Mel Mae Schmidt

Die vom glänzenden See


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sich einige Zeit ohne Arbeit über Wasser halten können.

      Als der Zug anhielt, stieg Lavinia aus und betrat ein sehr großes und schickes Gebäude. Es gehörte einer großen Rechtsanwaltskanzlei namens FRANKENBERG & PARTNERS. Insgesamt arbeiteten dort rund 20 Rechtsanwälte und jede Menge Rechtsanwaltsfachangestellte. Unter letzterem befand sich auch Lavinia. Man würde sie also nicht vermissen, wenn sie gefeuert würde, da bei einer unübersichtlichen Anzahl von Rechtsanwaltsfachangestellten eine mehr oder weniger gar nicht auffallen würde.

      Lavinia betrat den Fahrstuhl und wurde in das achte Stockwerk gebracht. Dort stieg sie aus und lief sofort ihrem Chef, Herr Rechtsanwalt Frankenberg, über den Weg. Dieser schaute sie mit finsterem Blick an und sie machte sich auf das Schlimmste gefasst.

      Herr Frankenberg räusperte sich und baute sich selbstsicher vor ihr auf. „Guten Morgen, Frau Normandell“, begann er mit tiefer rauchiger Stimme. „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Genau wie in den letzten paar Tagen. Ich weiß nicht so genau, ob Sie es in Ihrem Arbeitsvertrag gelesen haben, aber die Arbeitszeit bei uns fängt pünktlich um acht Uhr am Morgen an.“ Er sah sie kühl an. Lavinia nickte.

      „Ja, Herr Frankenberg, das weiß ich.“

      Herr Frankenberg zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ach tatsächlich? Ist dem so? Das würde ich nämlich nicht meinen, wenn man mal auf die Uhr sieht und weiß, dass Sie in den letzten 2 Stunden noch nicht anwesend waren, was bedeutet, dass Sie entweder unsichtbar gewesen sind oder erst jetzt am Arbeitsplatz angekommen.“ Er seufzte genervt.

      Lavinia wurde es mulmig zumute.

      „Mein Zug hatte Verspätung“, gab sie kleinlaut zur Antwort. So große laute breite Männer mit tiefer angsteinflößender Stimme machten ihr stets Angst.

      „Soso, Ihr Zug ist also Schuld. Dann nehmen Sie einen früheren. Aber nicht mehr zu uns, Frau Normandell. Diese Kanzlei kann keine Mitarbeiter gebrauchen, die stetig zu spät kommen. Und dass sie weiterhin zu spät kommen, auch wenn man es ihnen mehrfach sagt, dass dies so nicht geht, gehört auch nicht hierher.“

      Lavinia wagte es kaum ihn anzusehen.

      „Wissen Sie, was jetzt folgt, Frau Normandell?“ Herr Frankenberg schien belustigt. „Mir wird gekündigt?“, riet Lavinia kleinlaut.

      „Bingo!“, rief Herr Frankenberg laut aus. „Ihre Bemühung, heute hier zu erscheinen, war also umsonst. Ich habe, so wie der Zufall will, ihre Kündigung bereits aufgesetzt und ausgedruckt. Hier haben Sie sie. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute, Frau Normandell.“ Mit diesen Worten hielt er Lavinia die Kündigung entgegen, die sie nahm und er belustigt von dannen schritt.

      Lavinia seufzte. Sie hatte es ja geahnt …

      „Hey Lavinia, wie geht´s?“ Lavinia drehte sich um. Ihr bester Freund Karl Eixner kam auf sie zu und Lavinia lächelte. Er war einer der Anwälte des Hauses und der Einzige, der auf Lavinias Seite stand. Karl blieb vor ihr stehen und erkannte an Lavinias Gesichtsausdruck, dass etwas nicht stimmte.

      „Mir wurde gerade gekündigt“, erriet Lavinia Karls Frage. Dieser sah sie erstaunt an. „Gekündigt? Aus welchem Grund denn? Du warst doch immer so gut!“

      Lavinia besah sich die Kündigung genau und entgegnete: „Ich komme immer zu spät.“

      Karl sah sie verwirrt an. „Was war denn der Grund für deine Verspätungen? Die Bahn?“

      Lavinia nickte. „Jepp.“

      Karl blickte sie mitleidig an. „Ach Mensch, das ist wirklich schlimm. Was willst du denn jetzt machen? Wenn du nicht mehr hier arbeitest, werde ich dich sehr vermissen. Du warst die Einzige, die wusste, wie ich meinen Kaffee haben will und die vernünftig Dokumente kopieren und einscannen kann.“ Geknickt stand er vor ihr.

