K. Uiberall-James

ZUGVOGEL


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Emilys Haus. ‚Er sieht aus wie mit Puderzucker bestäubt; komisch, dass die herabfallenden Schneeflocken alle kleben bleiben.’ Amadou öffnet vorsichtig das Fenster, um den Schnee auf der Fensterbank anzufassen. Verwundert stellt er zunächst fest, dass die Luft gar nicht so kalt ist, wie er vermutet hat. Er greift eine kleine Handvoll der weißen Pracht und leckt vorsichtig daran. ‚Das schmeckt ja wie Wasser.’ Gleichzeitig spürt er, wie die kleinen Kristalle prickelnd auf seiner Zunge schmelzen und ihm das Schmelzwasser aus der Hand kalt und ungemütlich den Arm herunter läuft.

      „Frühstück ist fertig. Kommst du?“, ruft Emily aus der Küche. Amadou schließt eilig das Fenster, springt in seine Jeans, zieht das Bettlaken glatt und legt die Bettdecke ordentlich zusammen. ‚Das Beste am Schnee ist, dass die Menschen gezwungen sind, alles langsamer zu machen’, sinniert er zufrieden und freut sich auf etwas Heißes zu trinken und auf sein späteres Treffen mit Emily und den Kindern im Park.

       Abstecher zu den Freunden

      In der afrikanischen Enklave im vierten Stock gibt Malik gerade sein Wissen über Schnee mit einem Becher Kaffee in der Hand an Sekou weiter.

      „Toucou und Ibrahim werden heute wohl zu spät zur Arbeit gekommen sein; um fünf Uhr morgens sind die Straßen noch nicht geräumt und alle öffentlichen Verkehrsmittel haben mit ziemlicher Sicherheit Verspätung“, und zu Sekou gewandt: „Aber keine Sorge, du hast es nicht weit zum Restaurant und bis zu meiner Schicht um 14 Uhr dürfte die Stadt das Chaos in den Griff bekommen haben, oder der Schnee ist einfach geschmolzen.“

      Sekou antwortet nicht. Er ist ganz versunken in den Anblick dieser verzauberten Stadt unter ihnen, die am helllichten Tag unter einer dicken weichen Decke zu schlafen scheint. Kein Geräusch dringt nach oben. Sekou schaut in den schiefergrauen Himmel und beobachtet den Weg der tanzenden Schneeflocken. „Komisch, die wirbeln ja alle chaotisch durcheinander, ganz anders als der Regen“, und ihm wird ein wenig schwindelig. Ein ganz seltsames helles Licht liegt über den Dächern. Hier und da brennt vereinzelt noch Licht hinter einem Fenster.

      Malik gesellt sich zu Sekou und legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Ja, das sieht schön aus“, gibt er in einem Anfall von Verständnis und Romantik zu, „solange der Schnee liegen bleibt.“

      Er bleibt nicht nur liegen, es schneit sogar noch weiter. Gegen zehn Uhr dreißig taucht ein aufgekratzter Amadou in der Wohngemeinschaft auf.

      „Wie siehst du denn aus?“, platzen Malik und Sekou lachend heraus. Amadou nimmt die quietschbunte Harlekinmütze mit Trotteln ab und grinst.

      „Ja, die ist cool nicht? Hab’ ich von Emily“, und klopft die Schneeflocken ab.

      „Wohl eher von ihren Schützlingen; aber hey, den Schnee musst du draußen abklopfen. Du machst ja den ganzen Flur nass!“ Betroffen starrt Amadou auf den kleinen See, der sich zu seinen Füßen gebildet hat. Die ganze weiße Pracht hat sich einfach aufgelöst. Schnell holt er aus dem Badezimmer einen Lappen und wischt die Pfütze weg. Die vom Tauwasser tropfenden Stiefel stellt er auf eine alte Zeitung.

      „Igitt, ich habe ja ganz nasse Strümpfe“, jammert er, „das habe ich gar nicht bemerkt.“

      Malik reicht ihm einen Becher mit Milchkaffee und sagt: „Das ist die Kehrseite vom Schnee: Irgendwann taut er auf und hinterlässt nasse Schmutzspuren.“

      Amadou hört nur halb hin; er zieht sich trockene, wärmere Sachen an und will gleich wieder weg. „Ich bin mit Emily und den Kindern im Park verabredet. Sie wollen einen Schneemann bauen, was immer das auch ist. Ich wollte nur eben Bescheid sagen, damit ihr euch keine Sorgen um mich macht. Wir sehen uns dann heute Abend gegen 23 Uhr, okay?“ Bittend schaut er sie an; ein wenig plagt ihn das schlechte Gewissen, weil er heute seinen häuslichen Pflichten nicht nachkommt, aber Malik zeigt wieder einmal Verständnis; bei solch einem außergewöhnlichen Tag.

