Maryam Munk

Das Kamjuna


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      Kapitel 5

      Zerk hatte das Gefühl, sich in einer unendlichen Weite zu verlieren. Zwar krümmte der Fluss sich wieder nordwärts, aber ein Gebirge war noch immer nicht zu sehen. Vor dem Aufbruch aus der Heimat hatte der Veteran, der den Kriegstrupp befehligte, den unerfahrenen Orks erklärt, was ein Gebirge war. Aber sich die Felsmassive, die sich im Westen des trockenen Landes zweihundert Fuß hoch streckten, als bis zum Himmel reichende Gebilde vorzustellen, gelang Zerk nicht. Dazu sollte das Gebirge so breit sein, dass es fast nicht zu überqueren war, und es sollte unmöglich sein, seiner Länge zu folgen. Wüsste Zerk nicht, dass ein Ork niemals log, er hätte die Worte des Hauptmanns wie eine zerbrochene Axt fortgeworfen.

      Die Mittagssonne schien warm. Zerk war noch vom Frühstück satt - einem späten Frühstück, denn zwischen den Bäumen hatte er wieder zu lange geschlafen. Eigentlich hätte Zerk zufrieden sein können, aber er war es nicht. Seine schwarzen Augen suchten den kreisrunden Horizont ab. Nichts als Gras!

      Nach dem Erwachen hatte Zerk nicht lange am Flussufer warten müssen, bis er eines der seltsamen Tiere im Wasser hatte greifen können. Es stillte seinen Hunger. Weil er im Sonnenlicht, das den seichten Rand des Flusses bis auf den sandigen Grund durchstach, noch mehrere der Tiere sah, griff er sich noch eines. Er warf es ins Gras und wartete, bis sein Leib nicht mehr zuckte und das Maul aufhörte zu schnappen. Mit dem toten Tier über der Schulter machte Zerk sich auf den Weg. Sich am Sonnenstand orientierend, folgte er dem Verlauf des Flusses, dessen Wasser ihm zwischen den geschlängelten Ufern entgegen floss.

      Einem Führer folgen, der die Richtung kannte, war der einfache Weg, ein Ziel zu erreichen. Mit jedem Schritt wurde Zerk die Wahrheit dieser alten Orkweisheit ein wenig mehr bewusster. Doch mit jedem Schritt begriff er auch mehr, dass es ebenso möglich war, alleine sein Ziel zu erreichen. Ohne die Gemeinschaft fühlte Zerk sich zwar unbehaglich, aber er war stolz darauf, alleine klarzukommen. Er schenkte dem Fluss ein Grinsen und tätschelte das Tier auf seiner Schulter.

      Die Baumgruppen wurden häufiger und größer, begannen kleine Wälder zu bilden. Sie gaben Zerk die Gewissheit, auch die kommende Nacht nicht unter freiem Himmel verbringen zu müssen. Natürlich boten Bäume keinen Ersatz für die Behaglichkeit in den Erdhütten der Heimat, doch sie vermittelten das Gefühl, der Nacht nicht schutzlos ausgesetzt zu sein. Zerk setzte sich ins Gras, nahm das tote Tier von der Schulter und betrachtete es. An einigen Stellen hatte die Haut sich vom Fleisch gelöst. Auch hatte das Tier einen Geruch angenommen, der dem Ork behagte. Er riss es in zwei Teile und biss in eine Hälfte. Das Fleisch schmeckte angenehmer als das der anderen Wassertiere, die er sofort nach deren Tod gegessen hatte. Zerk konnte nicht widerstehen. Nach der Mahlzeit schaute er über das Land. Nordwärts verschwand der Fluss in einem Wald, der sich bis weit in den Westen dehnte. Im Osten und Süden setzte das Gras sich fort, ein scheinbar endloses Heer grüner Halme, die sich im Wind bewegten. Zerk beschloss, noch eine Weile sitzen zu bleiben und die Sonne auf sich scheinen zu lassen.

      Nachdem Snees in der Nacht den Berg hinabgeklettert war und die Feuer der Heerlager hinter sich gelassen hatte, hatte sich im Osten schon der neue Tag als grauer Schimmer über dem Gebirge gezeigt. Snees hatte gehofft, vor dem ersten hellen Schein den Fluss zu erreichen, den hinauf er mit den Artgenossen gerudert war. In jedem Breitboot zwanzig Gnome, die ihre Paddel rhythmisch in das Wasser stießen. Im Heck ein Häuptling, der das Steuerruder hielt und die Mannschaft schreiend antrieb. Vielleicht, so hatte Snees gehofft, konnte er beim Fluss ein wenig schlafen, bevor er die Fahrt begann, denn der letzte Schlaf war lange her, und der Abstieg vom Berg hatte ihn zusätzlich erschöpft.

