, und wenn Erik dann wenigstens samstags abends mit mir ins Kino oder essen gehen wollte, war ich meist zu müde oder lustlos, weil ich im Geiste die Arbeiten vor mir sah, die sich auf meinem Schreibtisch türmten.

      Meine Kollegin Anna, die auch Geschichte unterrichtete, hatte zwar einen Festvertrag, aber nur für eine halbe Stelle. Sie beklagte sich, weil sie gerne eine ganze gehabt hätte.

      Immerhin hatte sie wesentlich mehr Freizeit als ich, und ich war mir nicht sicher, ob ich nicht gern mit Anna getauscht hätte. Die Unsicherheit, an jedem Schuljahresende erneut auf eine Anstellung hoffen zu müssen, war zermürbend und irgendwie auch erniedrigend.

      Als ich mein Studium begonnen hatte, hatte Lehrermangel geherrscht, und ich war davon überzeugt gewesen, einen krisensicheren Job ausgewählt zu haben. Inzwischen fragte ich mich, ob ich nicht doch hätte eine andere Berufswahl treffen sollen. Obwohl ich einen guten Abschluss hatte, brauchte man offensichtlich meine Arbeitsbereitschaft nicht. Diese Tatsache nagte gewaltig an meinem Selbstbewusstsein.

      Als Ende der dritten Juniwoche dann endlich die Zeugniskonferenz stattfand und ich wusste, dass in diesem Schuljahr keine Korrekturen mehr anstehen würden, war ich erleichtert. Prompt, wie so oft, wenn ich mich entspannte, bekam ich während der Konferenz wieder Migräne und am nächsten Tag heftigen Schnupfen.

      Ich war wieder einigermaßen fit, als die Schüler der zwölften Stufe in der zweitletzten Woche vor den Ferien auf Studienfahrt gingen, und da ich in einem Zwölfer LK Englisch unterrichtete, hatte mein Kollege Hartmut, der ihnen Französisch beibrachte, mich gefragt, ob ich ihn auf der Fahrt in die Ardèche begleiten würde.

      Etliche Schüler würden dort Kanufahren, andere wandern. Da ich keine Lust hatte, im Unterricht Schüler eine Woche lang sinnvoll zu beschäftigen, die so kurz vor den Ferien keinen Bock auf Schule mehr hatten, sagte ich zu.

      Eigentlich wäre ich lieber mit Anna nach Madrid gefahren, aber diese Reise kam nicht zustande. Also wurden wir beide auf andere Fahrten aufgeteilt. Letztendlich fuhr Anna überhaupt nicht, da sie einen Hexenschuss hatte – zumindest behauptete sie das einen Tag, bevor es losging.

      Ich kam einigermaßen entspannt zurück und freute mich auf eine lässige letzte Unterrichtswoche und, vor allem, auf mehr Zeit mit Erik.

      Aber er reagierte seltsam abweisend auf meine Annäherungsversuche, und mir wurde bewusst, dass wir schon seit einigen Wochen nicht mehr miteinander geschlafen hatten. Ich setzte meine Hoffnung auf den gemeinsamen zweiwöchigen Urlaub, den wir Mitte der Ferien geplant hatten.

      Wir wollten einfach Richtung Loiretal fahren, um uns die Schlösser dort anzusehen, und an einem Plätzchen, das uns gefallen würde, bleiben.

      *

      Am letzten Schultag waren noch einige von uns Kollegen ein Stündchen im nahen Biergarten. Anna saß dabei, ohne sich zu unterhalten, und nippte an einem Glas Orangensaft. Ich dachte bei mir, sie sieht so ferienreif aus wie ich mich fühle. Ich trank eine Rieslingschorle und ging recht beschwingt nach Hause. Jetzt waren erst einmal wohl verdiente Ferien angesagt und ich hatte vor, sie weidlich zu nutzen.

