Helge Hanerth

MPU Protokolle


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dem Sport war Musik meine wichtigste kulturelle Aktivität. Es gab einen Jazzclub und für mich war es Ereignis genug, wenn beispielsweise ein Exbassist von Lionel Hampton oder einfach nur talentierte Studenten und ihre Dozenten der Musikhochschule aufspielten. Immer ging ich alleine zu den Gigs. Ich empfand das stressfreier. Schließlich kam ich nicht für ein gesellschaftliches Ereignis, sondern wegen des Musikgenusses. Im Schatten der Hochschule blühte eine vielfältige Szene mit den unterschiedlichsten Bands. Ich hätte gerne in der einen oder anderen Formation mitgespielt, aber ich war damals noch zu verhaltensgestört und scheu, um die nötigen Beziehungen aufzubauen. Selber spielte ich also nur zu Hause auf meinem Keyboard. Damit konnte ich jederzeit, wenn mir danach war, spielen. Nie mussten sich Nachbarn gestört fühlen, denn es ging auch leise. Und an langen, nasskalten, einsamen und melancholisch stimmenden Herbsttagen, wirkte das Instrument geradezu wie ein Antidepressivum. Dann spielte ich nach einem abgewandelten Beatles-Zitat <Play a sad song and feel better>. Tatsächlich ging dann jedes Mal die Sonne auf. Alkohol tötet die Musik selbst in einer Jazzkneipe. Schließlich wollte ich nicht nur zuhören, sondern neue Riffs und andere technische Kniffe lernen.

      „Irgendwelche Alkoholerfahrungen in dieser Zeit?”

      „Gelegentlich ein Bier. Das kam aber selten vor, denn meistens ging ich allein zu Jazzveranstaltungen. Andere alkoholische Getränke trank ich gar nicht. Einen leichten Rausch erlebte ich bei einem Umzug.“

      Ich erzählte, dass ich einer Freundin zugesagt hatte, dass ich natürlich als Umzugshelfer mit anpacken würde. Sportlich durchtrainiert wie ich war, war ich von meinen Qualitäten als Möbelpacker sehr überzeugt. Als Belohnung für die Helfer gab es zwei Kästen Bier. Später sollten noch belegte Brötchen und Kaffee dazukommen. Wir mussten früh anfangen, weil der erste Transporter um 7:30 Uhr beladen abfahren musste. Ich packte kräftig mit an, so wie ich es angekündigt hatte. Als erstes nahm ich mir selbstverständlich die Waschmaschine vor, die ich alleine aus dem Kellerraum bis zur Treppe bugsierte. Nach etwa einer Stunde echter Maloche meldete sich mein Magen mit großem Hunger. Ich hatte morgens in Erwartung der belegten Brötchen meine Wohnung ohne Frühstück verlassen. Kein Wunder also, dass mein Magen nach harter Arbeit auf nüchternem Magen sein Recht einforderte. Nur, die belegten Brötchen waren noch unterwegs. Also fingen die ersten Helfer an von dem Kasten Bier zu trinken, der schon da stand. Naja dachte ich mir, Bier enthält doch reichlich sättigende Broteinheiten und nahm ein Bier, dass ich noch schwitzend mit einem befriedigenden Aah in wenigen Schlucken austrank. Das tat gut, meldete mein Magen sofort zurück. So nahm ich noch eine zweite Flasche und stürzte deren Inhalt etwas langsamer die Kehle hinunter. Danach ging es gleich weiter mit dem Schleppen von Bücherkisten, die unbedingt noch mit dem ersten Transport abfahren sollten. Nachdem ich zwei Kisten zum Auto gebracht hatte, griff meine Hand scheinbar unwillkürlich nach dem Treppengeländer. Ein paar Momente später erkannte ich, dass die Ursache für das schwankende Treppenhaus, in den beiden Bieren nach der Anstrengung auf nüchternem Magen liegen müsste. Kurze Zeit nachdem der erste Transporter abgefahren war, kamen tatsächlich Brötchen und Croissants und eine Kiste Mineralwasser. Ich genoss die Pause sehr und war froh, dass die bierbedingten Schwankungen schnell nachließen.

      Das Hauptstudium machte soviel mehr Spaß als das Grundstudium. Es fehlte jedoch das Praktische. Deswegen nutzte ich jede Gelegenheit, mich als Hiwi zu verdingen. Ich half in chemischen oder biologischen Laboren mehrmals auch ohne dafür Geld zu erhalten. Die Projekte, die ich mit meiner Arbeit unterstützte, waren immer finanziell dünn budgetiert. Trotzdem reizte mich die ideelle Herausforderung und die Beschäftigung mit einem naturwissenschaftlichen Gegenstand. Das waren immer Aufgaben, bei denen schon der Gedanke an Alkohol störte.

      Die einzige Berührung mit hochprozentigem Alkohol während des gesamten Studiums hatte ich, als ein Mitbewohner und Sammler von Single Malt Whiskys zu einer Whiskyprobe eingeladen hatte. Ich folgte aber einer inneren Stimme, die sich plötzlich meldete, diese Geschichte nicht zu erzählen. Ursprünglich hatte ich gedacht, die Geschichte sei ein gutes Beispiel dafür, dass ich auch erstklassigen Gelegenheiten, bei denen der Alkohol schon auf dem Tisch stand, ausweichen konnte.