      „Du tust ja gerade so, als hätte man dir gekündigt und nicht mir“, sagte Lavinia und grinste. Karl grinste nun auch. „Du tust mir einfach leid, Lavinia. Das ist alles. Und ich werde dich vermissen.“

      Lavinia nickte. „Ja, ich dich auch. Aber ich habe bereits heute Morgen Pläne für mein weiteres Leben gemacht.“

      Karl sah sie erwartungsvoll an. „Die da wären?“

      Lavinia sah ihm in die Augen. „Ich gehe auf Spurensuche nach meiner Vergangenheit. Du weißt ich bin Waise. Ich will herausfinden, woher ich komme, wer meine Familie war.“

      Karl lachte. „Ja, das klingt wirklich interessant! Aber vielleicht brauchst du hierfür ja juristische Unterstützung? Soll ich mitkommen?“

      Lavinia sah ihn verwirrt an. „Wie meinst du das? Du bist doch hier gebunden und musst arbeiten.“ Karl zwinkerte ihr zu. „Theoretisch ja. Aber ich habe Urlaub bekommen. Zuerst nur zwei Wochen. Ich weiß nicht, wie lange deine Spurensuche dauern wird. Ansonsten muss ich mir etwas anderes überlegen, damit ich ebenso auf längere Abenteuerreise gehen kann.“

      Lavinia lachte. „Du willst mich also wirklich begleiten? Ich weiß nur nicht, wohin es gehen wird. Ich habe überhaupt keinen Anhaltspunkt.“

      Karl zuckte die Achseln. „Das macht mir nichts. Ich komme nach der Arbeit zu dir, dann können wir Weiteres besprechen.“

      * * *

      Am frühen Abend, als Lavinia in ihrer Wohnung gemütlich auf ihrem Sofa saß und sich in ihre flauschige Decke vor dem Fernseher kuschelte, klingelte es plötzlich an der Türe. Das muss Karl sein, dachte sich Lavinia und als sie ihn durch den Spion erkannte, öffnete sie lächelnd die Wohnungstüre.

      „Wie kamst du denn ins Gebäude?“, fragte Lavinia. Karl grinste.

      „Dein alter Nachbar hat mir die Türe aufgehalten, da er vor mir reinkam.“

      Lavinia nickte. „Schön. Komm rein und mach es dir gemütlich.“

      Karl trat ein und kam ins Wohnzimmer, wo er die kuschlige Ecke entdeckte, die sich Lavinia vor dem Fernseher gebaut hatte. „Oh, wie ich sehe, wolltest du es dir gerade schön gemütlich machen. Darf ich mich dazu gesellen?“ Karl sah Lavinia belustigt an und diese zuckte die Achseln. „Wenn du willst. Eigentlich war das Gemütliche und Kuschlige nur für mich gedacht, aber tu was du nicht lassen kannst.“ Sie sah ihn herausfordernd an.

      Karl lachte. „Wir könnten uns ja gemeinsam unter diese Decke kuscheln und es uns gemütlich machen.“

      Lavinia lachte nun auch. „Na ich weiß nicht, ob man sowas mit seinem besten Freund tut oder tun sollte. Es kommt mir etwas zu viel vor.“

      Karl tat beleidigt. „Och Livi, sei keine Spielverderberin. Freundschaftliches Kuscheln ist wohl nichts zu nahes, oder?“

      Lavinia dachte nach. „Keine Ahnung. Für mich wäre es zu viel. Aber wollen wir jetzt diskutieren oder willst du dich hinsetzen und mit mir überlegen, wie ich meine Ahnenforschung beginnen soll?“

      Karl hob beschwichtigend beide Arme und setzte sich aufs Sofa, wo er die Kuscheldecke beiseitelegte. Er räusperte sich.

      „Hast du denn inzwischen einen Anhaltspunkt gefunden oder willst du meine Idee hören?“

      Lavinia setzte sich nun neben ihn aufs Sofa und zog die Kuscheldecke über ihren Oberkörper. „Lass hören. Ich habe nämlich gar keine Ahnung!“ Erwartungsvoll sah sie ihn an. Dieser genoss diese kindlische Haltung an Lavinia, die sie gelegentlich an den Tag legte, wenn sie sich über etwas freute oder wenn sie so gespannt auf etwas war, dass sie es kaum noch erwarten konnte. „Nun“, begann Karl mit quälender Spannung, „mir kam in den Kopf, dass du ja Waise bist. In einem Heim aufgezogen worden. Wäre es da nicht naheliegender, dass man zunächst dort als Erstes beginnt, um auf Spurensuche zu gehen?“ Er sah Lavinia an, die überrascht die Augenbrauen hob.

      „Und deswegen bist du Anwalt geworden und nicht ich, Karl! Deine Kombinationsgabe ist bemerkenswert! Besser noch, du wärst Detektiv geworden!“ Lavinia lachte und Karl grinste breit. „Oh danke dir.“

      „Aber … es gibt da ein Problem mit deiner Idee, Karl.“

      Karl sah sie nun ernst an. „Welches Problem?“

      Lavinia schluckte. „Ich möchte