      Kurz nach zwölf kam ich in unserer Wohnung an und schenkte mir in der Küche gerade ein Glas Wasser ein, als Eriks Handy vibrierte. Es lag direkt vor mir auf dem Tisch, also schaute ich automatisch auf das Display. Es zeigte das lachende Gesicht von Anna.

      ‚Nanu‘, dachte ich, ‚was will sie denn von Erik‘? Reflexartig und ohne darüber nachzudenken, was ich da eigentlich tat, las ich die SMS:

       „Erik, ruf mich an, sobald du kannst. Ich bin eine Woche drüber …“

      Ich starrte auf das Display und las die Nachricht noch einmal, als Erik in die Küche kam, ein Handtuch um die Hüften geschlungen, die Haare vom Duschen noch feucht und verwuschelt.

      „Oh, du bist schon da?“ Er klang nicht begeistert.

      Wortlos hielt ich ihm sein Smartphone mit Annas SMS unter die Nase.

      Sein Gesicht verfärbte sich und er stammelte: „Lena, hör zu, ich wollte schon länger mit dir reden. Ich kann dir das erklären.“

      „Was gibt es da noch zu erklären?“ Ich spürte, wie aus dem Nichts heiße Tränen in mir aufstiegen. „Offensichtlich habe ich nicht gesehen, was sich direkt vor meinen Augen abspielte. Ich hätte allerdings nie für möglich gehalten, dass du mich so schamlos betrügen würdest, und das auch noch mit einer Kollegin. Mein Gott, ausgerechnet mit Anna! Und jetzt hast du sie geschwängert, ja? Na denn, ich wünsche der jungen Familie viel Glück!“

      Ich drehte mich abrupt um und rannte ins Schlafzimmer. Dort schloss ich die Tür hinter mir ab, damit er nicht hereinkommen konnte und die Tränen sah, die unkontrolliert über meine Wangen liefen. Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht gönnen!

      Ich warf mich aufs Bett und heulte. Irgendwann dachte ich: ‚Und was wird jetzt? Natürlich werde ich nicht mit ihm in Urlaub fahren‘. Und reden wollte ich auch nicht mit ihm, das brachte nichts. Er hatte mich betrogen, das konnte ich nicht hinnehmen.

      Ich setzte mich auf und mein Blick fiel auf die Kommode, wo das Foto von uns beiden stand, wie wir glücklich in die Kamera lachten, hinter uns türkisfarbenes Meer. Wir hatten uns in unserem ersten gemeinsamen Urlaub auf Kreta fotografieren lassen.

      Da wurde mir mit einem Schlag bewusst, dass diese Zeiten der Vergangenheit angehörten. Ich würde mit Erik nie mehr glücklich lachen.

      Ich stand auf und wie in Trance begann ich zu packen. Keine Minute länger wollte ich mit einem Mann zusammen sein, der mich betrog und dazu noch mit einer anderen ein Kind bekam, das eigentlich hätte unseres sein sollen.

      Ich versuchte krampfhaft, das Bild vor meinem inneren Auge wegzuschieben, das mir gnadenlos Anna zeigte, die lustvoll stöhnend unter Erik lag, sein Kopf in ihren üppigen Brüsten vergraben.

      Während ich wahllos Unterwäsche, Shirts und Hosen in meinen Koffer stopfte, hörte ich meine Mutter sagen: ‚Ach Kind, ich hatte mich so darauf gefreut, bald Großmutter zu werden. In deinem Alter wird es langsam Zeit…‘

      Dabei wurde mir bewusst, dass ich schon länger nicht mehr mit ihm unbeschwert glücklich war. Ab dann war nur eine Frage in meinem Kopf: „Wie ist das passiert?“ Ich hatte unsere zweijährige Beziehung immer als zufriedenstellend und problemlos eingestuft.

      Später, auf der langen Fahrt in den Norden, wurde mir klar, dass „nur zufriedenstellend“ keine optimale Basis für eine gemeinsame Zukunft war. Aber an dem Mittag, als ich packte, konnte ich nicht verstehen, was zwischen uns schief gelaufen war.