Helge Hanerth

MPU Protokolle


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      MPU – der erste Versuch. Die Suche nach der Trinkhistorie

      Im Untersuchungszimmer empfing mich ein älterer Herr mit graumeliertem Haar. Von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch grüßte er korrekt und zeigte auf den Stuhl vor mir. Die Geste war eindeutig. Also setze ich mich und lege meine Arme auf den Schoss. So deutete ich an, dass ich bereit war und auf ihn wartete. Nach den Fragen nach Name, dokumentierter Labordiagnostik, Gewicht, Größe und Medikamenten, die dauerhaft genommen wurden, stand er auf, um mir die Manschette zum Messen des Blutdrucks anzulegen.

      „124 zu 66, Herzfrequenz 78“, las er das Ergebnis vor: „Das ist doch ein guter Anfang. Sie sind entspannt.“

      Ich nickte freundlich und dachte dabei, dass das Ergebnis nicht auf Entspannung hinwies. Ich fühlte mich deutlich angespannt. Die gleichen Werte maß ich auch kurze Zeit nach dem Joggen. Ich benutzte einen Herzfrequenzmesser und ein Blutdruckmeßgerät zur Leistungskontrolle. Meine Trainingsziele legte ich damit fest. Zu jeder Strecke und Geschwindigkeit gehörte immer ein passender Frequenzbereich. Meine im Ruhezustand gemessenen Werte lagen normalerweise so bei 105 zu 55.

      Dieses Beispiel gleich zu Anfang war symptomatisch für ein Prinzip, das sich durch alle MPU’s zog. Jedes Ereignis wurde in einen möglichst verbindlichen Zusammenhang gestellt, der den Absichten der Gutachter diente. Wahrscheinlich suchte der Arzt nur einen freundlichen Einstieg in die Untersuchung. Natürlich war seine Interpretation des Messergebnisses eine mögliche Erklärung. Sie war aber in diesem Fall falsch. Ich erlebe das häufig, wenn Ärzte einen leicht erhöhten Blutdruck als unbedenklich interpretierten aufgrund des <Weißkitteleffekts>. Das war eben eine wahrscheinliche Möglichkeit. Ohne Berücksichtigung meiner Trainingseffekte war die Aussage des Arztes aber voreilig. Meine Ruhefrequenz ist niedriger, das weiß ich auch von meinen Hausarzt.

      Was hier zu Anfang der MPU so harmlos war, kann bei anderen Fragestellungen schnell zu falschen Diagnosen führen. Plausibilität im Rahmen einer gehegten Absicht ist noch kein Wissen in der Sache. Genau darin liegt der Anspruch des Verfahrens an die Gutachter, die geleitet von Routine, Bequemlichkeit und emotionalen Überzeugungen, das all zu gerne vergessen.

      Es folgte die Trinkhistorie. Er machte eine Pause und betonte, dass die besonders wichtig sei. Kein Detail dürfe hier vergessen werden, sonst seien die anschließenden Berechnungen nicht exakt. Er wollte jetzt wissen, welche Mengen, welcher Sorte Alkohol wurden wie oft konsumiert. Die Angaben sollten chronologisch sein und mit dem allerersten Trinkerlebnis beginnen. Mit den Daten sollte die Entwicklung des Missbrauchs über den ganzen relevanten Zeitraum dokumentiert werden.

      Ungenaue Angaben, Korrekturen und nachträgliche Ergänzungen ließen den Arzt jedes Mal mit Stirnrunzeln kurz aufblicken. Dann sah er wieder auf seine Unterlage mit dem wissenden Blick, dass seine Vorstellung von präzisen Angaben deutlich abwich von der seiner Untersuchungsperson. Bei achselzuckendem Nichtwissen auf eine Frage verkehrte sich sein Blick in Fassungslosigkeit. Er betonte dann, dass die Tragweite der Begutachtung verlange, dass der Klient sich sorgfältig mit der Genese seines Trinkverhaltens auseinandergesetzt habe.

      Ich gab mir aufrichtige Mühe seiner Forderung gerecht zu werden und schilderte alles was mir einfiel so genau wie möglich. Ich fing also bei meinem ersten Bier als Wahlhelfer bei einer Landtagswahl an. Ich nannte zwei Pils zu je 0,3 l. Weitere Alkoholereignisse aus meiner Jugend gab es nicht. Der Arzt war überrascht und bat mich nochmals nachzudenken, denn das sei sehr ungewöhnlich. Mir fiel seine Art auf, wie er ungewöhnlich betonte. Es klang fast so wie, unglaubwürdig. Jedenfalls weckte die hilfsbereite Art, mit der er sprach, mein Bedürfnis mich zu rechtfertigen.

      So erzählte ich von meinen Aktivitäten im Schwimmverein, im Ruderclub und auch im Tauchclub. Ich erwähnte die Klavierstunden in der Musikschule und das ich lange Kontrabass in einem Jazzquartett gespielt hatte. Ich vergaß natürlich nicht die Wochenenden anzuführen, die ich mit Kadertraining im Landesleistungszentrum und mit Wettkämpfen verbrachte. Da sei für andere Aktivitäten weder Zeit noch Interesse gewesen.

