Helge Hanerth

MPU Protokolle


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das nicht schon der zweite Hinweis, dass mit meiner Trinkhistorie bereits am Anfang seiner Untersuchung etwas nicht stimmte? Bei meinen Angaben zur Jugendzeit hatte er doch auch schon skeptisch nachgefragt. Als ich mit einer Antwort zögerte, fragte er nach: „Wenn sie auf ihre Aussage in dieser Form bestehen, trage ich das natürlich so ein.“

      Naja, beschwören konnte ich es nicht. Wie genau war eigentlich meine Erinnerung nach so langer Zeit? Ich hatte mehrmals ein Glas Whisky in der Hand gehabt. Versuchte ich unbewusst zu verharmlosen? Er glaubte mir doch nicht. Das war offensichtlich. Also erwähnte ich, dass man mir mehrmals Whisky eingeschenkt hatte und dass ich möglicherweise davon auch getrunken hatte.

      „Na also“, sagte er zufrieden: „Jetzt sagen sie mir nur noch wie viel das genau war.“

      Ich spürte, jetzt musste ich Daten liefern, um seine Zufriedenheit zu erhalten. Ich merkte, dass selbst zu hohe Angaben akzeptiert würden. So erzählte ich von 1-2 Whisky Kola pro Abend bei insgesamt vielleicht 8-10 Feier-Abenden. Ich war mit meiner Hochrechnung nicht zu frieden. Ich konnte mir das nicht wirklich vorstellen. Meine Bedenken wurden vom Arzt zerstreut, der nach den Angaben plötzlich eine Spur freundlicher wurde.

      Wie es weiterging, wollte er wissen. Ich wiederholte leise die Frage und sagte dann: „Es gab da nach meiner Versetzung noch einige offizielle Anlässe, bei denen ich Bier trank. Pro Ereignis etwa 2-3 Biere (0,3 l) insgesamt etwa 8-10 Gläser im verbleibenden eindreiviertel Jahr meiner Dienstzeit. Einmal wurde dabei auch Sekt gereicht, aber das Glas mochte ich nicht auf trinken. Jemand sagte zwar <extra dry> sei cool. Meine Geschmacksknospen beeindruckte das aber nicht.

      Als ich in einer neuen Verwendung über die Jahreswende Wache hatte bis zum Silvestermittag, da hatte ich von dem Whisky getrunken, den ich noch aus dem Duty-free Verkauf bei meinem Bordkommando besaß. Ich trank etwa 0,4 l. Ein Drittel des Flascheninhalts hatte ich vorher ausgekippt. Das schien mir eine Präventivmaßnahme zu sein, um Kontrolle zu garantieren. Ich hatte schließlich keine Erfahrung mit hochprozentigen, alkoholischen Getränken.

      Danach habe ich keinen neuen Whisky gekauft. Dieses Trinkereignis machte schlimmsten Kater und hätte mich tags darauf fast um ein ganz besonderes Surferlebnis gebracht. Der Trinkabend selbst endete frühzeitig mit Schlaf. Das Ereignis und seine Folgen empfahlen sich nicht, so etwas in nächster Zeit zu wiederholen. Für die nächsten Jahrzehnte mied ich alle alkoholischen Getränke außer gelegentlichen Bieren in offiziellen Situationen.

      „Sie haben nach ihren Alkoholerfahrungen an Bord monatelang mit einer Flasche Whisky im Spint gelebt und diese nicht konsumiert?“, fragte er mit ernstem Blick nochmal nach: „Und nach diesem Ereignis haben sie auf Jahre nicht mehr Hochprozentiges getrunken? Entspricht das wirklich den Tatsachen?“

      „Richtig“, war meine unsichere Antwort. Ich konnte doch nicht jeder Aufforderung zur Lüge nachgeben, auch nicht wenn seine Betonung von wirklich eindringlich war. Meinen Bierverbrauch während meiner Restdienstzeit gab ich nach einigem hin und her mit 2-3 Flaschen (0,5 l) pro Quartal an. Sicher war es weniger. Ich saß doch nie mit jemandem noch im Unteroffiziersheim oder der Offiziersmesse zusammen. Woher kam meine Unsicherheit? Ich wusste doch, dass ich weit weniger getrunken hatte als ich jetzt angab und auf dem Partydeck bestimmt keinen Whisky getrunken hatte.

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      Nach dem Bericht über meine Bundeswehrzeit stellte der Arzt fast keine Zwischenfragen mehr. Er ließ mich plaudern und machte nur ab und an ein paar Notizen. Hatte er alle Hoffnung für mich aufgegeben? Dementsprechend ausführlich wurde ich. Ich wollte mich irgendwie entschuldigen, ihm nicht weiterhelfen zu können. Ich bekam dabei den Eindruck, ihn unterhielt meine Geschichte.

      Während meiner anschließenden Unizeit gab es weiterhin keine Situationen, in denen Alkoholkonsum üblich oder gar zwingend war. Verbindungen und Burschenschaften kannte ich nur vom Hörensagen. Gerade in Gemeinschaft hasste ich den Gedanken berauscht zu sein. Meine wenigen Freunde machten mir nüchtern Spaß. Nur so konnte ich sie ungetrübt und pur erleben. Nur dann war ich für sie authentisch. Nur dann konnte man was unternehmen. Und mich interessierten nur Freunde, mit denen ich ein Interesse teilen konnte, wie z.B. im Schwimmverein oder dem gemeinsamen Musikspielen. Sollte sich das ändern, dann müsste ich mir neue Freunde suchen. Freunde oder Freundin schöntrinken war mir keine Alternative.

