Maryam Munk

Das Kamjuna


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schon eine Weile herüber, und die Brüder mochten vielleicht keine leere Drohung des Kindes sein. Knurrend gab er Migwer und Balamba ein Zeichen, worauf sie das Wirtshaus verließen.

      Das Mädchen führte kein angenehmes Leben. Es hatte keine Familie, keine Freundin. Der Wirt und seine Frau waren entfernte Verwandte, die es nach dem Tod der Eltern aufgenommen hatten, weil es für ein wenig Essen wie eine Erwachsene arbeitete. Sie waren nicht nett zu dem Mädchen. Niemand war nett zu ihm, außer dem seltsamen Gast, der sein Gesicht verborgen hatte. Sicher wollten die Zwerge ihm Übles antun. Er musste vor den Zwergen gewarnt werden. Doch nur das Mädchen konnte ihn warnen. Was hatte es schon zu verlieren? Es zuckte die Schultern und ging ins Treppenhaus.

      Niemals zuvor hatte Darwen Bartholome sich derart unwohl gefühlt. Nicht nur, dass der Fremde ihn mit sich zwang, er hielt ihn auch noch für einen Hexenmeister. "Ich bin ein Naturkundler", hatte Darwen ihm klarzumachen versucht, aber der Fremde konnte oder wollte nicht begreifen. "Wir können doch nicht einfach so aufbrechen", hatte Darwen eingewendet, "ohne Proviant. Ich habe kein Essen im Haus. Gleich ist es Mitternacht. Wir können nichts mehr kaufen. Habt Ihr Essen dabei?" Der Fremde hatte auf seinen Bauch geklopft, was vielleicht ein Scherz sein sollte. Dann hatte er den toten Gnom in das Wachstuch gewickelt und sich über die Schulter gelegt. Da hatte Darwen erkannt, dass der Entschluss des Fremden feststand. Heimlich hatten sie die Stadt verlassen. Ein schweigsamer Marsch zum Steinbruch folgte. Der Fremde ging voran. Mehrmals versuchte Darwen, den Abstand zu ihm zu vergrößern, indem er seine Schritte kürzer setzte. Doch stets blieb der Fremde stehen und drehte sich zu ihm um. Schließlich gab Darwen es auf, sich davonmachen zu wollen. Plötzlich waren schrille Laute zu hören, die wie das angstvolle Geschrei eines Esels klangen. Tatsächlich stand nicht weit ein Esel an einen Baum gebunden. Das Tier zitterte vor Furcht. Der Fremde legte ihm einen Arm um den Hals und schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Das Tier beruhigte sich.

      Inzwischen war es Tag geworden. Müde dahin stampfend, hielt Darwen sich am Schwanz des Esels fest. Der Fremde schien keine Müdigkeit zu spüren. Seitdem sie den Steinbruch verlassen hatten, führte er Darwen und den Esel über flaches Land. Darwen bemerkte, dass der Fremde die Richtung nach dem Stand der Sonne auszurichten schien, da er stets seinem Schatten folgte, der vor ihm durch das Gras kroch.

      "Können wir eine Rast machen?", bat Darwen. "Ich bin durstig und müde."

      Der Fremde ging schweigend weiter. Nach einer Weile blieb er stehen, als hätte er solange benötigt, über die Bitte nachzudenken. "Gut, eine Rast", sagte er.

      Ächzend ließ Darwen sich ins Gras nieder und streckte sich lang. Den Hut legte er auf dem Bauch ab. Der Fremde blieb neben dem Esel stehen. Er blickte über das Land und zur Sonne, die langsam den Himmel emporstieg. Darwen beobachtete ihn. Er fragte sich, was für ein Wesen diese Kreatur war. Er hatte von Orks und von Trollen gehört, aber weder von der einen noch von der anderen Art jemals ein Exemplar gesehen. Es hieß, Trolle wären riesenhafte Wesen, die zehn Fuß groß würden. Dieses Geschöpf, das scheinbar besorgt zur Sonne schaute, war zwar ein gutes Stück größer als der Naturkundler, doch keinesfalls riesig. Folglich konnte die Kreatur kein Troll sein. War es ein Ork? Blutgierig und mordlüstern, wie über Orks gesagt wurde, schien dieses Wesen nicht zu sein. Davon abgesehen, führten die Menschen einen Krieg gegen die Orks, deshalb war es unvorstellbar, dass einer von ihnen in einem Wirtshaus der Menschen saß und Bier trank. Und im Wirtshaus hatte Darwen den Fremden am Abend zuvor gesehen. Sein Blick fiel auf den toten Gnom, der neben der Kreatur im Gras lag.

      Darwen setzte sich auf. "Ihr wollt den Gnom doch nicht wirklich essen?", fragte er.

      Der Fremde blickte zu ihm hin. "Ich esse keine Frösche. Als ich ihn aufgeschnitten auf dem Tisch liegen sah, glaubte ich, du wolltest ihn essen."

      Dass der Fremde den Gnom als Frosch bezeichnete, überraschte Darwen angenehm. Dann liege ich mit meiner Theorie der Abstammung vielleicht nicht falsch, dachte er. "Weshalb glaubt Ihr, das Sumpfgnome Frösche sind?", wollte er wissen.

