Maryam Munk

Das Kamjuna


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austrockneten, denn in der Starre konnte der Troll nicht blinzeln. Der Naturkundler fand es erstaunlich. Er fragte sich, in welchem Zustand der Troll sich befand, wie lange er anhalten würde, ob der Sonnenstand einen Einfluss darauf hatte.

      Darwen überlegte. Wenn er umkehrte, könnte er Bärwald bis zum Abend erreichen. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden hatte er nicht mehr geschlafen und seit elf Stunden weder gegessen noch getrunken. Einen Marsch bis zum Abend würde er nicht durchhalten. Er schaute zu dem grasenden Esel. Reiten würde nichts bringen, dazu war das Tier zu erschöpft. Davon abgesehen, glaubte Darwen sich auch in Bärwald nicht vor dem Troll sicher. Der hatte ihn einmal entführt, bestimmt würde es ihm ein zweites Mal gelingen. Den Schutz der Stadtwache zu erbitten, wagte Darwen nicht. Das war wegen den Leichenteilen, die sich in seinem Haus befanden, zu gefährlich. Statt den Troll, würden die Stadtsoldaten ihn in den Kerker stecken. Außerdem war der Troll eine interessante Lebensform, die der Naturkundler nicht ignorieren wollte. Er entschloss sich, zu bleiben und abzuwarten, was geschehen würde. Das Warten wurde ihm lang. Er kam in Versuchung, den Zustand des Trolls zu nutzen, um dessen Körper zu untersuchen. Dazu müsste er aber das Gewand zerschneiden, denn den Stoff von dem schweren Körper zu ziehen, schien ihm unmöglich. Einen scharfen Stein konnte er vielleicht finden, doch wenn der Troll aus seinem Zustand erwachte und sich entblößt sah, würde er die Situation sicher falsch verstehen. Wer wusste schon, wozu ein Troll dann fähig war?

      Darwen fielen helle Linien am Himmel auf. Vier weiße Striche standen parallel zueinander. Es sah aus, als hätte jemand das Himmelblau zerkratzt. Wolkengebilde waren diese Striche nicht. Das Phänomen wunderte Darwen nicht wirklich. Seit dem gestrigen Morgen war in seinem Leben Seltsames geschehen. Angefangen hatte es mit dem Soldat, der den toten Gnom gebracht hatte. Mit den Strichen am Himmel würde es bestimmt nicht enden. Was geschehen würde, wenn jemand, aus welchem Grund auch immer, während seiner Abwesenheit in das Haus drang und die Organe in den Gläsern entdeckte, mochte Darwen sich nicht ausmalen. Dann war er kein Naturkundler mehr, sondern tatsächlich ein Hexenmeister. Er sollte besser verschwinden, dann könnte es für ihn gut ausgehen. Doch der Troll war zu verlockend. Wie lebte eine solche Kreatur? Ein wunderliches Geschöpf! Seit ihrem Aufbruch hatte der Troll weder Blase noch Darm geleert, während Darwen schon beim Steinbruch hatte pinkeln müssen, als der Troll den Esel losband.

      Als hätten die Gedanken das Stichwort gegeben, verspürte Darwen einen unmissverständlichen Druck. Eine günstige Gelegenheit, fand der Naturkundler. Der Troll konnte ihn nicht sehen, und der Esel war ein Tier. Darwen entfernte sich vom Hang. Er zog Mantel und Hemd hoch, die Hose hinab und hockte sich hin. Das Gras kitzelte seinen Hintern. Als er fertig war, rupfte er ein paar Büschel aus, womit er sich säuberte.

      "Wir müssen weiter!"

      Darwen stieß einen Schrei aus. Er riss die Hose hoch. Der Troll saß aufrecht und schaute zu ihm hin. Darwen stopfte das Hemd in die Hose, zog den Mantel hinab und ging zu ihm. "Ja, dann ... äh ... dann gehen wir mal." Darwen bemühte sich, Haltung zu wahren.

      Zwischen den Hügeln entlang, führte der Naturkundler den Esel dem Troll hinterher. In der Ferne zeigte sich der Westwald. Die lange Rast, die der Zustand des Trolls Darwen und dem Tier ermöglicht hatte, hatte beide wieder zu Kräften kommen lassen. Der Troll hatte kein Wort über seinen Zustand verloren. Er war einfach aufgestanden und losgegangen. "Weshalb wollt Ihr zum Wald?", fragte Darwen ihn, doch der Troll gab keine Antwort. "Nun gut", sagte Darwen sich. "Wo es Bäume gibt, gibt es auch Wasser, und wo es Wasser gibt, gibt es auch Tiere, die man essen kann." Er freute sich auf einen saftigen Braten, auch wenn er weder Feuerstein noch Schlageisen dabei hatte. Dem Troll würde es schon gelingen, ein Feuer zu machen.

      Das Mädchen irrte umher. Seit es den Steinbruch verlassen hatte, sah es nur noch Gras, den Himmel und die Sonne. Viele Stunden waren vergangen. Es bemerkte die weißen Linien am Himmel, aber der Durst ließ keine Gedanken darüber zu.

