Helge Hanerth

MPU Protokolle


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Untersuchung aufgeführten Trinkereignisse als Teenager müssen wir noch ergänzen? Bei ihnen ist das ja schon lange her. Da gibt es natürlich Erinnerungslücken. Trotzdem ist das hier wichtig. Pubertät ohne Alkohol ist so wahrscheinlich wie ein Jackpot im Lotto. Das ist leicht erklärbar, wenn man bedenkt, dass der Weg zur Adoleszenz durch die Pubertät eine Sturm und Drang Zeit ist. Aktuelle Untersuchungen bestätigen, dass weit über neunzig Prozent der Teenager Erfahrung mit Alkohol haben.“

      Ich zeigte mich überrascht und sagte: „Ich habe nicht gedacht, dass das so viele sind. War das auch schon so zu meiner Zeit? So Rituale wie Komatrinken, dachte ich, seien eine neuzeitliche Erscheinung.“

      „Es mag da kleine Abweichungen geben“, antwortete sie und schaute mich wieder fragend an. Ich spürte, dass ich hier mit weiteren Trinkmengen eine Erwartungshaltung befriedigen konnte. Der wohlwollende Frageton zeigte mir, dass der Mut zu einem solchen Eingeständnis positiv ausgelegt werden würde. Ich befand mich also wieder in dem gleichen Konflikt wie beim Arzt, als der nach den Trinkgewohnheiten bei der Bundeswehr fragte. Ich zögerte. Ich hatte schon wegen meiner Antworten beim Arzt Bauchschmerzen. Ich hatte weiterhin Zweifel an meinen Angaben, zu denen ich mich ihm gegenüber hatte hinreißen lassen. Dann entschied ich mich, nicht zu <pimpen> (aufzumotzen), auch wenn die Wahrheit viel mehr Überzeugungsarbeit benötigte. Das war in erster Linie keine taktische, sondern eine Gewissensentscheidung. Die Wahrheit durfte nicht wieder auf der Strecke bleiben.

      Also holte ich weit aus und begann meine Antwort statt mit zusätzlichen Trinkmengen, mit einem Rückblick auf eine traumhafte, alkoholfreie Kindheit. Die verbrachte ich in der Nähe einer Kleinstadt umgeben von Äckern, Weiden und Wald. Astrid Lindgren hätte unsere Siedlung vielleicht Bullerbü genannt, denn etwa so wie in ihrem Buch der Kinder von Bullerbü, erlebte auch ich meine Kindheit. Ich hatte meinen eigenen Gemüsegarten, half im Spätsommer bei der Obsternte, ging Bauern beim Heumachen zur Hand, tobte durch den Wald, baute Baumhütten, fing Frösche und Molche und spielte mit anderen Rabauken Fußball auf der Straße oder Eishockey im Winter auf einem gefrorenen Fischteich. Hier entschied ich, dass ich später Naturforscher werden wollte und dass ich Expeditionen und Reisen in die Südsee unternehmen würde. Aber vor allem wollte ich später einmal wie die Bussarde, die ich oft im Gras liegend beobachtete, fliegen.

      Diese Wünsche und viele andere aus dieser Zeit, sollten später tatsächlich wahr werden. Ich arbeitete kontinuierlich daran. Meine Träume sollten keine Schäume bleiben. Einige Träume bestimmen mein Leben noch heute so sehr, das ihre Umsetzung in Arbeit ist.

      Etwa in der siebten Klasse wurde an meiner heilen Welt gekratzt. Vor allem von progressiven Lehrern die mich in die Pubertät zwingen wollten und von Freunden, denen die Pubertät den Kopf verdreht hatte. Ich wollte von all dem nichts wissen. Ich fand die Zeit für etwas Neues war für mich noch nicht reif. Das machte mich in der Schule zum Außenseiter und Streber und in unserer Siedlung zum Eigenbrötler. Während die anderen neuerdings sich mit Mädchen im Jugendzentrum trafen, zimmerte ich eben alleine an Nistkästen für Meisen oder Bilche und baute Dämme in einem Graben, um die Entwässerung einer Feuchtwiese zu verhindern, in der Ringelnattern lebten.

      Ich möchte betonen, mich störte nicht was die anderen machten. Manche von den Anderen hatten auch ganz nette Seiten. Es störte mich aber sehr, dass ihre Cliquen und vor allem ihre kraftmeiernden Anführer sich gewaltig an jedem Nonkonformisten aufrieben. Da ich nie einlenkte, sondern aggressiv meine Freiheit verteidigte, wurden die Fronten immer härter. Ich wollte mich nicht an ihr Gehabe und ihre Anschläge gegen mich gewöhnen. Sie waren einfach nur peinlich, ganz besonders wenn Alkohol ins Spiel kam. Ein Zwischenfall nachts im Herbergszimmer der Jungen während einer Klassenfahrt, ärgerte mich so sehr, das ich alle weiteren Ausflüge bis einschließlich der zehnten Klasse boykottierte. Ich fand es so unmöglich, dass die Jungs in ihrem Alkoholrausch überhaupt nicht erreichbar waren. Was ich auch versuchte, wurde mit blödem Kichern beantwortet. Das zog sich über Stunden hin. Mir war keine Gegenwehr möglich und verpfeifen ging natürlich auch nicht. Solche Ereignisse entwickelten eine Aversion in mir gegen diese Schüler und gegen den Alkohol, der sie so machte. In solcher Gemeinschaft mochte ich nicht mittun. Die waren mir zu krass. Die waren doch nicht sie selbst. Jeden Genuss von Alkohol meinerseits hätte ich als Verrat meiner Identität empfunden. Für sie wurde ich so zum <Unberührbaren>. Mir wurde es egal, denn schließlich hatte ich mich und das was ich wollte. Ich war zufrieden und ganz im Reinen mit mir, gerade ohne pubertäre Bedrohung. Verbiegen mussten sich die anderen, wenn sie unbedingt <hipp> sein wollten. Ich wollte von ihrer Welt und von den Attributen ihrer Welt nichts wissen. In dieser Zeit wurde Alkohol für mich zum Symbol für pubertierende Spinner.

