Helge Hanerth

MPU Protokolle


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und das befriedigende Gefühl gaben Nutzen zu stiften. Während eines Tages rief ich mir immer wieder mein Tagesprogramm ins Bewusstsein. So behielt der Tag eine Struktur, die ich auch noch permanent optimieren konnte. Mit meinem Handeln gab ich mir Sinn. Das brachte mich gut drauf und machte mich dankbar für jeden Tag. Ich freute mich über das, was ich schon erledigt hatte, prüfte Planänderungen und checkte mein Timing. Wenn ich mehr als die Hälfte meines Tageswerks geschafft hatte, wurde ich bei meinen Planspielen schon mal euphorisch. Wenn die Zielgerade in Sicht kam, wuchs die Lust neue Pläne zu stricken. Nichts war befriedigender, als mit einem Rückblick auf einen erfolgreichen Tag abends möglichst total erschöpft ins Bett zu sinken.“

      „Also Alkohol ist Ihnen nicht das Wichtigste?“, kam die nächste Frage.

      „Das Wichtigste?“ wiederholte ich ungläubig. „Alkohol ist doch beileibe nicht das Wichtigste. Dafür kann Alkohol zu wenig. Alkohol brauchte Jahrzehnte um wieder eine Chance bei mir zu finden. Und da war er nur Ersatzspieler für andere Leidenschaften, die vorübergehend brachlagen. Der Alkohol sprang ein, um eine betrunkene Zufriedenheit zu schaffen, in der es mir relativ egal wurde, dass wichtige Dinge vorübergehend ungeregelt blieben. Das war doch auch schon so bei meiner Silvesterparty alleine auf der Bundeswehrstube gewesen, wo ich auf diese Weise Langeweile und Einsamkeit für eine Nacht tötete. In jedem Rausch bleibt die Sehnsucht nach einem mehr, das nicht durch mehr Alkohol befriedigt werden kann. Das lässt mich lieber nach Alternativen suchen. Das Surfereignis am Tag nach der Silvesterfeier war so eine Alternative. Wichtige Leidenschaften bieten eben mehr. Deswegen musste Sehnsucht zurückbleiben, wenn ich stattdessen während der Schwangerschaft meiner Frau zum ersten Mal Alkohol täglich trank. Vor allem aber blieb unter Alkoholeinfluss die Sehnsucht nach Bedeutung oder wie es der Wiener Psychologe Viktor Frankl (Frankl, Viktor E.: „… trotzdem Ja zum Leben sagen“, Kiesel Verlag 2009) formuliert hat, die Suche nach einem weitergehenden Sinn unbefriedigt. Dem Alkohol genügt der Moment. Alkohol feiert nur sich selbst. Jede Bedeutung ist aufgeplustert und jeder interessante Gedanke ist einen Moment später wieder vergessen. Am Tag darauf kann man auf nichts Substanzielles mehr zurückgreifen. So wurde mir der größte Nutzen vom Alkohol, dass er mich gut einschlafen ließ. Damit war mein Drang etwas zu unternehmen erst mal aufgelöst und alle Hoffnungen auf Taten einfach nur vertagt.

      Stärker als Alkohol war immer ein aktiver Kick. Nur aktive Kicks schaffen das Bewusstsein, das Erkenntnisfähigkeit braucht. Nur sie machen geistige Verliebtheit möglich. Musik zu hören konnte wunderschön sein. Musik zu spielen oder nach Musik zu tanzen war aber eine viel tiefer gehende Erfahrung. Alkohol schaffte es nicht diese Gefühlszustände nachzubilden. Alkohol konnte nicht mal den Genuss der rein vom Band gehörten Musik verbessern, weil mit zunehmender Alkoholwirkung die musikalisch, harmonischen Details verblassten. Alkohol verstärkte nur die allgemeine musikspezifische Stimmung. Ich hatte z.B. kein Gehör mehr für Anschlag und Phrasierung des Pianisten. Bestimmte Hirnbereiche, die dafür sensibilisiert sind, fingen an zu rebellieren. Sie forderten ihr Recht auf einen musikalischen Genuss. Ruhigstellen konnte ich sie nur, in dem ich sie auf Morgen vertröstete, wenn mich Alkohol und Kater verlassen hatten. Erst dann würden wieder nachhaltige Aktivitäten möglich sein, an die man sich gerne zurück erinnerte. Alkohol feierte nur den Moment. Ich konnte mich an kein einziges Erlebnis in meinem Leben erinnern, bei dem Alkohol eine Rolle gespielt hat, das in meinen Erinnerungen angenehm nachwirkte und wenigstens ein nostalgisches Gefühl hinterlassen hat.

      Alkohol tötete nach kurzem Höhenflug jede Kreativität. Schon nach etwa einer dreiviertel Stunde wurde das Denken anstrengend. Die Ideen waren weg und mit ihnen jede Muße. Man konnte nur noch passiv genießen.