      "Das glaube ich nicht", antwortete der Fremde. "Joog nennt sie so."

      "Vielleicht stammen Gnome von Fröschen ab, und der, den Ihr Joog nennt, weiß das."

      "Kann sein. Ich weiß nichts von solchen Dingen."

      "Was seid Ihr, wenn ich fragen darf, für ein Geschöpf?"

      "Ich bin ein Troll", gab der Fremde Antwort. "Du kennst das Land", sagte er, ohne weiter auf Darwens Frage einzugehen. "Wo gibt es ein Versteck?"

      Der Naturkundler wunderte sich über die Frage. "In südlicher Richtung, bei den Hügeln, könnte eines sein."

      Der Troll nickte. "Geh voraus!", befahl er. "Nach Süden führt nicht der Weg der Schatten, aber ich vertraue dir."

      Darwen gehorchte. Immer wieder blickte er über die Schulter auf den Fremden, der mit regloser Miene folgte und den Esel am Seil führte. Also doch ein Troll, dachte er, wenn auch ein kleiner. Dann stimmen entweder die Geschichten nicht, die man sich über sie erzählt, oder es gibt unter ihnen auch Kleinwüchsige, wie unter den Menschen.

      Kapitel 15

      Zarder teilte Scharach mit, wo er den verspätet eingetroffenen Trupp der Südorks finden konnte. Einige Zeit später stand der Hexenmeister auf dem Balkon und beobachtete, wie die Orks durch das Tor der Festungsmauer liefen. Die Krieger trugen leichte Rüstung. Sie eilten auf zwei riesige Flugdrachen zu, bei denen Steingnome warteten. Zarder liebte diesen Anblick. Sah er Orks aus der Festung strömen, fühlte er sich wie berauscht. Dann empfand er sich gleichsam als Jäger, der seine Hunde auf das Jagdwild hetzte. Es waren zwanzig Orks. Sie kletterten über Leitern zu einem der Sitzkörbe hinauf, die zu jeweils zwei mit dicken Seilen an den Flanken der Drachen befestigt waren. Danach nahmen die Gnome ihre Plätze hinter den Häuptern der Drachen ein. Die Orks zogen die Leitern in die Körbe. Jeder Drache konnte in einem Korb um die dreißig Orks transportieren, ohne dass sein Flug beeinträchtigt wurde. So fand Scharachs Trupp in einem Korb Platz, in den anderen sieben sollten die Südorks sich verteilen. Der Steingnom, der auf einem kleineren Drachen einen Kontrollflug unternommen und die Südorks entdeckt hatte, hatte Zarder von etwa zweihundert Kriegern berichtet.

      Die Gnome stießen eiserne Stangen in die Nacken der Echsen, worauf diese sich in die Luft erhoben. Mit Schlägen auf die rechte oder linke Seite des Kopfendes, lenkten die Gnome die Drachen. Das Signal zur Landung bestand aus einem Hieb auf den Hinterkopf. Mit glänzenden Augen schaute Zarder den Flugechsen nach, die sich unter der Morgensonne nach Südwesten hin entfernten. In solchen Momenten fühlte er sich herrlich jung. Ein erheiterndes Bedürfnis überkam ihn. Die Bergtrollfrau schlief schon, und das würde sie bis zum Abend machen. Die Dienerschaft der Gnome interessierte sich nicht für das, was der Magier machte. Sie gehorchte seinen Befehlen, mehr nicht. Also konnte Zarder ungestört seinem Vergnügen nachgehen.

      Der Spiegel stand im Keller der Festung. Von seiner Existenz wusste nur der Hexenmeister. Heiter stieg Zarder die Steintreppen hinab. Vor der Kammer, worin der Spiegel sich befand, überlegte er einen Augenblick. Er entschloss sich, kurz die Zellen aufzusuchen, um sich einen kleinen Spaß zu gönnen. Mit gemeiner Freude schritt er zwischen den Zellen daher, woraus aus mancher leises Stöhnen zu vernehmen war. Die Orks müssen wieder frische Gefangene liefern, dachte Zarder, das Blut für den Wein wird knapp. Er begann eine Melodie zu pfeifen. Das Lied hatte seine Mutter gesungen, als er klein gewesen war und zu Bett gemusst hatte und eine kindliche Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Zarder liebte dieses Lied. Hin und wieder blieb er vor einer Zelle stehen, lauschte dem Stöhnen und pochte an das dicke Eichenholz der Tür. Lachend ging er zurück.

      Er war nicht verrückt. Dies behauptete Zarder von sich, und niemand widersprach ihm. Von den Gnomen war nichts anderes zu erwarten. Sie fürchteten ihn nicht, das wusste der Hexenmeister. Sie akzeptierten seine Überlegenheit, wie ein Rudel Hunde, das sich dem Menschen fügte. Nein, nicht ganz so. Hunde leckten ihrem Herren die Hände, das taten die Gnome nicht. Im Vergleich mit den Menschen, wurden Steingnome nicht alt. Mit dreißig waren sie Greise, und Vierzigjährige galten unter ihnen als steinalt. Steingnome hatten schon Zarders Mutter gedient. Nun dienten sie ihm. Sie kannten kein anderes Leben. Vermutlich lebten sie nach dem Motto: Wer mich