      Parallel zu diesen Erlebnissen begegnete ich im Sportverein und der Musikschule netten Teenagern, mit denen ich eine gemeinsame Leidenschaft teilte und Alkohol nie eine Rolle spielte. Ich empfand Glück im aktiven Tun um ein Interesse. Sportliche Erfolge verstärkten meinen Ehrgeiz für ein Anliegen zu kämpfen.

      Bis auf die zwei Biere, zu denen ich in der dreizehnten Klasse als Wahlhelfer bei einer Landtagswahl eingeladen wurde, habe ich damals keinen Alkohol konsumiert.

      Alkohol spielte erst wieder bei der Marine eine Rolle. Während meines ersten Bordkommandos auf einem Minensuchboot wurde der langjährige Kommandant wegen seiner Gelbsucht vom Borddienst befreit. Ursache sei eben die <Seemannskrankheit> gewesen. Dass gehöre zu einem Seefahrerleben dazu wie der Tripper, war seine offene Überzeugung. Einige Wochen zuvor hatte er noch mit einigen Mitstreitern eine Löschschaumschlacht mit der Wache des gegenüber an der Schwimmpier festgemachten Bootes gemacht. Danach musste der Verlierer einen Kasten Bier springen lassen, der sogleich gemeinschaftlich getrunken wurde, um den Waffenstillstand gebührend zu feiern.

      War ich hier noch unbeteiligter Zuschauer, so konnte ich mich bei meinem zweiten Bordkommando dem Zwang der Decksgemeinschaft nicht ganz entziehen. Auf der Fregatte traf ich auf Kameraden, die mit ganzer Kraft genau die Vorurteile bestätigten, die ich in der Schule mit trinkenden Mitschülern gemacht hatte. Sie waren eine Horde sich unheimlich stark fühlenden Besserwisser, die Andersdenkende nicht nur nicht tolerieren konnten, sondern gerne gröhlend vorführten und lächerlich machten. Ich habe verhalten mitgetrunken, so zurückhaltend wie möglich. Berauscht war ich nie. Das war wichtig. Unter anderen Umständen wäre ich vielleicht neugierig geworden, wie sich das anfühlte. In dieser Situation musste ich aber absolut die Kontrolle behalten. Die Angst vor gewalttätigen Eskalationen lag immer in der Luft, und die waren schließlich in der Mehrheit. Mein Widerwille gegen die Typen wuchs, wenn wir auf See waren. Mit zollfrei erstandenem Whisky aus dem Bordladen feierten sie und erzählten dann wilde Heldengeschichten von ihren Großvätern in der Wehrmacht. Ein falscher Kommentar meinerseits in dieser Runde, führte zwangsläufig zu einer höchst willkommenen Keilerei.

      Die hier gemachten Erfahrungen waren so einschneidend, dass ich den Rest meines Lebens Alkohol in Gesellschaft meide. Ich lernte so aber auch die Vorteile zu schätzen, wenn man bei zurückhaltendem Genuss in einer Gruppe die Kontrolle behielt und taktieren konnte. Danach blieb mein Konsum bis auf eine Silvesterfeier über Jahrzehnte nahezu alkoholfrei.

      Die Silvesterfeier fand in meiner Unterkunft statt. Der einzige Gast war ich. Bedingt durch meinen Tausch des Wachdienstes, hatte ich nicht wie die Soldaten meiner Einheit über die Feiertage frei.

      „Warum trinken Sie allgemein so wenig?“

      „Meine <One-Man-Party> war nur kurz lustig. Danach schlief ich schnell ein ein, um mit heftigstem Kater am nächsten Morgen aufzuwachen. Fast wäre mein Plan für eine große Unternehmung an diesem freien Tag geplatzt, weil mich der Kater bis in den Nachmittag lähmte. Die Unternehmung war immerhin der Grund für meinen Wachtausch gewesen. Der Ausgang dieses Alkoholereignisses lieferte keinen Grund zur Wiederholung. Das Thema Alkohol als Spaßmacher war damit abgehakt. Der Alkohol hatte meine Erwartungen nicht nur nicht erfüllt, sondern meine Pläne gefährdet. In meinem weiteren Leben etablierte sich gerade Alkoholfreiheit als ein Qualitätsfaktor für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Nur alkoholfrei konnte ich meine Pläne und mein Tageswerk verrichten. Nur alkoholfrei konnte ich meine Sinne so beisammen halten, dass ich Ideen und Kreativität entwickeln konnte. Die Kraft der Arbeit war stärker als Alkohol, weil sie sinngebend war. Ich erfüllte durch sie eine Aufgabe an mir selbst und gab Nutzen. Ich machte keine dauerhaften