      Solange es noch Restenergie gab, verrichtete ich lieber leichte Tätigkeiten. Dies war der Moment, wo ich entweder meine Reisekostenabrechnung machte, oder das Haus putzte. Solange man nichts Wichtigeres erledigen musste, konnte ich mich mit diesem Procedere vorübergehend abfinden. Ansonsten trieb mich der Ärger über unerledigte Angelegenheiten am nächsten Tag zu masochistischen Handlungen, bei denen ich mir bewies, dass mein Geist und dessen Wille die oberste Instanz in meinem Körper sind. Entschlossenheit und Leidensfähigkeit waren immer wesentlicher Teil meiner Erfolge gewesen. Das kannte ich schon vom Sport nicht anders.“

      „Sie haben alkoholisiert geputzt?“, kam eine amüsierte Nachfrage.

      „Ja natürlich. Beim Putzen erlebte ich mein Haus. Ich nahm es als Habitat war. Ich befühlte mit dem Putzen was ich bewohnte. Ich entdeckte, dass das was ich hatte, schön war und freute mich gerade beim Putzen hier an diesem Ort zu sein. So gewann die banale Tätigkeit eine Zen-Dimension. Nur das Bürsten der einzelnen Fliesen und das Imprägnieren des Parketts (im ganzen Haus gab es keinen Teppichboden), blieb eine ungeliebte Arbeit. Grundsätzlich ging es auch beim Putzen um die Schönheit im Tun. Die Monotonie der sich wiederholenden Handlungen beim Putzen beruhigte und machte zufrieden. Langes Putzen war aber schon langweilig. Das ging mit Alkohol viel besser. Der Rausch nahm das Gefühl passiv zu sein.“

      „Was bedeutet ihnen Alkohol?“

      „Alkohol bedeutete Ersatz für andere Freuden während der Schwangerschaft meiner Frau. Ich fand aber so nach und nach auch neue Aspekte. So wurde Alkohol auch zur Belohnung für eine gute Leistung. Wenn ich trank, dann hatte ich mir das verdient. Ich schaute zurück auf den Tag. Ich feierte meine Leistungen und mit ihnen mich selbst. Das war erlaubt, denn nicht viele Chefs sind gute Chefs. So ersetzte der Alkohol deren Inkompetenz oder Ignoranz. In meinem Job gab es ein vergleichendes Ranking. Ich gehörte immer zu den Top10 unter den Mitarbeitern. Lob und ein Präsent bekamen aber nur die Plätze eins bis drei.

      Alkohol konnte aber auch sehr gut Tatendrank kompensieren. Dann wurde man müde und genügsam und war mit Fernsehunterhaltung zu frieden oder träumte stattdessen von tollen Aktionen in ferner Zukunft.“

      „Ihr Anlass zum Trinken war die Schwangerschaft ihrer Frau?“

      „Richtig, und die Schwangerschaft leitete auch das Ende der Trinkphase ein.“

      „Warum haben sie früher so wenig getrunken?“

      Hatte ich die Frage nicht schon beantwortet? Ich ging also von einer Kontrollfrage aus und sagte: „Weil ich glücklich war. Das Glück war mit Alkohol nicht zu toppen. Gleichwohl war die Monotonie der neuen Häuslichkeit zu toppen, die die Schwangerschaft begleitete. Es war nichts mehr los. In allen Lebenslagen drängt es mich zu einer aktiven Rolle. Ich kann zu Hause nicht mal Musik hören, ohne mich nicht zwischendurch ans Klavier zu setzen, um wenigstens mal eine Melodie nachzuspielen oder nach den passenden Akkorden zu suchen.

      Vor allem aber fehlte mir der Sport. Mit Sport konnte ich selbst einem misslungenen Tag etwas Aufregung abringen. Auch entschädigte Sport für Misserfolge und kompensierte Stress. Sport generierte neue Kraft und Lust. Sport war seit meiner Kindheit täglich da. Sport war so wichtig wie das Atmen. Sport hat meinen Charakter geprägt. Ehrgeiz, Ausdauer, Leidensfähigkeit und Siegeswille haben sich mir erst durch Sport so richtig tief eingebrannt. Ohne das Wohlgefühl beim Sport ist ein Tag nicht vollständig.“

      „Sie hatten also keine Lust das Trinken fortzusetzen?“

      „Auf Dauer erwarte ich mehr von einem Tag als Alkohol bieten kann. Alkohol schafft nichts, an das man sich gerne zurück erinnert. Auch den Endorphin-Kick beim Sport kann Alkohol nicht erreichen. Und meine neue Familie kann ich ohne Alkohol viel detaillierter wahrnehmen. Ich nehme viel mehr Facetten im Verhalten meines Sohnes wahr, als das mit Alkohol möglich wäre. Vor allem wird mein Sohn mir erst so zu einem unfassbaren Mysterium. Das Ende des Trinkens war der erwartete Startschuss, um in mein altes, neues Leben zurückzukehren.

      „Welche seelischen Belastungen gab es während des Trinkens?“

      „Ich sah nur die eine Belastung, die Umstände der Schwangerschaft vorübergehend ertragen zu müssen. Da das Ende dieser Zeit absehbar war, konnte ich mit der Belastung gut leben. Es galt nur die Zeit zu überbrücken. Andere dauerhafte Belastungen gab es nicht. Das wäre auch eher kontraproduktiv gewesen und widersprach meiner leicht aneckenden, ungeduldigen Natur. Probleme waren Herausforderungen sich zu beweisen. Gerade im Berufsleben waren sie Kick und nicht Belastung. Immerhin wurde ich als Projektleiter für das Lösen von Problemen bezahlt. Weitere private, seelische Belastungen gab es auch nicht.