      „Hau schon ab und viel Spaß.“

      Es schneit den ganzen Tag und am Abend erzählt ein strahlender Amadou von seinen Erlebnissen im Schnee. Emily und die Kinder haben ihm unter lautem Gejauchze beigebracht, was eine Schneeballschlacht ist, alle haben sich im Schnee gewälzt und Emily hat die Gelegenheit genutzt, ihm eine echte Schneeabreibung zu verpassen. Danach haben sie einträchtig zusammen einen großen Schneemann gebaut.

      „Ich finde den Winter gar nicht mehr so schlimm“, meint Amadou abschließend und schickt sich an, sein Bettzeug für die Nacht zu arrangieren.

      „Ja, ja, der Schnee“, grinst Sekou und schaut seine Mitbewohner bedeutungsvoll an.

      Am nächsten Morgen steht Amadou früh auf, und nach einem Blick aus dem Fenster, wo sich noch das gleiche Bild bietet wie gestern, beginnt er gut gelaunt und hyperaktiv alle anfallenden Hausarbeiten zu erledigen. Er ist überall zugleich; in der Küche bereitet er sorgfältig das Frühstück zu für Ibrahim, Malik und sich - Toucou ist schon weg - im Bad läuft eine Waschmaschine und im Wohnzimmer räumt er zwischendurch das Bettzeug weg.

      „Wie läuft es denn so mit Emily?“, fragt Sekou seinen Freund und nimmt ihm die schwere Teekanne ab.

      „Super.“

      „Und was ist mit Miriam?“

      „Was soll mit ihr sein? Ich liebe sie und werde sie später einmal heiraten.“ Diese Logik kann und will Sekou nicht nachvollziehen. Kopfschüttelnd wendet er sich ab.

      Von nun an verbringt Amadou die Nachmittage und Nächte bei Emily. Nach dem Frühstück mit ihr fährt er in die Wohngemeinschaft und erledigt sorgfältig seine ihm zugeteilten Arbeiten, nachmittags kocht er für Emily und sich oder er bügelt mit Begeisterung ihre T-Shirts. Sie sind glücklich.

      Denkt er jedenfalls.

      Eines Morgens fühlt Amadou, dass es gar nicht mehr so kalt ist. ‚Vielleicht kommt jetzt der Frühling?’, denkt er und eilt erwartungsvoll mit bloßen Füßen ans Fenster. „Oh nein“, ruft er enttäuscht aus und lockt damit eine erschrockene Emily aus der Küche.

      „Was ist passiert?“

      „Leider schade, du schauen“, klagt er und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger aus dem Fenster.

      „Und ich dachte schon, es ist etwas Ernsteres“, lacht Emily und fährt im erklärenden Ton fort: „das ist ganz normal; wenn die Temperatur ansteigt, sackt der Schnee zusammen und schmilzt. Dadurch verliert er seine Farbe und sieht gläsern und grau aus, und irgendwann ist er nur noch Wasser.“ Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und haucht ihm tröstend einen kleinen Kuss auf die Wange. „Sei nicht traurig, das musste so kommen.“ Sie geht wieder in die Küche und Amadou verschwindet lustlos im Bad.

      Als sie sich draußen vor Emilys Haus trennen wollen, rutscht Amadou auf dem glasig gefrorenen Schnee aus und Emily kann ihn gerade noch am Arm halten. „Du musst aufpassen, wo du hintrittst“, sagt sie mütterlich und erklärt ihm Vorort, welcher Schnee rutschig ist und welcher nicht. „So, jetzt muss ich aber los, kommst du alleine klar?“ Er nickt und setzt äußerst vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ganz geheuer ist ihm das glitschige Nass nicht, und vorsichtshalber hebt er seine Arme ein wenig, um bei Gefahr sein Gleichgewicht ausbalancieren zu können.

      Amadou ist heilfroh, als er unversehrt, aber mit erheblicher Verspätung endlich die Wohngemeinschaft erreicht und dort nur Ibrahim antrifft. „Ich gehe heute keinen Schritt mehr nach draußen“, tönt er entrüstet, als er seine nassen Stiefel auszieht, „die Straße ist ja gefährlich!“

      Ibrahim schaut belustigt von seinem Deutsch-Lehrbuch hoch. „Hallo Amadou, ich wünsche dir auch einen guten Morgen“, ist seine betont ruhige Antwort auf die ‚Katastrophenmeldung’. Eigentlich will Amadou noch weiter ins Detail gehen über seine lebensgefährlichen Erfahrungen mit Schnellglätte im Straßenverkehr, aber Ibrahim wirkt so abweisend, dass er sich lieber sofort an die Arbeit macht. Er legt eine Musikkassette in den kleinen Rekorder und beginnt zunächst mit dem Abwasch. Als er damit fertig ist, fängt er an, im Wohnzimmer herumzuwirbeln.

      „Kannst du das nicht machen, wenn ich zur Arbeit gehe?“, maßregelt Ibrahim