      Meinen ersten und einzigen Disco-Besuch hatte ich dann auch später erst, während meiner Bundeswehrzeit. Er blieb alkoholfrei. Der Aufenthalt dauerte eine knappe Stunde. Dann hatte ich es nicht länger mit den Leuten ausgehalten, die mich mitgenommen hatten und war gegangen. Das war auch auf Jahre mein letzter Disko-Besuch.

      „Was war los mit den Leuten“, kam die Nachfrage. Ich sagte, dass ich als Eigenbrötler ganz allgemein ein Problem in Gruppen hatte, mit denen ich kein explizites Interesse teilte. Solche Situationen machten mich erst immer unsicher, weil ich nicht recht wusste, worüber ich reden sollte. Später langweilte ich mich und verabschiedete mich halt.

      Bei der Bundesmarine kam ich das zweite Mal mit Alkohol in Berührung. Ich kam nach meiner Ausbildung nach Wilhelmshaven auf eine Fregatte. Mein Maaten-Deck war unter Eingeweihten das Partydeck. Es gab einen Fernseher, Videoanlage und Hi-Fi. Bier wurde großzügig <gebunkert> (gelagert). Die umfangreichen Whiskybestände stammten aus dem bordeigenen Duty-free-Shop, den es bei jeder Seefahrt zollfrei zu erstehen gab. Es war ein Privileg hier eingeladen zu werden. Das wurde mir gleich zu Anfang gesagt. Und das ich besonderes Glück habe, dass hier meine Koje sei. Gelegentlich waren auch Bordfremde dabei. Bei besonderen Gästen wurde schon mal der hintere Teil des sehr langgezogenen Decks abgetrennt für Poker-Vergnügungen.

      Der Umgangston war großspurig aber auch empfindlich gereizt, wenn es um Politik ging. Ich habe schnell angefangen diese Gemeinschaft zu meiden. Das war schwer, denn hier befand sich ja meine Koje. Dieses Deck war jetzt und für geraume Zeit mein Zuhause. Also saß ich da mit ihnen am liebsten in zweiter Reihe und nuckelte lange an meinem Bier. Zu feiern war mir absolut nicht zumute. Schon bald eröffnete mir der Decksälteste, dass ich monatlich 300 DM in die Deckskasse einzahlen müsse. Das war mir dann der Unterstützung dieser makabren Gemeinschaft zu viel. Mein im Nachhinein naiver Einwand in diesem Umfeld, die Summe übersteige meine monatlichen Zuwendungen für Amnesty International und Greenpeace zusammen, und sei deswegen moralisch unverhältnismäßig, löste einen Eklat aus.

      Ich wolle doch nicht ernstlich die Harmonie dieser wunderbaren Kameradschaft stören? Streitigkeiten und Handgreiflichkeiten nahmen zu. „Sind wir dir nicht gut genug? Du trägst Brille. Hast du etwa Abitur“, lästerte der Decksälteste eines Abends: „Klugscheißer, Weltverbesserer, <Bolschewikenpack> und andere <Fotzen> haben hier keinen Platz.“ Die anschließende Schlägerei besiegelte meine Mitgliedschaft in diesem Verein, nicht aber meinen Schlafplatz. Die fortgesetzten Ausschreitungen machten meine vorzeitige Versetzung notwendig. Meine Verhaltensdefizite mich in eine Bordgemeinschaft zu integrieren waren der allseits gefühlte Grund. Im Ernstfall, damit war der Verteidigungsfall gemeint, könnten sich die Kameraden dann nicht auf Leute wie mich verlassen. Ich sei gar schlimmer als ein Feind, weil Typen wie ich den Kameraden in den Rücken fallen.

      Nun fragte der Arzt, der mucksmäuschenstill zugehört hatte: „Und wie viel Alkohol haben sie in dieser Bordzeit genau getrunken?“

      „Über einen Zeitraum von vier Wochen etwa zwanzig Flaschen Bier (0,5 l) gab ich zu Protokoll.

      „Wirklich nicht mehr, da wurde doch auch Hochprozentiges getrunken?“, fragte er weiter.

      „Man hatte es immer wieder versucht, weil das zur Initiation in der Gemeinschaft dazugehörte. Sie hatten sogar manchmal Whisky in meine Kola gegossen. Getrunken habe ich das nie“, erklärte ich: „Ich konnte gar nicht, selbst wenn das dann Stress gab. Das war mir einfach zu blöd.“

      Wie konnte ich das erklären? Ich sah mich gefangen in einer Schublade. Dabei war ich schon in der Schule ein Sonderling, der nicht mit den anderen konnte. Man korrumpiert sich nicht mit einer Decksgemeinschaft, deren Druck einem zu wider ist. Die Pflicht zu allgemein, menschlicher Sympathie beim Bier viel schon schwer genug.

      „Haben sie vielleicht am Anfang, als die Umstände noch entspannter waren mitgetrunken?“

      Meine Antwort war ein klares: „Nein.“ Der Arzt druckste ein wenig herum und sagte dann: „In Gemeinschaften können unter Umständen starke soziale Zwänge herrschen, denen man sich nur schwer widersetzten kann. Überlegen sie doch mal genauer, ob sie was vergessen haben.“

      Wie