Maryam Munk

Das Kamjuna


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Kriegern die Hoden abzubeißen.

      Als der Trupp gegen Mittag das Heerlager der Nordorks erreicht und es verlassen vorgefunden hatte, war es Bragg klar geworden, dass die Schlacht des Tages schon begonnen hatte. Er wusste nicht, wo genau gekämpft wurde, deshalb führte er seine Krieger über den einzigen Pfad die Berge hinauf, der sich ihren Stiefeln bot. Trotz der Flüche, Beschimpfungen und Drohungen kam der Trupp nur langsam voran. Nach einem Wutausbruch, womit Bragg die eigene Erschöpfung überspielte, genehmigte er den Kriegern eine Rast. Mit seinen fast vierzig Jahren war er nicht mehr jung, und das ständige Brüllen erschöpfte ihn ebenso wie der Aufstieg.

      Die Orks ließen sich auf einem seicht abfallenden Hang nieder. Von einem Felsvorsprung oberhalb des Hangs, konnte Bragg den Trupp überblicken. Er beobachtete die jungen Krieger, wie sie beieinander hockten und Dörrfleisch aus ihren Rucksäcken holten. Ein Krieger besaß sogar zwei Rucksäcke.

      Der Hauptmann stutzte. "He, Ork!", rief er.

      Zweihundert Augenpaare richteten sich auf ihn.

      Bragg deutete auf einen Krieger. "Du, komm her!"

      Der Ork blickte unsicher.

      "Ja, du! Bring die Rucksäcke mit!"

      Der Krieger griff die Säcke und eilte zu seinem Hauptmann.

      "Wie ist dein Name?", fragte Bragg.

      "Mein Name?"

      Bragg zuckte verzweifelt den Kopf. "Nachdem deine Mutter dich geworfen hatte, bekamst du sicher einen Namen. Oder wurde das vergessen?"

      "Gawlak", sagte der Krieger.

      "Wie kommst du, Gawlak, an zwei Rucksäcke?"

      Der junge Ork wandte sich unbehaglich. "Als wir vor zwei Nächten in der Menschenhütte mit dem großen Eingang übernachtet haben, fand ich am Morgen einen Rucksack. Ich ging als einer der Letzten hinaus, und da war er noch immer. Da habe ich mir gedacht, wenn keiner ihn will, nehme ich ihn."

      "Ah, gedacht!", stellte Bragg fest. "Sehr gut, Gawlak. Gib ihn mir!"

      Der junge Ork reichte ihm den Sack. Bragg schnürte ihn auf, schaute hinein und wühlte mit einer Pranke darin. In dem Sack befand sich die übliche Ausrüstung eines Kriegers: Dörrfleisch, ein Wasserschlauch aus Tierdarm, ein Schleifkeil, Zunder, ein Schlageisen und ein Paar Ersatzstiefel. Waren Wams und Lendentuch zerrissen, kämpfte ein Ork nackt, doch niemals ohne Stiefel. Bragg stellte die fremden Stiefel neben die, die er trug. Sie schienen die gleiche Größe zu haben. Er steckte sie in den Sack zurück.

      "Ist gut, Gawlak. Du kannst gehen."

      Der Ork nahm seinen Rucksack, blieb aber abwartend stehen.

      "Was ist?", fragte Bragg.

      Der Ork deutete zum fremden Rucksack.

      "Der ist für mich. Ich bin der Hauptmann. Aber du sollst auch etwas bekommen, Gawlak. Ich ernenne dich zu meiner Rechten Pranke."

      Der junge Ork grinste erfreut.

      "Nun geh, aber bleib in meiner Nähe. Du wirst jetzt immer in meiner Nähe bleiben."

      Orks erbaten weder etwas noch bedankten sie sich, deshalb grunzte Gawlak nur begeistert. Nicht weit unterhalb des Felsvorsprungs, worauf Bragg saß, stieß er die Kameraden beiseite, um sich Platz zu schaffen. Bevor er sich setzte, blickte er noch einmal glücklich zu seinem Hauptmann empor.

      Bragg rieb sich das kantige Kinn und dachte nach. Ein Rucksack zu viel bedeutete, dass ein Krieger fehlte. Weshalb fehlte einer? War er verunglückt? War er getötet worden? Wenn ja, von wem und wann? Weshalb hatte es niemand bemerkt? Oder hatte er sich vom Trupp abgesetzt? Bragg ballte die Pranken. Verunglückt, getötet - es wäre nicht unbemerkt geblieben. Es kam vor, dass ein Ork im Streit von einem Kameraden erschlagen wurde. Den Toten tat man als Schwächling ab, damit war die Angelegenheit erledigt. Einem Hauptmann machte es keine Schande, wenn ein Krieger seines Trupps im Streit erschlagen wurde. Desertion war eine andere Sache. Ein desertierter Ork machte nicht nur sich und seinem Dorf, sondern auch seinem Hauptmann Schande. Mit dem Makel der Schande konnte ein Ork nur schwer leben. Es schien Bragg gar unmöglich zu sein. Er entsann sich der Geschichte, die den Orkkindern an den Feuern in den Hütten erzählt wurde, den Knaben zur Warnung, niemals feige zu sein, den Mädchen zum Gebot, einen feigen Krieger zu verachten.

