Michael Schenk

Die Pferdelords 09 - Die Nachtläufer des Todes


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die Entfernung waren die Frauen nur an Haarfarbe und Haartracht zu unterscheiden.

      „Was sind das für Stöcke, die sie da halten?“, raunte Gelbat-Mann.

      „Keine Stöcke“, erwiderte Sebor-Mann ebenso leise. „Die Übereinkunft mit den Frauen verbietet Fernwaffen wie Bögen oder Speere. Die verdammten Hüterinnen haben sich mit Blasrohren ausgerüstet und so den Vertrag umgangen.“

      „Sie haben die Übereinkunft gebrochen?“

      „Nein, sie waren nur schlauer als wir. Hinterlistiger, um genau zu sein.“

      „Wir könnten auch solche Dinger anfertigen“, brummte einer der anderen.

      „Könnten wir“, zischte Herdur-Mann, „aber wir tun es nicht. Solche Waffen sind eines Mannes nicht würdig. Man sieht dem Feind ins Auge, wenn man mit ihm kämpft. Diese Blasrohre sind heimtückisch und passen zu den Weibern. Damit kann man aus dem Hinterhalt töten. Kein Mann käme auf so eine Arglist.“

      „Die Legenden berichten, dass wir früher Bögen und Speere besaßen“, meinte Gelbat-Mann.

      „Damals hatten wir auch noch einen König und keinen Kronenträger.“ Sebor-Mann stieß den Jüngeren an. „Und jetzt Ruhe. Denk daran, lass dir keinen Widerwillen anmerken, wenn die Weiber dich nun berühren.“

      Ein anderer Mann lachte leise. „Bald muss er weit mehr tun, als sich nur berühren lassen.“

      „Es gibt Schlimmeres“, meinte Sebor-Mann.

      „Du musst es ja wissen“, kam die Erwiderung. „Du gehst ja nun schon zum dritten Mal in die Stadt der Frauen.“

      Sebor-Mann nickte. „Man gewöhnt sich daran. Soll ich einen anderen Mann für mich leiden lassen?“

      „Ruhe“, zischte Herdur-Mann. „Ich verlange Disziplin von meinen Bullen.“

      Die Gruppe der Hüterinnen stand am Ende der Brücke und versperrte den Männern den Weg. Die Gesichter waren unfreundlich, und die Hände lagen an den gefährlichen Blasrohren.

      „Es ist die Zeit der Empfängnis“, sagte Herdur-Mann anstelle einer Begrüßung. „Ich bringe fünfzig Bullen, wie die Übereinkunft es verlangt. Gebt den Weg frei, Hüterinnen, damit wir unsere Pflicht erfüllen.“

      „Wir werden den Weg freigeben und euch zur Stadt Julinaar eskortieren, wenn wir uns vergewissert haben, dass ihr keine Bedrohung des Friedens darstellt.“ Eine der Frauen, die einen seltsam geflochtenen Lederknoten auf der rechten Schulter trug, deutete mit dem Blasrohr auf Herdur-Mann. „Stellt euch in einer Reihe auf. Wir werden nachsehen, ob ihr verborgene Waffen tragt.“

      „Wir halten uns an die Übereinkunft“, knurrte Herdur-Mann.

      „Lasst es euch geraten sein“, erwiderte die Anführerin der Wache genauso unfreundlich. „Wir kennen die Heimtücke von euch Männern.“

      Vier der Frauen tasteten die Männer mit raschen und kundigen Bewegungen ab. Die Anführerin nickte und machte eine einladende Bewegung. „Geht voraus, Bullen. Ihr kennt den Weg. Weicht nicht von ihm ab. Wir folgen euch und behalten euch im Auge.“

      Ja, einige der Männer waren bereits in der Stadt der Frauen gewesen, zudem war der Weg mit Steinen gepflastert und bequem. Er war eine der einst königlichen Straßen, welche die Dörfer und Städte des Reiches Julinaash miteinander verbunden hatten. Nun waren nur zwei Städte und etliche kleine Siedlungen geblieben. Es gab einfach nicht mehr genug Menschen, um das Land wie einst zu bevölkern, und die Übereinkunft zwischen den Geschlechtern hielt die Bevölkerung auf einem nahezu gleichbleibenden Stand. Selbst die beiden großen Städte waren nur noch teilweise bewohnt. Einst hatte es drei Brücken gegeben, die den Strom des Eten überquerten, doch eine von ihnen waren zerstört worden, um den Wechsel zum jeweils anderen Ufer leichter kontrollieren zu können.

      Das Land der Frauen unterschied sich nicht von dem der Männer. Dennoch fühlten diese sich sehr unbehaglich. Waffenlos und dem Schutz der Hüterinnen anvertraut, versuchten sie ihre Unsicherheit hinter einer Maske des Gleichmuts zu verbergen.