      Nach dem zweimal im Verlauf meiner Trinkhistorie Zweifel am Wahrheitsgehalt aufgekommen waren, hatte ich Bedenken, dass meine Geschichte nicht als Beispiel für kontrollierten Umgang mit Alkohol aufgenommen werden würde. Ich fürchtete plötzlich, der Schuss könnte nach hinten losgehen. Man suchte schließlich nach Hinweisen, die exzessiven Konsum rückblickend erklärten. Da war es doch mit Blick auf die Statistik möglich, dass man der Wahrheit keinen Glauben schenken wollte. Nichttrinken konnte so als Mittrinken umgedeutet werden. Alkoholiker neigten doch zu Verharmlosungen und Lügen. Aus diesen Gründen also erzähle ich nur den Lesern hier die folgende Episode. Der Gutachter hat sie nicht gehört.

      Ein Mitbewohner hatte eine kleine, erlesene Gruppe zu einer Whiskyprobe eingeladen. Die kleine Runde von <Connaissieurs> gab sich sehr kompetent, zumal man einen irischen Kommilitonen für den Abend gewinnen konnte. Die Runde war recht unterhaltsam, auch weil ein Teilnehmer sich als Sammler exklusiver Zigarren geoutet hatte. Großzügig verteilte man die braunen Stangen, nannte Namen, Preise und Besonderheiten. Man trank und schmauchte und debattierte über die Bedeutung des Schluckens zur Beurteilung des <Aftertaste> in Zusammenhang mit einer Whiskyprobe. Ich wollte weder trinken noch rauchen und genoss einfach nur die Atmosphäre im Debattierklub. Das wurde so akzeptiert. Es war locker und entspannt. Ein Drängen oder gar Nötigen wie seinerzeit bei meinem Bordkommando auf dem Kriegsschiff gab es nicht. Jeder tat wie er wollte. Ich musste nichts beweisen. Meine pure Anwesenheit und meine Kommentare waren den Gästen ein vollkommen ausreichend, unterhaltsamer Beitrag.

      Mittrinken mochte ich nicht, weil es so wie es war gut und angenehm war. Ich versprach mir keine Verbesserung der Atmosphäre durch selber trinken. Ich behielt recht und halte diesen Abend noch heute in guter Erinnerung, ganz im Gegensatz zum Neujahrstrinken bei der Bundesmarine vor Jahren.

      Für meinen ersten richtigen aber befristeten Vollzeitjob zog ich in eine neue Stadt. In meinem Institut bekam ich ein eigenes Labor und einen kleinen Forschungsetat. Das Institut, war eng mit der TU verbunden. So hatte der Direktor auch eine Professur am dortigen Fachbereich. Die enge Kooperation mit der TU brachte es mit sich, dass unser Doktorandenlabor mit Biologen, Chemikern und Pharmazeuten von der TU besetzt war. Alle zusammen suchten wir im Stoffwechsel von Bakterien und ihren Mutanten nach Sekundärmetaboliten die pharmakologisch interessant waren. Die Chemiker und Pharmazeuten analysierten die Strukturformeln interessanter Moleküle und stellten Derivate her. Die Biologen untersuchten die Produzenten dieser Moleküle hinsichtlich der genetisch relevanten Mechanismen für den Produktionsprozess.

      Es war immer mal notwendig, auch spät abends laufende Versuche zu betreuen. Man war auch dann selten allein. Oft traf man auf Grüppchen, die manchmal verstärkt waren durch Mitarbeiter anderer Abteilungen. Unter den Pharmazeuten war es besonders lustig. Das lag daran, wie ich schnell erfuhr, dass die ab und zu Zaubertränke brauten. Die genaue Rezeptur habe ich nie erfahren, denn das geheime Wissen durfte nur von Druide zu Druide weitergegeben werden, also von Pharmazeut zu Pharmazeut. Sicher weiß ich nur, dass es alkoholische Getränke mit sehr hohem Alkoholgehalt waren, wobei man aber den Alkohol geschmacklich wohl kaum wahrnahm. Die Zaubertränke rochen wenigstens nicht nach Alkohol. Immer wieder weilte ich bei ihnen, um technische Details zu klären. Immer dann, wenn sie die Druidenrolle einnahmen, verabschiedete ich mich aus ihrem Kreis ohne in den Genuss ihrer Braukünste zu kommen.

      „Woran lag das?“, kam eine der wenigen Zwischenfragen.

      Ich überlegte kurz und erklärte, dass Ich einfach keine Betrunkenen um mich herum mochte, auch nicht wenn sie nett waren. Dafür saß der negative Eindruck von meinem Borderlebniss bei der Bundesmarine zu tief. Außerdem würde mich der Gedanke nervös machen, wenn ich betrunken wäre, mit anderen kommunizieren zu müssen. Ich weiß doch nicht wie ich wirke. Ich würde mich peinlich fühlen und fürchten, dass ich vom Geschehen nur die Hälfte mitbekäme. Der Gedanke allein machte mir Unbehagen. Ich möchte sympathisch wirken und will das bisschen Witz und Schlagfertigkeit, über das ich verfüge, nicht verlieren. Alkoholisiert in Gesellschaft mag ich mich nicht vorstellen. Wie sieht das denn aus? Warum sollte ich mich sowas Unangenehmen aussetzen?

      Manches Mal habe ich Stunden später, wenn ich im Bett neben