      Immer wieder hatte Snees durch die Lücken im Blätterdach der Bäume zu den Sternen gesehen. Die Sterne waren das einzig Vertraute, dass ihn auf seinem Weg begleitete. Plötzlich hatten ihn Lichter abgelenkt. Es waren kleine Feuer gewesen, die zwischen den Bäumen brannten. Für Snees´ Augen hatten sie den Wald im Umfeld ihres Scheins mit grauem Licht erhellt. Snees war auf die Feuer zu geschlichen. Hinter einem Baum versteckt, hatte der Gnom an die zwei Dutzend Feuer gezählt, die auf einer Lichtung brannten. Um jedes lagen schlafende Orks. Einige Wächter umschritten die Lichtung, die Blicke in die Finsternis gerichtet. Snees hatte den Gepäcksack und den Säbel hinter dem Baum abgelegt und sich am Stamm emporgezogen. Von einem der unteren Äste hatte er das Lager überblicken können. Er hatte etwa zweihundert Krieger gezählt. Es waren schwärzliche Südorks. Der Gnom hatte sich gefragt, weshalb die Orks aus dem Süden ihre Verwandten im Norden in deren Krieg gegen die Menschen unterstützten. Aber das war nicht seine Angelegenheit. Schlimm genug, dass sie die Sumpfgnome mit in die Sache zogen. Snees war am Stamm hinab geglitten, hatte Gepäcksack und Säbel aufgenommen und war davongeschlichen.

      Als der Morgen den Wald zu erhellen begann, hatte er endlich den Fluss erreicht. Aber es war nicht jene Stelle gewesen, an der die Boote lagen. Er hatte die Augen aufgezwungen, deren Lider von Müdigkeit schwer waren. Gerne hätte er sich ins Gras gelegt, um zu schlafen, doch er musste die Boote finden. Der Orktrupp, den er in der Nacht gesehen hatte, beunruhigte ihn. Vielleicht zogen dem Trupp andere Orks nach, die ihren Weg den Fluss entlang nahmen. Nur auf dem Fluss würde Snees unentdeckt bleiben. Einem vorüber gleitenden Boot würden Orks keine Beachtung schenken, wenn sie es in ihrer Unkenntnis überhaupt als Boot erkannten. Vermutlich würde ihnen der Anblick nur seltsam erscheinen: Ein Gebilde aus Holz, das auf dem Wasser trieb.

      Seit einer Nacht und einem halben Tag hatte Snees nichts mehr gegessen. Gnome waren zähe, genügsame Wesen, die viele Tage ohne Nahrung leben konnten, ohne dass ihre Körper merklich an Gewicht verloren. Allerdings vermochte kein Gnom lange Zeit ohne Schlaf auszukommen. Deshalb war es für Snees höchste Zeit geworden, die Boote zu finden. Er hatte sich entschieden, dem Lauf des Wassers zu folgen, denn noch war das Ufer zu hoch gewesen, um Breitboote darauf ziehen zu können. So war der Gnom das Ufer entlang geeilt, gegen die Müdigkeit kämpfend und stets damit rechnend, auf Orks zu treffen. Snees hatte Glück gehabt. Weit und breit hatte sich kein Ork sehen lassen.

      Am Mittag fand er endlich die Boote. Kieloben lagen sie im Ufergras. Sie waren achtzehn Fuß lang und sechs Fuß breit. Leicht glitten sie durch das Wasser und konnten von vier Gnomen über eine kurze Strecke im Laufschritt getragen werden. Wenn auch mit Mühe, so gelang es Snees doch, ein Boot auf den Kiel zu stemmen und über die Uferböschung in den Fluss zu stoßen. Der Gnom griff sich ein Paddel und sprang in das Boot. Er legte Säbel und Gepäcksack ab und stieß das Paddel gegen das Ufer. Das Boot glitt in die Strömung. Snees setzte sich auf die Heckbank und umfasste die Ruderstange. Er war erschöpft, doch auch glücklich. Bald würde er die Heimat wiedersehen. Mit etwas Glück würde er eine Stelle finden, an der das Ufer über das Wasser ragte, sodass er das Boot darunter verstecken und ein wenig schlafen konnte.

      Kapitel 6

      Snees erwachte durch einen Ruck. Das Boot schaukelte leicht. Über Snees erstreckte sich der blaue Himmel. Der Gnom richtete sich auf. Es war noch Morgen. Die frühe Sonne hatte ihren Stand kaum verändert. Die Müdigkeit hatte ihn einschlafen lassen. Er hatte das Steuerruder losgelassen und war von der Heckbank gerutscht. Während er schlief war das Boot weiter getrieben, bis es sich mit dem Bug am Ufer verfing. Obwohl Snees nur kurz geschlafen hatte, fühlte er sich ausgeruht. Von Orks war noch immer nichts zu sehen. Das konnte sich jederzeit ändern. Snees würde sich erst sicher fühlen, wenn er aus dem Wald heraus war. Mit dem Paddel stieß er das Boot vom Ufer ab, dann setzte er sich wieder ins Heck.

      Mit der Zeit, die die Sonne brauchte, um bis zum Zenit emporzusteigen, veränderten sich Fluss und Landschaft. Der Abstand der Ufer zueinander vergrößerte sich. Der Wald wurde lichter. Schließlich blieben die letzten Bäume zurück, und beidseitig des Flusses dehnte sich weites Grasland. Snees kam nun langsamer voran, als zuvor im Wald, wo der Fluss schmaler und die Strömung stärker gewesen war. Er hielt das Breitboot in der Flussmitte und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Als die Sonne zu heiß für einen Sumpfgnom schien, lenkte er das Boot ans Ufer. Es knirschte, als der Bug über den Sand glitt. Snees wollte seinen Körper kühlen, außerdem wurde es Zeit, etwas zu essen. Er richtete sich auf und schaute beidseitig des Flusses über die Ebene. Da war nur Grün. Ein Trupp Orkkrieger wäre auf dem flachen Land nicht zu übersehen. Er legte die Knöchelkette ab, schwang