Maryam Munk

Das Kamjuna


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empfand er als ausreichende Strafe dafür, dass er am Morgen den Aufbruch seines Trupps verschlafen hatte.

      Über die Felskante hinweg sah Snees einen rosa Schein. Noch immer klangen Gebrüll und das Klirren der Waffen zu ihm hoch, doch der Kampflärm war schwächer geworden. Die Streiter beider Parteien rangen mit den letzten Kräften. Ob die Bogenschützen noch in ihren Stellungen lauerten, wusste Snees nicht. Aber es war den Menschen nicht gelungen, die Nordorks in das Schussfeld der Schützen zu treiben. Bald würde die Schlacht ein Ende haben, denn weder Menschen noch Orks vermochten in der Dunkelheit zu kämpfen. Anders als Gnome wurden Menschen und Orks ohne Tageslicht fast blind. Ein Gnom konnte noch in der Finsternis sehen. Ihm genügte das Mondlicht. Auf diese Fähigkeit setzte Snees.

      Nach einer Weile endete der Kampflärm. Orks und Menschen zogen sich in ihre Heerlager zurück. Snees Weg wurde frei. Er äugte aus der Höhlung, horchte in die Dunkelheit, die still und stiller wurde. Diese Ruhe behagte ihm nicht. In den heimatlichen Sümpfen wurde es niemals so still. Im Gegenteil, nachts mehrten sich die Geräusche. In den Nächten quakten Frosche. Wasservögel kreischten, bevor die nächtlich jagenden Kaimane sie in die Tiefe zogen. In den Sumpfnächten ließ sich gut schlafen. In diesem Land waren die Nächte so ruhig, als würde mit der Dunkelheit alles Leben sterben.

      Sterben! Snees Gedanken kehrten aus der Heimat zurück. Der Mond warf dumpfes Licht über die Berge. Für Menschen- und Orkaugen mochte die Nacht schwarz sein. Ein Gnom sah sie in hellem Grau.

      Als Snees überzeugt war, dass die Bogenschützen ihre Stellungen verlassen hatten, kroch er aus der Höhlung. Er schnürte den Säbel eines toten Artgenossen auf den Rücken, denn es schien ihm ratsam eine Waffe mitzunehmen. Wie den eigenen Säbel, hatte er auch seinen Gepäcksack in der Panik, als die Pfeile zu fliegen begannen, verloren. Also hing er sich den Gepäcksack eines anderen toten Artgenossen um.

      Snees warf einen Blick in die Höhe. Nur das Gebirge zeigte sich ihm, unter einem für Gnomenaugen hellen Himmel, an dem die Sterne fast blendend strahlten. Er äugte über die Felskante. Unten am Berg brannten in weitem Abstand zueinander die Feuer der feindlichen Heere. Der Sumpfgnom schob den dünnen Leib über die Kante und begann den Abstieg. Geschmeidig kroch er über das Gestein. Die Nacht bleichte das gelbe Geschöpf grau. Hoch über Snees flammte ein Licht auf, das seinen Schein wie ein Blitz in das Gebirge warf. Der Gnom schaute empor. Er sah nur die Sterne und den Mond. Darüber, was das Licht gewesen sein mochte, macht Snees sich keine Gedanken. Er schob sich weiter über den Fels den Berg hinab. Eine kriechende Gestalt, im Dunkel des Gebirges ...

      Kapitel 2

      "Hast du in der Nacht das Licht bemerkt?", fragte Indiga Joog.

      Browag knurrte bejahend.

      "Hast du eine Ahnung, was es gewesen sein könnte?"

      Der Troll schüttelte den Kopf.

      "Ich auch nicht."

      Joog betrachtete Browag. Seit zwei Jahren hing der Troll wie ein zweiter Schatten an ihm. Er hatte Browag das Leben gerettet, zwar versehentlich, aber das machte für den Troll keinen Unterschied. Damals hatte sich die Kriegsfront ein paar Meilen weiter westlich befunden. In den Wäldern, die sich an das Gebirge schmiegten, war Joog als Kurier unterwegs gewesen. Es hieß, diese Wälder seien die Heimat der Tieflandtrolle, eine Trollart, die von kleinerem Wuchs als ihre gigantischen Verwandten, die Bergtrolle, waren, und es sollte nur noch wenige von ihnen geben. Anders als den Bergtrollen, die sich seit Beginn des Krieges in die Höhlen des Hochgebirges zurückgezogen hatten, bot sich den Tieflandtrollen keine Möglichkeit den Kriegsparteien auszuweichen. Trafen ihre in den Wäldern umherstreifenden Sippen auf Orks, wurden sie von diesen massakriert. Stießen sie auf Menschen, erging es ihnen ebenso. Das war alles, was Joog über Tieflandtrolle wusste.

      Nach einigen Tagen friedlicher Ruhe im Wald, wurde die Stille von Geräuschen gestört, die nach einem fliehenden Tier klangen. Joog zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Bogensehne. Schon einmal war er einem Hirsch begegnet, der vor Wildhunden floh. Dabei hatte er die Erfahrung gemacht, dass ein solches Tier, das plötzlich einen Menschen vor sich sah, nicht unbedingt auswich, sondern sich den geraden Weg erzwang. Damals hatten die Spitzen des Hirschgeweihs Joog das Jagdhemd zerrissen. Das sollte nicht noch einmal passieren. Ein modisches Jagdhemd war teuer.