      Anders die Zwerge. Sie lagen im Gras, zwei von ihnen blickten nachdenklich zum Himmel.

      "Was mag das sein?", fragte Balamba.

      "Zwergengott hat seinen Karren geschoben", mutmaßte Migwer.

      "Den schiebt er doch immer, ohne Spuren zu hinterlassen."

      "Vielleicht war der Karren zu schwer mit Sünderseelen beladen."

      "Weshalb sind es vier Spuren, statt zwei?"

      "Weil Zwergengott einen Doppelkarren schob."

      "Oh, weh!", seufzte Balamba. "So viele Sünder sind gestorben?"

      Ailich fuhr hoch. "Hört auf, mit dem Scheiß!", knurrte er. "Es geht nicht um euren Zwergengott und um tote Sünder. Es geht um den Troll."

      Balamba und Migwer setzten sich ebenfalls auf. Beschämt blickten sie ins Gras. Sie wussten, dass Ailich nicht an Zwergengotts Existenz glaubte. Er gehörte der Gemeinschaft der Sektierier an, die behaupteten, die Zwerge wären aus Gestein entstanden, das unter der Wirkung von Feuer geborsten war. Das war natürlich Unsinn, denn jeder vernünftige Zwerg wusste, das Zwergengott mit seiner Gefährtin das Urzwergenpaar gezeugt hatte. Aber die Sektierier behaupteten es nun einmal anders. Weil sie großen Einfluss in den Zwergenstädten hatten und als rechthaberisch und streitsüchtig galten, widersprach ihnen niemand. Man ignorierte ihre Meinung. Das tat Zwergengott auch, sonst hätte er ihnen eine Seuche geschickt oder sonst etwas, um sie auszurotten.

      "Auf!", befahl Ailich. "Lasst uns den Troll suchen. Das wird euch auf andere Gedanken bringen."

      Das Mädchen verlor die Hoffnung, den netten Gast zu finden. Es stand im Gras, das ihm über die Knie reichte, und sah nur die weite Ebene ringsum. Mehr als jemals zuvor fühlte es sich alleine. Es sehnte sich nach jemandem, der kam und ihm half. Schon als es klein gewesen war, hatte das Mädchen wie eine Erwachsene denken und handeln müssen, zuerst bei den Eltern, dann bei den entfernten Verwandten in der Stadt. Mit den Jahren hatte es diese Rolle mehr und mehr eingenommen, und es hatte geglaubt, alles bewältigen zu können. Doch in diesem Grasland, das die Orientierung verschob, fühlte es sich klein und hilflos. Seine Augen suchten die Ebene ab. Eine große Gestalt in einem weißen Gewand war nicht zu sehen, nur das endlose Grün, das seine Sinne verwirrte.

      Nicht weit bemerkte das Kind, wie etwas sich im Gras bewegte. Zuerst entdeckte es einen Kopf mit einer roten Kappe, dann einen zweiten mit brauner Kappe, zuletzt einen dritten Kopf, der deutlich höher aus dem Gras ragte, mit einer grünen Kappe. Die drei Zwerge! Unwillkürlich glitt das Mädchen wieder in die Rolle einer erwachsenen Frau, die sich mit Selbstbewusstsein gegen die Härten des Lebens stemmte. "Was macht ihr denn hier?", rief es. "Wenn ihr einen ungewöhnlichen Gast sucht, weshalb schleicht ihr euch dann an mich heran?"

      Der Schwarzbart mit der roten Kappe funkelte das Mädchen böse an. "Das geht dich nichts an", brummte er. "Aber was machst du hier, Apfelwerferin? Spazierengehen bestimmt nicht!"

      "Habt ihr etwas zu trinken für mich, bitte?", fragte das Mädchen.

      Migwer und Balamba griffen bereitwillig nach ihren Feldflaschen, doch Ailich hob gebieterisch die Hand. "Hoho!", rief er. "Die Apfelwerferin ist durstig! Nun sind wir das Wirtshaus. Willst du etwas trinken, musst du dafür zahlen."

      Das Mädchen sah ihn trotzig an.

      "Ist ja gut", lenkte Ailich ein. "Du sollst etwas zu trinken bekommen. Wir sind schließlich keine Unzwerge."

      Balamba schnürte seine Feldflasche vom Gürtel, doch Migwer war schneller. Er zog den Verschluss aus der Flasche und reichte sie dem Mädchen. Misstrauisch roch das Kind daran.

      "Du kannst das Zeug trinken", sagte Ailich. "Es ist nicht vergiftet."

      Das Mädchen schmeckte eine bittere Flüssigkeit. "Das ist ja ekelhaft!"

      "Das ist Zähwurztee", erklärte Migwer. "An den Geschmack musst du dich gewöhnen, wenn du kein Zwerg bist."

      Egal wie der Zwergentee schmeckte, Durst siegte über Abscheu. Das Mädchen trank. Der Durst schwand, ein behagliches Gefühl breitete sich in dem Kind aus. "Das ist ein guter Tee", lobte das Mädchen. Es lächelte und legte den Kopf schief.

      Ailich bekam einen Verdacht. Er trat an das Mädchen heran und