Helge Hanerth

MPU Protokolle


Скачать книгу

bei dieser Episode habe ich kurz gezweifelt, ob ich sie erzählen sollte. Der Grund war wieder der Gleiche: Alkoholiker können nicht mit Alkohol kontrolliert umgehen. Diesmal tat ich es aus drei Gründen. Zum einen hoffte ich, die wartende Freundin und ein normaler Sexualtrieb würden den Verzicht auf Alkohol glaubhaft erklären können. Zum anderen war doch klar, dass ich als Laborleiter nicht tun konnte, was bei Doktoranden leicht durchging. Wenn sich Alkoholkonsum bei der Arbeit rumsprach, konnte das äußerst unvorteilhaft für mich enden. Und drittens trank ich noch gar nicht regelmäßig und in großen Mengen.

      Darauf folgten kleine Temp-Jobs einer Londoner Vermittlungsagentur für Zeitarbeit. So kam ich zu einer Montagetätigkeit für einen Fermentationsreaktor in Algerien. Die Arbeit ruhte zwischendurch für fast eine Woche, wegen logistischer Probleme. Fernab menschlicher Siedlungen in einem Industriepark mit überwiegend chemischen Anlagen und ohne ein Buch dabei zu lesen, verbrachte ich die Tage meist schlafend beim Klang der Klimaanlage mit algerischem Rotwein. So machten es alle Monteure, bis auf jene, die Poker spielten. In diesen Tagen trank ich 9-10 Flaschen (0,7 l). Mit dem Geld leistete ich mir ein halbes Jahr Ferien in Argentinien und Chile. Dort habe ich maximal zehn Biere getrunken.

      Der nächste Job meiner Freundin führte sie ins Ruhrgebiet. Ich folgte ihr nach, sobald ich was Geeignetes fand. So wurde ich Repräsentant für ein großes Unternehmen der Privatwirtschaft. Dies war meine erste Festanstellung. Meine Tätigkeit deckte die Bereiche: Vertrieb, Marketing und ärztliche Fortbildung ab.

      Die Trinkgewohnheiten beschränkten sich über fast neun Jahre auf einige Biere bei internen Tagungen mit dem Chef und anderen Leitenden. Das entsprach der Unternehmenskultur. Ein paar Biere an der Bar des jeweiligen Tagungshotels waren in den Augen der Vorgesetzten eine ideale Möglichkeit zur ungezwungenen, persönlichen Beziehungspflege mit den Mitarbeitern. Wer sich profilieren wollte, um an der eigenen Karriere zu stricken, für den war das eine ideale Gelegenheit. Hier wurden die Netzwerke gestrickt, die über Aufstieg und Fall entschieden. Gerade deswegen schien es mir ratsam in so entscheidenden Situationen nur sehr zurückhaltend vom Genuss alkoholischer Getränke Gebrauch zu machen. Zum einen empfand ich es als untragbar, nur den Verdacht zu erwecken beschwipst zu sein, zum anderen fühlte ich mich in solchen Chefsituationen noch unsicherer, als ich es allgemein in Gesellschaft sowieso schon tat. Ich fürchtete unter Alkoholeinfluss die Befindlichkeitslage anderer nicht mehr exakt ausmachen zu können. Ich brauchte die totale Nüchternheit, um meine Angst zu bändigen, ich könnte wichtige Details zwischen den Zeilen des Gesprochenen übersehen. Die Bar nach einem Meeting war mir eine Grauzone zum Privaten. Möglicherweise wurde hier das berufliche Terrain verlassen. Ich mied diesen Ort. Hier konnte man zu leicht in Fettnäpfchen treten.

      Außerhalb der Arbeit gab es gar keinen Alkohol. Meine Frau und ich verbrachten unsere Freizeit, bis auf den Teil meiner Sportaktivitäten, zusammen. Und meine Frau trank gar nicht. Unsere Kicks holten meine Frau und ich uns beim Tanzen. Salsa war eine große, gemeinsame Leidenschaft. Es gab reichlich Kurse. Jede bessere Tanzschule bot neben dem klassischen Repertoire auch Salsa an. Das besondere in einer nahen Großstadt war aber ein besonderes Tanzhaus, das staatlich gefördert wurde. Hier waren in einem alten, maroden Straßenbahndepot Tanzsäle entstanden. Das Angebot war riesig. Selbst Street Dance oder vorbereitende Kurse zur Aufnahmeprüfung für klassische Balletttänzer gab es. Die karibischen Alternativen wie Merengue und Bachata haben wir später tatsächlich versucht. Da viele Kurse auch abends stattfanden, konnten auch Überstunden uns nicht davon abhalten, dieser Leidenschaft zu frönen. Getrunken wurde nie! Und wenn, dann Wasser, denn davon brauchte man reichlich. Die Cocktailbar der Tanzparties am Wochenende waren für uns immer nur stilechte Dekoration. Cocktails bestellen, dass taten fast ausschließlich die nichttanzenden Zuschauer, die eh schon an der Bar saßen. Eine Bierfahne meiner Tanzpartnerin hätte mich gestört. Und wieso noch zusätzlich berauschen, wenn man sich jetzt schon in der karibischen Kulisse wie auf der Bühne eines großen Tanzshow fühlte. Ich musste mir hier doch wahrlich nichts schön trinken.

