Maryam Munk

Das Kamjuna


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die Hebel und erklärte dem Troll, welcher Hebel was bewirkte und in welcher Reihenfolge er die Hebel ziehen oder in die ursprüngliche Stellung zurück drücken musste, damit er die Maschine in der Luft lenken konnte. Zuletzt erklärte Joog, wie die Lanzen abgeschossen wurden. Zwar verstand Browag nicht, wie Hebelzüge über Riemen und Winden auf Flügelklappen und Lanzen wirkten, doch er prägte sich die Handgriffe, die Joog ihm zeigte, in exakter Reihenfolge ein.

      "Begriffen?", fragte der Abenteurer schließlich.

      Browag knurrte entschieden.

      Joog stieg aus der Maschine. Nach zwei Jahren staunte er noch immer über das bemerkenswerte Gedächtnis des Trolls. Dessen Beobachtungsgabe und Fähigkeit sich noch nach Jahren an Details erinnern zu können, die ein Mensch schon lange vergessen hätte, beeindruckten Joog sehr. Der Abenteurer war davon überzeugt, dass sein Freund die Flugmaschine handhaben konnte. Er deutete auf ein Metallgebilde in Form eines Trichters, das in einem kleinen Holzgestell seitlich an der Maschine befestigt war. "Durch dieses Blech kannst du dich während des Luftritts mit mir verständigen. Du musst nur in das dünne Ende brüllen." Joog lächelte. Auch im Brüllen konnte kein Mensch es mit dem Troll aufnehmen. Der Abenteurer gab seinem Freund einen Klaps auf die mit Fell bewachsene Schulter. "Gehen wir nochmal pinkeln. Dann warten wir, bis die Drachen kommen."

      Joogs einzige Leibwaffe war ein Jagdmesser, das er am Gürtel trug. Browag besaß keine Waffe. Ihm genügte seine Kraft. Einem Gefühl folgend, ließ der Abenteurer sich ein Seil bringen, das er sich quer über den Rumpf wickelte. Schon oft hatte ein Gefühl ihm das Richtige geraten. Im oder auch über dem Gebirge ein Seil dabei zu haben, konnte sich als hilfreich erweisen. Joog warf einen Blick auf den Troll. Browag schien für den Luftritt bereit zu sein. Aber wieder sagte ein Gefühl Joog, dass noch nicht alles stimmte. Er überlegte und kam darauf. In der heißen Zeit des Jahres musste Browag die Mittagssonne, die seinen Körper regos machte, meiden. Zwar war es schon lange nicht mehr Mittag, aber wenn er in der Flugmaschine aufstieg, kam er der Sonne näher. Erstarrte der Troll während des Luftritts, konnte dies seinen Tod bedeuten.

      "Browag, du musst deinen Körper verhüllen, sonst ist es zu gefährlich für dich, der Sonne entgegen zu fliegen."

      Der Troll blickte zum Himmel auf, dann nickte er. Joog erteilte einem Soldaten die Anweisung, einen passenden Kapuzenmantel zu besorgen. Jeder Soldat hatte einen schlichten grauen Mantel, der ihn vor Regen schützte, aber die Mäntel waren alle zu klein und zu eng für den Troll. Schließlich fand sich ein großer und dicker Soldat, dessen Mantel Browag passte.

      Dem Abenteurer wurde das Warten lang. Unruhig schritt er über das Plateau, überprüfte mehrmals den Zustand der Flugmaschinen und beobachtete immer wieder den Himmel. Browag saß gleichmütig auf einem Felsbrocken. Joog bewunderte die Gelassenheit des Trolls, von der er gerne etwas gehabt hätte. Schon als kleines Kind war Joog von Unruhe erfüllt gewesen. Anders als seine Geschwister, hatte er sich nicht stundenlang mit einem Spielzeug beschäftigen können. Ständig war er der Mutter um die Füße gekrabbelt und hatte sie bei der Hausarbeit behindert. Der Vater war ein einfallsreicher Mann gewesen. Er half der Mutter aus der Verzweiflung, indem er Bretter zu einem Holzboden vernagelte, den er mit Latten umzäunte, die er auf den oberen Enden mit Leisten verband. In diesen Käfig wurde Joog gesteckt. Der Junge wuchs, die Latten wurden länger. Joog wäre nicht seines Vaters Sohn gewesen, hätte er nicht dessen Einfallsreichtum geerbt. Eines Tages kam er auf die Idee, mit dem Horn eines hölzernen Spielzeugochsen einen Nagel aus dem Lattenzaun zu drehen. Eine Latte ließ sich verschieben. Durch die Öffnung kroch der kleine Joog hinaus. Seit jenem Tag ließ sich Joogs Drang die Welt zu erkunden nicht mehr zügeln. Je älter er wurde, desto mehr wuchs auch die Welt, die er durchstreifte. Mit sechzehn Jahren verließ er Eltern und Geschwister und zog endgültig in die Fremde. Und mehr noch als der Vater, entwickelte Joog ausgefallene Ideen. Der Vater wäre stolz auf ihn gewesen, hätte er die Flugmaschinen sehen können.

