Helge Hanerth

MPU Protokolle


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zu beenden, wenn man sich vergeblich um einvernehmliche Lösungen bemüht hätte. Nur in der Schwangerschaft und kurze Zeit danach, war mir das ein Tabu. Für das Arbeitsleben und auch privat gilt, dass es immer eine Alternative gibt für die man sich entscheiden kann, für eine andere Firma wie für einen anderen Partner. Es gab also außerhalb der Schwangerschaftszeit, keinen Grund nicht nach dem zu greifen, was einen glücklicher gemacht hätte.“

      „Wie wirkte sich die Zäsur durch den Führerscheinentzug auf Ihr Leben aus?“

      Nach kurzem Überlegen erwiderte ich: „Stillstand! Ich fühlte mich ausgebremst. Die Leere war unerträglich. Ich wurde nicht gefordert. Ich drehte nur noch an kleinen Rädchen. Es war ein Gefühl, als wollte man eine neue Sprache lernen, z.B. Dänisch, und im Unterricht beginnen sie in aller Ausführlichkeit mit dem kompletten Alphabet, das nur in kleinen Teilen anders ist als im Deutschen. So etwas ist doch nicht auszuhalten. Ich pflegte deswegen meine Hobbys in einer Weise wie lange nicht mehr. So gewann mein Leben wieder an Fahrt.“

      „Haben sie da gefühlt, das Trinken eine Alternative sein könnte?“ Meine Antwort war klar: „Nein – es gab ja genug Alternativen, die potenter waren. Und ich hatte nicht vergessen, dass Alkohol kein vollständiger Ersatz für einen aktiven Kick sein konnte. Die Scheinwelt des Alkohols hielt nie lang und führte nur in den Schlaf. Spätestens nach einem Kater war alles wieder so wie vorher. Nur mit aktivem Handeln schaffe ich. Selbst im Vergleich zum simplen Joggen, verlor Alkohol hinsichtlich seines Spaßfaktors. Joggen ist eben auch ein aktiver Kick.“

      „War und ist ihr Trinkverhalten überlegt, vielleicht sogar kontrolliert?“

      „Ja, denn ich trank nur nach Plan. Jeden Abend mache ich mir Gedanken über den nächsten Tag. Meist begann ich mit einer Reflektion des abgelaufenen Tages. Ich nenne das meinen sokratischen Monolog. Mit einem Plan im Hinterkopf gehe ich dann in den folgenden Tag. Größere Änderungen gehen dann nicht mehr. So etwas müsste ich erst mal überschlafen. Sokratische Monologe ergeben sich ganz automatisch beim Einschlafen, wenn man im Bett liegend den Tag Revue passieren lässt. Man genießt die frische Erinnerung an das Getane und freut sich auf die Fortsetzung am nächsten Morgen. Der Erinnerung folgen dann Verbesserungsvorschläge und Planungen.

      Der sokratische Monolog ist ganz nebenbei eine selbstdiagnostische Methode mit integrierter Evaluation. Schließlich ist nur das geprüfte Leben wert gelebt zu werden. Ich will meine begrenzte Lebenszeit nutzen. Außerdem macht es Lust aufs Leben, wenn ich den Genuss des Erlebten durch Erinnerungsschleifen möglichst lange nachwirken lasse.

      Nie entschied ich mich unter Alkoholeinfluss ein Fahrzeug zu führen. Die Alkoholfahrt war das Ergebnis einer nüchternen Überlegung. Ich wollte beim Termin mit dem Chef am nächsten Tag ein flaschenfreies Auto haben. Das entsprach meinen Ordnungsprinzipien. Ich stieg nach schnellem Trinken sofort und noch ohne Alkoholwirkung ins Auto im Glauben ohne Blutalkohol zu Hause anzukommen, wenn das Zeitfenster klein blieb. Nur mit dieser Möglichkeit konnte ich überhaupt von meinem normalen Procedere abweichen.

      Andere Regeln verboten das Lagern von Alkohol im Haus oder legten Trinkmengen zwingend bereits am Vortag fest. Trinken wurde so zu einer bewussten und als sicher empfundenen Entscheidung. Die Regeln legitimierten mich, jede eventuelle Versuchung von mir zu weisen. Dazu sind doch Regeln da.

      Die Entscheidung zu trinken fiel immer am Arbeitsende. Zu erst musste ein Tageswerk geschaffen werden, das zum Trinken berechtigte. Für jedes Trinkereignis musste Alkohol neu gekauft werden. Der wurde in zwei bis drei Dosen aufgeteilt. Die erste Dosis trank ich im Auto in der Garagenauffahrt oder in der Garage. Danach stellte ich mein Fahrrad hinter das Auto und schloss das Garagentor. Wollte ich die zweite oder dritte Dosis konsumieren, musste ich in die Garage gehen. Dieser Umstand zwang vorher zur Beantwortung der Frage, ob das denn wirklich sein musste. Um dem Wunsch nach einer weiteren Dosis nachzugeben, hätte ich beim Öffnen der Garage mein Fahrrad griffbereit vorgefunden. Die Entscheidung das Auto für den Kauf weiteren Alkohols zu nehmen, wäre nur möglich geworden, durch das absichtliche Wegschieben des Fahrrads. Eine solche Entscheidung wäre sehr dumm gewesen. Es gab eine Tankstelle und einen Kiosk in kurzer Entfernung.