      Ich bekam eher Angst bei dem Gedanken beschwipst die Contenance zu verlieren oder nicht mehr exakt zu führen. Bei aller Leidenschaft war ich kein Kind der Karibik. Hundert Prozent Empathie und Taktgefühl musste erst erarbeitet werden. Ich brauchte eine kleine gedankliche Unterstützung in diesem Punkt, um dazuzulernen. Das leistete in meinem Hirn nur der Neokortex, wenn er nicht trank. Denn im, auch präfrontalen Cortex genannten, Hirnteil ist unter anderem Erlerntes und Logik dauerhaft gespeichert.

      Alkohol spielte erst wieder mit der ersten Schwangerschaft meiner Frau eine Rolle. Ab dem zweiten Monat stellte ich sämtliche Sportaktivitäten ein. Es begann meine häusliche Periode. Die verordnete Auszeit viel mir schwer. Langeweile machte sich breit. Ich tat daraufhin, wovon meine Kollegen sagten, dass es jeder Bundesbürger tue. Ich verbrachte meine Feierabende vor dem Fernseher mit Wein (0,7 l). Nach einer Woche erhöhte ich auf zwei Flaschen für die Dauer von vier Wochen. Dann kombinierte ich eine Flasche Wein mit einem Flachmann (Korn 0,2 l) für einen Monat. Danach trank ich täglich zwei Flachmänner bis etwa zum Ende der ersten Woche des neunten Schwangerschaftsmonats. Der Sportdruck war enorm. Und oh Wunder, ich konnte in der Trinkpause abendliches Joggen durchsetzen. Der Druck machte es möglich. Zwei Tage nach der Geburt meines Sohnes habe ich weitere vier Wochen getrunken bis zum Abflug meiner Schwiegermutter. In dieser letzten Phase habe ich zwei Flachmänner und alle 2-3 Tage zusätzlich einen halben Flachmann getrunken. Die Trinkphase mit täglichem Konsum zog sich über insgesamt acht Monate. Nach der Abreise meiner Schwiegermutter habe ich noch bei einigen häuslichen Gelegenheiten Wein getrunken, bis eine letzte Kiste mit sechs Flaschen verbraucht war. Bei jeder Gelegenheit nie mehr als zwei Gläser a 0,25 l. Danach habe ich bis zum Beginn der Dokumentation der Abstinenzzeit noch drei Biere bei privaten Anlässen (0,5 l) getrunken sowie das Chefbier auf Tagungen.

      Nach einigen stillen Augenblicken, in denen der Arzt seine Aufzeichnungen nachdenklich betrachtete, fragte er abschließend: „Das waren jetzt sämtliche Angaben?“ Ich antwortete mit einem nachdrücklichen: „Ja“.

      „Sie haben viel erzählt. Wir sind zwanzig Minuten über der Zeitvorgabe. Sie haben sehr kurzweilig erzählt, aber genügend Alkoholfakten sind für mich nicht dabei zusammengekommen.“

      Entschuldigend sagte ich schnell, dass ich viele Hobbys und wenig Zeit zum rumhängen habe. Aktive Kicks machten einfach mehr Spaß. Die gingen so nah und wirkten lange nach. So fehle mir komplett eine pubertäre Alkoholprägung. Mein Leben wird durch andere Aktivitäten bestimmt. Am durchdringensten geschieht das durch den fast täglichen Leistungssport über Jahrzehnte. Rückblickend war ich von mir selbst überrascht, wie ich das zwischendurch ausgehalten hatte, über ein halbes Jahr die Feierabende mit TV und Alkohol zu verbringen. So etwas mag ich mir nicht zu einer Lebensaufgabe machen.

      MPU – der erste Versuch. Die psychologische Exploration

      Die abschließende psychologische Begutachtung nennt sich Exploration. Zu dieser Exploration lud mich etwa zwanzig Minuten später die Psychologin in ihr Büro, das dem Sekretariat sehr glich, inklusive dem Kaffeeduft. Es war angenehm wie sie versuchte, eine lockere und entspannte Atmosphäre zu schaffen. Sie fragte, ob ich mir vor Beginn draußen am Automaten nicht noch einen Kaffee ziehen wolle. Ich lehnte dankend ab.

      „Ah, dann haben sie also schon Kaffee getrunken.“

      Ich verneinte abermals.

      „Wie kommt das?“, fragte sie nach.

      Ich erklärte, dass ich gar keine Heißgetränke trank, weder Kaffee noch Tee.

      „Wie werden sie dann morgens wach?“, wollte sie nun wissen.

      Also erzählte ich, dass ich nicht lange schlafen konnte. Morgens trank ich dann immer kalte Frischmilch, wie ich das schon seit Lebzeiten tat. Wenn ich mich morgens beim Frühstück kurzfasste, reichte manchmal noch die Zeit zum Joggen.

      „Sie frühstücken bei der Arbeit?“, fragte sie überrascht nach.

      Ich verneinte abermals und erklärte, dass ich zwar schon Hunger verspüre, aber meistens siege mein Tatendrang. Wenn ich erstmal in der Arbeit steckte, vergaß ich den Hunger schnell. Sie schloss das <Warm Up> ab mit einem: „Ist ja interessant.