      Joog hatte lange nicht mehr an die Eltern gedacht, und lange war es her, seit er zuletzt bei ihren Gräbern gestanden hatte. Er schaute auf Browag. Dachte auch der Troll manchmal an seine Eltern? Was Browag diesbezüglich empfand, war Joog unklar. Über Gefühle sprachen sie nicht. In einem Gasthof war es einmal geschehen, dass Joog das Essen vergessen und über den dampfenden Eintopf auf die Wirtin gestarrt hatte, die sich mit Bierkrügen bepackt zwischen den Gästen bewegte. Sie war eine kräftige Frau gewesen, mit wallenden Haaren und großen Brüsten. Ihr offener Blick und ihr ehrliches Lachen hatten selbst dem übellaunigsten Gast ein Lächeln ins verhärmte Gesicht gezaubert. Browag war aufgefallen, dass sein Freund nicht mehr aß. Der Troll hatte über die Schulter zur Wirtin gesehen, die sich hastig abwendenden Blicke der anderen Gäste ignoriert und sich wieder seinem Teller gewidmet. "Was denkst du?", hatte Browag gefragt. Joog hielt die Augen weiter auf die Wirtin gerichtet, wobei er verträumt lächelte. "Manchmal empfinde ich eine ganz bestimmte Sehnsucht", hatte er gesagt. "Hast du keinen Hunger?", hatte Browag wissen wollen. Joog hatte ihm den Teller zugeschoben und geantwortet: "Doch, sehr sogar!". Das war alles gewesen.

      Joog wurde beim Namen gerufen. Er drehte sich um. Ein Offizier stand vor ihm.

      "Die Kundschafter melden den Anflug der Drachen", berichtete der Soldat. "General Pellgard lässt fragen, wann Ihr den Luftritt beginnt."

      "Sagt dem General, mein Freund und ich werden den Luftritt beginnen, sobald wir die Drachen sehen."

      Der Offizier salutierte und ging.

      Meister Salner löste sich aus der Zwergengruppe, die abseits saß und getrocknete Früchte kaute. Den Zipfel seines Barts umfasst, schritt er zu Indiga Joog. "Der Wind weht stark, und er kommt von Süden", bemerkte er. "Das ist günstig. Falls Ihr den Ritt beginnen wollt, bevor der Wind wechselt oder zu stark weht?"

      "Nein. Aber haltet eure Beile bereit!"

      Keine halbe Stunde später war es soweit. Am nördlichen Himmel wurden über der Kampffront geflügelte Wesen sichtbar. Joog forderte Browag auf, in seine Flugmaschine zu steigen. Die Zwerge begaben sich zu den Holzpflöcken. Neben jeden stellte sich einer der kleinen Männer, mit einem Beil in der Hand. Der Wind riss an den Flugmaschinen, als könnte er es nicht erwarten, sie mit sich zu tragen.

      "Drei!", rief Indiga Joog.

      Die Zwerge umfassten die gestrafften Seile.

      Joog schaute auf Browag, der sich auf den bevorstehenden Ritt konzentrierte. Im Soldatenmantel sah er seltsam aus. "Zwei!"

      Die Zwerge griffen fester zu.

      "Eins!"

      Die Zwerge hoben die Beile.

      "Los!"

      Die Beile hackten gleichzeitig nieder. Die Klingen durchschnitten die Seile. Augenblicklich hob der Wind die Flugmaschinen an. Die Zwerge sprangen vor den wie Peitschen schlagenden Stricken beiseite.

      Joog zog die Hebel, die die Klappen in den unteren Bespannungen der Flügel öffneten, sodass die Windströmung gegen die oberen Flügelplanen gelenkt wurde. Schon nach wenigen Sekunden brach Joog der Schweiß aus. Die Lederplanen knatterten. Der Wind schüttelte die Maschine durch. Doch sie stieg und wurde nordwärts getragen. Joog wagte einen Blick auf das Plateau. Soldaten und Zwerge starrten den Flugmaschinen nach. Joog schaute nach rechts. Er sah Browag Hebel ziehen. Der massige Körper des Trolls schien zu groß für die Flugmaschine zu sein. Joog fragte sich, wie Browag es fertigbrachte, trotzdem darin zu sitzen.

      Das Gewicht des Trolls machte es dem Wind schwierig, dessen Maschine in der Höhe zu halten. Browag erinnerte sich genau, mit welchen Hebeln er welche Klappen betätigen konnte und welche Klappen er an welchem Flügel öffnen oder schließen musste, um die Maschine in eine bestimmte Richtung zu lenken. Nachdem sie mehrmals abgedriftet war, hielt sie den Kurs nach Norden. Anders, als Joog, geriet Browag nicht ins Schwitzen. Der Troll war nicht aufgeregt. Er tat, was getan werden musste, ohne dass seine Gefühle Saltos schlugen. Sein Blutdruck erhöhte sich nicht. Sein Puls schlug weiter einen ruhigen Rhythmus. Statt in einer Maschine, die durch die Luft flog, hätte Browag in einem Wirtshaus bei einem Humpen Bier sitzen können. Für ihn machte es keinen Unterschied.

      Die Flugmaschinen stiegen weiter auf. Der Wind trug sie rasch zur Kampffront. Das Blut rauschte Joog in den Ohren. Das Rauschen