      Vor langer Zeit hatte ein Südork sich als Feigling erwiesen. Statt seinen Kameraden in den Kampf zu folgen, hatte er sich versteckt und die Schlacht abgewartet. Die Orks siegten. Dann stellte sich heraus, dass ein Krieger fehlte. Er wurde niemals gefunden. Als die Krieger mit vielen Menschenköpfen, die sie auf Stangen gespießt hatten, heimkehrten, wurden sie im Dorf mit Jubelrufen empfangen. Doch statt stolz in das Dorf zu marschieren, kehrten die Krieger mit bedrückten Mienen ein. Das Triumpfgeschrei verstummte. Klagendes Geheul erfüllte das Dorf, als alle von der Feigheit des einen Ork erfuhren. Die Kunde verbreitete sich von Dorf zu Dorf. Der Stamm wurde von allen anderen Stämmen gemieden. Durch die Feigheit eines Einzelnen waren alle zu Geächteten geworden.

      Bragg schüttelte die unangenehmen Gedanken ab. Er stand auf und brüllte über das Lager. Die Rast war beendet.

      Kapitel 8

      Hoch im Gebirge, weit über der Baumgrenze, wo nur Flechten sich an den Fels klammerten, befand sich eine Burg. Sie war in die Steilwand eines Berges gemeißelt, und ein Erkerturm beulte sich wie eine steinerne Wucherung daraus. Wie oval geformte Augen befanden sich kleine Fenster in der Wand der Burg, die eigentlich ein Gefängnis war. Ein Hexenmeister hatte sie geschaffen, und eine Zauberin lebte darin.

      Hätten Menschen oder Zwerge sich in jenen schwer zugänglichen Teil des Gebirges gewagt, wären sie vermutlich vor der gespenstischen Wirkung der vermeintlichen Augen im Fels zurückgeschreckt. Sie hätten sich von einer bösen Macht beobachtet gefühlt und sich einen anderen Weg über die Berge gesucht. Ebenso wäre es Nordorks ergangen. Doch niemals kamen Menschen oder Zwerge oder Orks an diesen Ort. Selbst Tiere mieden den verzauberten Platz. So stand die Burg im Fels wie unter einer Kuppel aus Stille, deren Ruhe nur der Regen störte oder der Wind, wenn er zwischen den Wipfeln heulte. Aber die Zauberin war nicht alleine. Sie besaß eine Dienerschaft, die alles für das Wohl ihrer Herrin tat. Und zu ihrer Gesellschaft lebte ein großer, weißer Vogel mit in der Burg, die eigentlich ein Gefängnis war.

      In ihrer Jugend war die Zauberin von einem Hexenmeister begehrt worden, aber sie hatte sich ihm verweigert, denn der Hexenmeister war nicht nur alt und hässlich, er hatte auch einen boshaften Charakter. Die Zauberin aber, wenn auch stolz, besaß ein gutes Wesen. "Selbst wenn Euer Herz nicht wie eine tiefe Grube in einer Nacht ohne Mondschein wäre", hatte sie dem Hexenmeister gesagt, "würde ich mich Euch nicht geben. Lieber sähe ich meine Schönheit vergehen, ohne dass mich jemals ein Mann berührte."

      Der Hexenmeister strafte die Zauberin, indem er ihre Worte wahr werden ließ. Seine Magie schuf die Burg, wo hinein er die Stolze verbannte. Als einzigen Blick in die Welt, gab er ihr einen magischen Spiegel. Doch immer, wenn sie in den Spiegel sah, erblickte auch sie sich darin. Der Hexenmeister war mit seiner stärkeren Magie zwar mächtiger, als die Zauberin, doch er war nicht allmächtig. Er vermochte die stolze Frau in der Burg gefangen zu halten, doch mehr Macht besaß er nicht über sie. Jahre vergingen, in denen die Zauberin ihre Kunst beschwor, um Rettung zu finden. Wieder und wieder schickte sie den weißen Vogel aus, der ihr Auge und Ohr war. Täglich schaute sie in den Spiegel, beobachtete die Geschehnisse der Welt, und wenn die Bilder schwanden, erblickte sie sich selbst in dem großen Kristall. Ein Abbild, das mit den Jahren älter wurde.

      Manchmal vernahm sie im Schlaf die Stimme des Hexenmeisters, der sie quälte, indem er ihr seine lüsternen Gedanken in die Ohren keuchte. Dann verließ sie das Bett, ging zum Spiegel, um in die nächtliche Welt zu schauen, oder sie besuchte den weißen Vogel, dessen Krallen nachts in den Ast eines Baumes schnitten, der inmitten eines gezauberten Waldes stand, der eine riesige Halle füllte. Der Vogel schien nie zu schlafen. Betrat die Zauberin mit einem Licht in der Hand seinen Wald, wartete er schon auf sie. Im Lichtschein, das den Zauberwald mit Helligkeit füllte, sprachen die Zauberin und der Vogel miteinander und vergaßen