      Joog sah eine helle Gestalt auf sich zulaufen. Es verwirrte ihn, dass dieses Wesen aufrecht auf zwei Beinen rannte. Der Wald war dämmrig, und Joog stand reglos neben einem Baum. Trotzdem schien das Wesen ihn zu sehen, denn Joog hatte den Eindruck, dass es bewusst auf ihn zu lief. Er schoss den Pfeil ab.

      Das Wesen reagierte blitzschnell. Es warf sich zur Seite, der Pfeil pfiff an ihm vorbei und drang in die Brust eines anderen Wesens, das dicht hinter ihm lief. Mit einem weiteren Pfeil auf der Sehne, sicherte Joog nach allen Seiten. Das helle Wesen verbarg sich im Gebüsch. Es schien Joog zu beobachten. Das andere Geschöpf war tot. Es hatte braune Haut, einen kantigen Kopf, einen extrem breiten Rumpf und Muskeln, von denen ein Menschenmann nur träumen konnte. Aus der offen stehenden Schnauze ragten kleine Reißzähne. Dieses Wesen war ein Nordork.

      Joog wandte sich der Kreatur im Gebüsch zu. Er forderte sie auf, sich zu zeigen. Sie reagierte nicht. Weil Joog den Eindruck hatte, dass von ihr keine Gefahr drohte, nahm er den Pfeil von der Sehne. Nun trat das Geschöpf aus dem Gebüsch. Es war kleiner als Joog, ragte ihm nur bis zur Brust, und es sah seltsamer aus als ein Ork. Die Haut war bleich. Den massigen Kopf bedeckte rotbraunes Fell, das sich bis auf den Rücken und über die Schultern zog. Die Nase war breit, die Stirn flach. Der nackte Körper des Wesens war stämmig und muskulös, schien aber noch nicht ausgewachsen zu sein. Aus grauen Augen schaute die Kreatur zu Joog auf. Der Blick war unergründlich. Irritiert machte der Abenteurer sich wieder auf den Weg. Das Wesen folgte ihm.

      Nachdem Browag - diesen Namen hatte Joog dem Troll gegeben - die Sprache der Menschen erlernt hatte, die er nur auf eine raue Weise zu sprechen vermochte, erfuhr Joog, was dem Trollkind widerfahren war.

      Im frühen Licht des Tages hatte ein Orktrupp ein Lager der Tieflandtrolle entdeckt. Die Orks fielen über die noch schlafende Sippe her und töteten die Trolle innerhalb von Augenblicken. Nur Browag, der vor dem Morgengrauen erwacht war und sich in der Gegend herumtrieb, entging dem Massaker. Als der kleine Troll zum Lager zurückkehrte, fand er seine Sippe tot vor, und wenig später fanden die Orks ihn. Mehrere Tage schleppten sie das Trollkind mit sich. Warum sie es am Leben ließen, mochte einer Laune entsprungen sein. Als sie eines Tages eine Suppe kochten und einer der Orks, vermutlich um eine besondere Zutat für die Suppe zu beschaffen, Browag kastrieren wollte, fand der junge Troll den Mut, sich zu wehren. Er griff den Ork an, biss ihm ein Stück Fleisch aus der Hand, die das Messer hielt, und lief davon. Ein anderer Ork setzte ihm nach. Dann sah der kleine Browag Joog.

      Seitdem waren zwei Jahre vergangen. Aus dem kindlichen Troll war ein erwachsener Troll von sechs und einem halben Fuß Größe geworden, zu dem nun Joog aufschauen musste. Der Abenteurer staunte noch immer darüber, wie rasch Trollkinder wuchsen.

      Indiga Joog blickte auf den Becher, der vor ihm stand. Der Tee darin war kalt geworden. "In den südlichen Steppen habe ich fliegende Echsen gesehen", sagte er. "Manche stießen Feuer aus den Rachen." Er sah den Troll an, der ihm am Brettertisch gegenüber saß. "Vermutlich war es aber keines dieser Tiere."

      "Wenn doch?", fragte Browag. Das Gesicht des Trolls wirkte stets starr. Ein Ausdruck von Härte schien die Miene wie in Stein gemeißelt zu haben.

      Joog zuckte die Schultern. "Wenn Orks oder Gnome gelernt haben, die Echsen zu beherrschen ..."

      Browag ließ den abgenagten Schweineknochen auf den Tisch fallen. Mit einer Kralle entfernte er ein Stück Fleisch, das ihm zwischen den Zähnen hing. "Wir sollten etwas tun", meinte er.

      Indiga Joog überlegte. "Kannst du dich an die Pläne erinnern?"

      "Was du gemalt hast?"

      "Ja!" Joog sprang auf und holte Papierrollen aus einer Truhe.

      Der Troll räumte den Tisch ab, indem er was sich darauf befand mit dem Arm von den Brettern fegte.

      Joog