      Dafür erlebte ich in ihrer Gesellschaft Dinge die viel mitreißender waren. Zum Beispiel Liebe. Etwa ein Jahr nach meinem Vordiplom hatte ich zum ersten Mal eine Freundin. Das schöne war, das alles ganz langsam ging. So wurde ich nicht von Gefühlen überrollt. Schritt für Schritt lernten wir uns besser kennen und jeden Schritt genoss ich, weil ich ihn erleben konnte, ohne dass Leidenschaft mir die Sinne raubte. Gerade weil diese Beziehung sich so bedächtig aber stetig entwickelte, war jede neue Kleinigkeit eine Sensation, die in ihren vielen unscheinbaren Details so durchdringend war. So wuchs stetig, sich manchmal auch etwas rückversichernd, was über Jahre hielt. Ich mochte diese schwärmerische Liebe, die rein und ungefährlich war. Sie konnte leidenschaftlich sein und blieb doch unverbindlich. Sie kannte weder Geschlechtskrankheiten noch ungewollte Schwangerschaften. Und für jeden Schmerz fand ich ein tröstendes Versmaß. Mit Carmen mochte ich an nichts anderes denken, als permanent ihre Nähe zu teilen. Selbst das Lernen für Klausuren erledigte ich meist nur noch in ihrer Gegenwart. Jede noch so nichtige Tätigkeit wurde der Hit, wenn es an ihrer Seite geschah. Bei soviel Liebe hatte Alkohol keinen Platz. Erst recht nicht, als die Libido doch noch zum Orgasmus führte.

      Eine Menge Menschen haben mich in dieser Zeit geradezu begeistert und zwar in vielfältiger Hinsicht: fachlich, politisch, sportlich oder kulturell. Mein Mitbewohner Gerd konnte mich Nächte lang in Andacht versinken lassen, wenn er theoretische Physik verständlich erklärte. Seine kosmologischen Bilder, die er aus Worten zeichnete, waren herrlich. Ich liebte seine geradezu pathetischen Statements, dass wir aus der Erde und somit aus den Trümmern einer Supernova hervorgegangen sind. Dieser Gedanke vom Menschen als sublimiertem Sternenstaub war so wunderbar transzendal. Alkoholisiert hätte ich die mathematisch-physikalischen Grundlagen mit Ausflügen in die Quantenmechanik nie verstanden.

      Eine zentrale Rolle spielte der Uni-Sport. Selbst Fallschirmspringen war möglich. Die Gelegenheit musste ich nutzen. Später konvertierte ich allerdings zu den Gleitschirmfliegern. Das lag mir mehr. Ich liebe dieses Gefühl von Harmonie mit den Elementen. Das kannte ich schon vom Segeln und Surfen. Gerade die ersten Male fühlte ich mich schon am Start mit dem Gleitschirm wie Otto Lilienthal, der als erster Mensch auf einem Hügel bei Berlin das Fliegen lernte. Das Gefühl ohne Motorkraft, sondern allein mit der eigenen Muskelkraft den Boden unter den Füßen zu verlieren und ins Fliegen überzugehen war großartig.

      Besondere Highlights waren immer wieder Flüge in der Thermik oder im Aufwindband eines Berges. Hier hatte die Luft Balken und es trug mich immer höher, genauso wie die Bussarde, von denen gelegentlich einer vorbeischaute. Im Pustatal in Südtirol kam ein Greifvogel von unten in meinen Aufwindbart geflogen und passte seine Kreisrichtung der meinen an. Nach zwei Kreisen hatte er aber schon ein so starkes Steigen, dass er bereits deutlich über mir flog. Zwei weitere Minuten vergingen und der Vogel war bereits so hoch, dass ich ihn nicht mehr ausmachen konnte. Ich werde nie vergessen, dass er seine Drehrichtung der meinen angepasst hatte. Woher kannte er diese Flugregel? Auch wenn es nur ein Zufall war, ich empfand das Zusammentreffen als meine Absolution vor dem großen Thermikprofi.

      Am Wichtigsten aber war Schwimmen. Jede Woche fuhr ich dreimal die im Winter besonders lange Strecke zum Schwimmbad im südlichen Zipfel der Stadt. Weder Regen noch Kälte konnten mich davon abhalten. Beim Schwimmen konnte ich mich mit Abstand am besten <auspowern> und gleichzeitig geradezu in mir ruhen. Beim Schwimmen hatte ich als Teenager meine größten Erfolge erlebt, und hier bot sich mir die Gelegenheit erneut, mich mit Gleichgesinnten für Wettkämpfe zu quälen.

      Gerne erinnere ich mich dabei an eine Frau aus Wuppertal die in einem höheren Leistungskader trainierte und gerade im Sprint für mich unmöglich zu schlagen war. Herrlich auch eine ältere Doktorandin aus Spanien, die im Nationalkader geschwommen hatte und immer noch sehr schnell unterwegs war. In meinem zweiten Studienjahr waren wir dann sogar Ausrichter der deutschen Hochschulmeisterschaften. Leistungssport unter Alkohol ging nicht. Davon war ich überzeugt. Ich wollte es erst gar nicht probieren. So etwas zerstörte bestimmt