Maryam Munk

Das Kamjuna


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Die Bärwälder werden ihn für ein Monstrum halten, vielleicht sogar für einen Ork."

      "Hast du jemals von einem Troll gehört, der nicht verrückt ist?", fragte Ailich.

      Migwer strich sich nachdenklich durch den nussbraunen Bart. "Eigentlich habe ich nur von ihrer Grausamkeit gehört. Stimmen die Geschichten, wird der Troll in der Stadt ordentlich aufräumen."

      "Hört auf zu reden!", forderte Balamba. Er tätschelte den Kopf seines Streithammers. "Gehen wir in die Stadt und knöpfen uns den Troll vor."

      Balamba war ungewöhnlich groß für einen Zwerg. Seine Scheitellinie reichte bis zur Schulter eines durchschnittlich gewachsenen Menschenmannes. Er war ein wenig fett, doch sehr stark. Wäre sein Verstand ebenso kräftig gewesen, hätte er ein Krieger werden können, sogar ein Held, und seine Taten wären in die Chroniken der Zwerge eingegangen. Balamba war ein guter Kämpfer, doch ein Zwerg, der ohne Verstand, nur mit seinem Körper kämpfte, fand keinen Einlass in die Kriegergesellschaften. Zudem wuchsen ihm kaum Barthaare, und ein Krieger galt nur etwas, mit langem, dichtem Bart. Migwer war ein durchschnittlicher Zwerg, etwas zu schmal vielleicht. Seine Waffe war die Schleuder, in deren Gebrauch er ungeschlagen war.

      "Also, was ist jetzt?", drängte Balamba.

      "Ja, gehen wir", entschied Ailich.

      Die Stadt hatte sich mit Menschen gefüllt, wie ein Bienenstock mit Bienen. Browag konnte kaum ein paar Schritte gehen, ohne dass jemand ihm in den Weg trat. Frauen und Männer eilten an ihm vorbei, Kinder bedachten ihn mit neugierigen Blicken, Hunde strichen schnüffelnd um seine Beine. Das Gedränge war dem Troll zu viel. Er verließ das Stadtzentrum, ging zurück in die Gassen und aus Bärwald hinaus. Westlich der Stadt stand eine Baumgruppe. Dorthin ging Browag. Bäume boten Deckung, und vielleicht gab es dort Wasser. Kaum war er zwischen die Bäume getreten, brach der Boden vor ihm ab, als wäre er mit riesigen Schaufeln zu einer Grube ausgehoben worden. Unterhalb des Hangs befand sich eine weite kahle Fläche. Browag suchte nach Wasser, fand aber keines. Über die Mittagszeit versteckte er sich in einem dichten Gebüsch, den Mantel eng um sich gezogen, den Kopf unter der Kapuze verborgen. Auch am Nachmittag rührte er sich nicht aus dem Versteck. Er wartete auf den Abend, um in der Dämmerung wieder in die Stadt zu gehen. Vielleicht bot sich ihm dann eine Gelegenheit, an Geld zu kommen. Browag hoffte auf ein Wunder. Und das Wunder geschah.

      Am späten Nachmittag störte ein Gesang krächzend die Stille. Zuerst glaubte Browag einen Vogel zu hören, der kläglich nach Hilfe rief. Aber es war eine menschliche Stimme, die Stimme eines Mannes. Sie wurde lauter und lauter und quälte das Gehör des Trolls. Browag zog die Kapuze vom Kopf. Er lauschte aufmerksam. Der raue Gesang näherte sich von links. Mit ihm kamen andere Laute, schwerfällige Tritte eines vierfüßigen Tieres. Der Troll bog Zweige auseinander, um besser sehen zu können. Ein großer, dicker Mensch, in ein weißes Gewand gehüllt, den Kopf mit einem Kapuzentuch bedeckt, ritt auf einem Esel heran. Das Tier machte einen erschöpften Eindruck. Mit unsicheren Tritten schleppte es sich voran. Es schien das Gewicht seines Reiters kaum tragen zu können. Der Mensch zügelte den Esel und glitt ächzend von dem Tier. Er band es an einen Baum und schritt pfeifend zum Grubenhang. Browag fand das Gewand des Mannes praktisch. Er hätte es bequem über seine Körpermasse streifen und sich darin unauffälliger in der Stadt bewegen können, als in einem Soldatenmantel. Browag schlich dem Mann hinterher.

      Der stand vor einem Baum und hob das Gewand an. Ein knackendes Geräusch machte ihn aufmerksam. Er drehte sich um und erstarrte vor Schrecken. Der Mann hatte schon in manches grausige Gesicht gesehen, das brachte sein Beruf als Kaufmann mit sich. Er war ein unnachgiebiger Geschäftsmann und ein geiziger Mensch. Aus Geiz ließ er seinen schweren Körper von einem Esel tragen. Ein Pferd wäre ihm in Kauf und Haltung teurer gekommen. Dabei besaß der Mann viel Geld. Das hatte er durch harte Geschäftspraktiken erworben, und diese hatten so manches Gesicht in eine von Wut verzerrte Fratze verwandelt. Die konnte bei einem hässlichen Menschen schon sehr grausig aussehen. Doch alle diese Fratzen kamen in ihrer Grässlichkeit nicht an das Gesicht heran, das er nun vor sich erblickte. Der Kaufmann glaubte, die Dämonen wären der Unterwelt entsprungen und einer würde sich ihm zeigen. Selbst das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, riss der Mann die Arme hoch, um den Dämon abzuwehren.