      Gelbat-Mann gelang das nur unvollkommen. Der Anblick der Frauen hatte ihn aufgewühlt. „Sie sehen so anders aus als wir“, raunte er Sebor-Mann zu.

      „Natürlich sehen sie anders aus. Es sind schließlich Frauen.“

      „Ich wusste ja schon, dass sie Brüste haben“, flüsterte der junge Mann fasziniert, „aber sie haben so wenige Haare. Also, am Körper meine ich. Ihre Haut ist ganz glatt. Sie schimmert wie ein See im Mondlicht.“

      Einer der anderen hatte das gehört. „Lass dich nur nicht von ihnen verzaubern. Denke daran, sie sind Frauen. Voller Heimtücke und sehr gefährlich.“

      Sie würden mehrere Tageswenden durch das Land der Frauen marschieren müssen, bevor sie Julinaar erreichten. Sie waren darauf vorbereitet, und jeder trug eine Tasche mit Proviant bei sich. Um Wasser brauchten sie sich nicht zu sorgen. In Julinaash gab es eine Vielzahl von Bächen und heißen Quellen.

      In den Nächten drängten sich die Männer dicht beisammen. Die Hüterinnen lagerten ein Stück abseits, doch ihre Wachen ließen die unwillkommenen Besucher nicht aus den Augen.

      Niemand wanderte während der Nächte. Der Dschungel war zu gefährlich, und früher waren Menschen in ihm verschwunden, die nie wieder gesehen worden waren. Sobald die Sonne versank, suchte man den Schutz einer Siedlung auf und mied die Dunkelheit, bis sie erneut dem Sonnenlicht wich.

      Einmal stieß die Gruppe auf ein Dorf der Frauen. Rasch eilten zwei Hüterinnen voraus und warnten die Bewohnerinnen, die in den Häusern verschwanden, bis die Männer vorbeigezogen waren. Dann, am dritten Tag der Wanderung durch das Frauenland, erreichten sie endlich den Hügel, von dem aus man die Stadt sehen konnte.

      Julinaar.

      Der Edelstein in der Krone des Reiches von Julinaash. Die Stadt des Königs und das Zentrum unvergänglichen Ruhmes. Von hier war das verborgene Reich regiert worden.

      Der Kern der Stadt war in einem perfekten Kreis angelegt worden, doch im Laufe der Jahre war die Stadt gewachsen und hatte diese Grundform verloren. Die späteren Straßenzüge verliefen dort, wo es leicht gewesen war, den Dschungel zu roden. Im Stadtzentrum erhoben sich der alte Königspalast und eine Vielzahl hoher Gebäude, die einst von Bedeutung gewesen waren oder Bürgern von hohem Rang gehört hatten. Julinaar war nicht nur das Zentrum der Macht, sondern auch das des Wissens und der Kultur gewesen. Wissenschaft und Magie, Philosophie und Kunst hatten der Stadt ihre besondere Prägung verliehen. Die muschelförmigen Theater hoben sich von den eiförmigen Bauten der Wissenschaftler und Zauberer ab, die kastenartigen Wohnbauten bildeten hierzu einen auffälligen Kontrast. Dazwischen waren die bunten Fassaden von Händlern zu sehen. Julinaar hatte sich nie eigenständig versorgen können, und die Märkte dienten dem Handel mit Lebensmitteln und dem Austausch von Neuigkeiten.

      Die Ausdehnung der Stadt war beeindruckend. Es gab eine Mauer, die sie vollständig umschloss, aber sie war nur wenige Längen hoch und nicht befestigt. Ein schmaler Wehrgang bot gerade genug Raum für die patrouillierenden Wachen. Mehr war auch nicht erforderlich. Kein Feind hatte je seine Schritte nach Julinaash gelenkt. Seine Nordgrenze wurde vom Kaltmeer geschützt, der Rest des Landes war von dem gewaltigen Ring des Eisgebirges umgeben. Der einzige Pass im Süden war leicht zu schützen gewesen, und die Mauer der Stadt hatte nur dazu gedient, die Tiere des Dschungels fernzuhalten.

      Doch von all dem war nur wenig geblieben.

      Das einstige Königreich von Julinaash war zerfallen, und dieser Zerfall machte sich in der alten Stadt bemerkbar.

      Der Dschungel hatte begonnen sie zurückzuerobern.

      Von dem Hügel aus, auf dem die Männer und die Hüterinnen standen, war das gut zu erkennen. Im Westen und Norden war die Stadtmauer geborsten, und die üppige Pflanzenwelt hatte sich ihren Weg nach Julinaar gebahnt. Ganze Straßenzüge waren überwuchert, und kaum die Hälfte der Stadt war noch bewohnbar. Die Frauen kämpften fortwährend gegen die Ausbreitung von Farn und Gras und fällten die rasch