      Kontrolle ist mir in jeder Beziehung wichtig. Sie ist das beherrschende Merkmal für ein selbstbestimmtes Leben. Ich denke also bin ich. Wobei denken immer eine Einheit bildet mit Kontrolle. Reflektion und philosophische Redundanz sind die Basis für autonomes Handeln. Nur wenn sie gegeben sind, fühle ich mich sicher und souverän. Deswegen lasse ich mich nicht auf ein Abenteuer ein, dessen Ausgang ungewiss ist. Ich schließe ungerne eine Tür hinter mir, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet. Beim Surfen in der Brandung oder beim Fallschirmspringen beispielsweise, gibt es deswegen klare Grenzen. Aber gerade beim Gleitschirmfliegen wo ich weniger Erfahrung habe, sehe ich mich deswegen als bekennenden Sonntagsflieger, der natürlich nur bei Schönwetter fliegt.“

      Ich erzählte weiter, dass Kontrolle mir Freiheit gebe. Wenn die sich gehen lässt, läuft sie Gefahr sich in Freiheit zu verlieren und trotz maximaler Freiheit sich auf die eine Freiheit, zum Beispiel sich zu betrinken, zu reduzieren. Friedrich Nietzsche hat das bestätigt mit seinem Zitat, dass erst das bewusste Beschränken der Freiheit, also ihre Kontrolle den Blick freihält für die Freiheit neben der Freiheit (Vgl. Nietzsche, Friedrich: „Sämtliche Werke“, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin 1980).

      Mit solchen Erkenntnissen schaffe ich durch Kontrolle die Sicherheit, die ich im Leben brauche. Das tue ich schon von Kindheit an. Als Kind half mir Kontrolle Fehler zu vermeiden und Leistungen zu optimieren. Zur katholischen Fastenzeit vor Ostern half mir Kontrolle die Erwartungen der Erwachsenen zu erfüllen. Natürlich verweigerte ich vier Wochen lang sämtliche Süßigkeiten. Das musste niemand überwachen. Ich hatte geradezu Spaß an Kontrolle und somit eher ein Problem damit aufzuhören. Ich fühlte Macht in mir, wenn ich Kontrolle hatte.

      Kontrolle ist bei mir ein mächtiges Instrument, mich vor selbstverschuldeter Unmündigkeit zu schützen. Ich genieße es. Ich genieße diese Kraft, die einen mentalen Ursprung hat. Ihr fehlt etwas das Körperliche. Das geht aber in Ordnung. Als Teenager mochte ich keinen Sex. Meine leidenschaftlichen Gefühle machten mir Angst. So bin ich tatsächlich bei einer ersten Möglichkeit auf Sex aus dem Zimmer einer Freundin geradezu geflüchtet. Danach habe ich auf Jahre meine Enthaltsamkeit fortgesetzt. Mit Leistungssport gelang es mir gut, Leidenschaft, die mein Hirn und meine Kontrolle auszuschalten drohten, zu bändigen.

      Das besondere an der Leidenschaft im Sport ist, das sie andere Farben hat. Sie macht wach und aufmerksam. Man ist ganz besonders konzentriert. Ich kann dann leichter knifflige Aufgaben lösen. Heute ist Sex für mich okay. Es ist mir eine Routine geworden. Routinen geben in ihren Wiederholungen Kontrolle. Wenn die sichergestellt ist, darf es auch wieder kleine Ausbrüche von Leidenschaft geben. Das wirkt sich auch auf mein Trinkverhalten aus. Auch deswegen kann ich nicht so einfach weitertrinken, wenn ich den gewohnten Pegel erreicht habe.“

      Ich erzählte nochmals von meiner Panik vor Kontrollverlust bei meiner Trunkenheitsfahrt. Das Ereignis war mir gerade deswegen zum Trauma geworden, weil die Kontrolle entglitt. Das Außergewöhnliche an der Situation war, das sie sich von anderen Situationen, in denen ich Angst gehabt hatte, unterschied. Beim Bergwandern in schwierigen, stark ausgesetzten Klettersteigen hatte mich Angst nie gelähmt. Sie hat mich stattdessen hellwach und aufmerksam gemacht. Sie hat mich noch vorsichtiger agieren lassen. Sie generierte sogar eine Art Befriedigung als Risikomanager fungieren zu können. In der Panik der Trunkenheitsfahrt aber merkte ich, wie in mir etwas anderes die Regie übernehmen wollte. Der Verstand gab seine Autonomie an eine andere Institution ab. Die Entscheidung vielleicht weiterzufahren, konnte ich nicht mehr treffen, weil der Verstand nicht die Entscheidungsgewalt hatte. Die Panik hatte das Sagen und die sagte Nein. Das machte mich ja so wütend gegenüber Vorwürfen, ich hätte in berechnender Absicht das Ziel verfolgt, betrunken nach Hause zu fahren. Da wurde, vielleicht unwissend, unterstellt, was nicht möglich war.

      „Wie empfinden sie Abstinenz?“

      Ich musste lange überlegen. „Ich verbinde mit meiner praktizierten Abstinenz kein Gefühl. Sie ist eher passiv. Ich bin einfach mit meinem aktiven Leben so beschäftigt, dass ich an anderes nicht denken mag. Es ist wieder alles so wie vorher. Mein Leben ist so, wie fast mein ganzes Leben immer war. Seit