      Browag hatte nicht vor, den Mann zu töten. Er wollte nur dessen Gewand. Als der Mann die Arme gegen ihn bewegte, glaubte der Troll sich angegriffen. Browag schlug ihm die Arme beiseite, umfasste seinen Kopf und verdrehte ihn mit einem Ruck. Die Halswirbel knackten. Die Augen des Mannes weiteten sich. Die Zunge glitt aus dem offenen Mund. Der Mann zuckte, dann hing er schlaff in Browags Händen. Der Troll ließ den Körper fallen. Er zog das Gewand von der Leiche, das er gegen den Soldatenmantel tauschte, und setzte das Kapuzentuch auf. In die Innenseite des Gewandes waren Taschen genäht, in einer fand Browag einen prall gefüllten Geldbeutel. Der Troll schleppte die Leiche zum Hang, warf sie in die Grube. Danach machte er sich auf den Weg in die Stadt.

      Ailich schritt rechts der Straße entlang, Migwer links. Sie hielten die Augen auf das Gras gerichtet, das an die Steine grenzte. Möglicherweise hatte der Troll die Straße verlassen. Balamba ging auf der Straßenmitte. Er schaute umher, ob er den Troll irgendwo sah. Wie zuvor Browag, kamen sie zur Stadt. Ihr Weg führte ebenfalls zum Marktplatz, und sie entdeckten auch den Zwergenstand beim Brunnen. Im Grenzgebiet zwischen den westlichen Ländern der Menschen und den östlichen der Zwerge, lebten in jeder Stadt Zwerge und Menschen gemeinsam. Sie kamen miteinander aus, und in dem Krieg, der sie gleichermaßen bedrohte, unterstützten die Zwerge die Menschen.

      "Seid gegrüßt, Kameraden!", rief Ailich den Zwergen am Stand zu.

      Die Menschen überließen es den Zwergen, ihre Sprache zu erlernen. Das war mitunter ein Vorteil, denn Menschen brauchten nicht zu wissen, was Zwerge miteinander zu bereden hatten.

      "Seid gegrüßt!", entgegnete ein älterer Zwerg mit ergrautem Bart. "Ich bin Meister Klinket." Er deutete auf die anderen Zwerge, die grüßend die Köpfe neigten. "Dies sind meine Gesellen."

      Es war nun an Ailich, sich und seine Begleiter vorzustellen. "Ailich Steintreter, Logistiker im Dienst der Armee, zur Zeit in eigener Angelegenheit unterwegs. Dies sind Migwer Eisenberg und Balamba Felshauer."

      "Ah, der Krieg!", bemerkte Klinket. Er drückte den Daumen gegen einen Nasenflügel und schnäuzte aus dem anderen. "Es heißt, die Orks rücken stetig vor."

      "Das Grenzland werden sie nicht überrennen", versicherte Ailich.

      "Wenn Ihr es sagt ..."

      Ailich blickte über den Stand, worauf allerlei Handwerks- und Haushaltsgegenstände auslagen. "Gute Ware."

      "Gut?" Klinket schien empört zu sein. "Hervorragend! Das Beste, was Meister und Gesellen herstellen. Die Menschen von Bärwald vertrauen in unsere Ware." Der Meister nahm eine kleine Klinge, deren Holzstiel der Größe einer Menschenhand angepasst war. "Wollt Ihr damit einen Apfel schälen, fällt die Schale fast von alleine ab."

      Ailich pfiff anerkennend, obwohl ein Schälmesser ihn nicht interessierte. "Wir sind nicht in die Stadt gekommen, um etwas zu kaufen. Wir suchen jemanden ... ein Wesen ... einen Troll."

      Klinket hob erstaunt die Brauen. "Einen Troll? Soviel ich weiß, leben Trolle in den Bergen. Habt Ihr einen gefangen, der Euch entlaufen ist?"

      "Ich will es so sagen, Meister: Es gibt einen Troll, der eine Rechnung bei uns offen hat."

      "Das ist Eure Sache. Sucht den Troll, doch in Bärwald werdet Ihr ihn nicht finden."

      "Er trägt einen Armeemantel."

      Der Meister schüttelte den Kopf. "Auch einen Troll im Armeemantel werdet Ihr in dieser Stadt nicht finden."

      "Wir sehen uns um."

      "Wenn Ihr in Bärwald übernachten wollt, sucht Euch ein Gasthaus im Zwergenviertel", riet der Meister.

      "Könnt Ihr eines empfehlen?", fragte Ailich.

      "Im Zwergenviertel ist jedes Gasthaus zu empfehlen."

      "Wo finden wir das Viertel?"

      Der Meister deutete am Brunnen vorbei. "Geht in diese Richtung."

      Ailich