Wind, damit er sie weit fortträgt. Die dunklen Worte, die sie dabei aus Versehen ausspricht, bemerkt sie nicht. Erst als neben ihr ein kleiner Busch in Flammen aufgeht, hält sie inne. Sorgsam löscht sie das Feuer und holt Luft. Vor ein paar Monaten hätte sie so etwas noch in Panik versetzt, aber nachdem sie am eigenen Leib erfahren hat, zu was Magie imstande sein kann, erschrecken sie solche Ereignisse nicht mehr.
»Dennoch sollten sie mir nicht in der realen Welt passieren.«
Das Mädchen setzt sich unter den Felsvorsprung, neben dem sie das Weihnachtspicknick veranstaltet haben, und genießt die Ruhe. Es ist ein friedlicher Moment. Lächelnd sieht sie auf das Meer.
Nach einer Weile zieht sie ihre Kapuze ins Gesicht und steckt ihre Hände in die Jackentaschen, da es zu vorgerückter Stunde doch kalt wird. Der Sommer ist endgültig zu Ende. Nun kommt die dunklere Jahreszeit zurück.
»Schade. So viel hatte ich dieses Mal nicht vom Sommer. Den größten Teil der letzten Ferien habe ich im dunklen Phad verbracht und danach … Ich hasse die ewige Dämmerung«, flüstert sie versonnen.
J.J. hält inne, da sie plötzlich etwas in ihrer Jackentasche fühlt. Sie umschließt es ganz fest und schluckt. Für ein paar Sekunden erstarrt ihr Körper und sie hat große Mühe, nicht gleich wieder zu loszuweinen.
Zögerlich holt sie den kleinen Stein heraus und betrachtet ihn. Sanft streicht sie über das Kreuz, das immer noch deutlich sichtbar ist. Sie geht ans Ufer und starrt eine Zeit lang auf die raue See. Der Stein ruht warm in ihrer Hand, scheint jedoch mit jeder Minute schwerer zu werden.
»Du bist das Zeugnis meines Versagens, meiner verlorenen Hoffnung und die unerbittliche Erinnerung, dass ich nun schwarzes Blut habe. Das ist nicht fair«, flüstert sie, während sie langsam in das Wasser hineingeht. Die kalten Ausläufer der Wellen umspülen ihre Schuhe und ihre Knöchel. Als das Wasser ihr bis an die Unterschenkel reicht, bleibt sie stehen und öffnet langsam die Hand.
»Obwohl ich dich so oft in der Hand gehalten habe, ist das Kreuz immer noch deutlich zu sehen. Ich dachte, wenn ich dich festhalte, kann ich ganz nah bei ihm sein, da ich gehofft habe, dass du uns irgendwie verbindest. Aber eigentlich hast du mich die ganze Zeit nur daran erinnert, dass er fort ist.
Ich fühle, dass er irgendwo da draußen ist. Vielleicht finde ich eines Tages tatsächlich einen Gegenzauber oder wenigstens eine Antwort, warum diese Katastrophe passieren musste. Aber ich bin nicht wie meine Großmutter. Ich kann nicht vierzig Jahre warten und mit diesem Schmerz leben. Ich lasse dich jetzt los. Ich will frei sein. Frei von der Vergangenheit und von ihm …
Ich bin jetzt Jezabel, die schwarze Prinzessin. Linus wollte mir helfen, den rechten Weg zu finden. Doch dann war ich gezwungen diesen Zauber anzuwenden, weil niemand da war und mir half. Jetzt wollen sie bestimmen, wie ich weiterlebe. Ich weiß nicht, ob ich das zulassen kann.
Genauso wenig, wie ich weiß, ob ich einem kleinen Stein die Macht geben möchte, mich den Rest meines Lebens an eine Schuld zu binden, deren Ursache ich nicht kontrollieren konnte. Ich akzeptiere: Du bist fort!!! Basta!«
Sie ballt ihre Hände zu Fäusten und geht noch ein Stück ins Meer hinein. Es erinnert sie daran, als sie in den Traubenperlensee gegangen ist. Das schwarze Wasser dort hatte sich gut angefühlt. Ganz warm und weich. Sie fühlte sich willkommen und vollkommen frei, obwohl sie damals auch allein war und so furchtbare Angst um ihn hatte.
Dieses Wasser hier ist eiskalt und die Wellen prallen hart gegen ihre Beine. Trotzdem geht sie immer weiter und sieht hasserfüllt in den Himmel.
»Du bist nichts! Brüll mich ruhig weiter mit deinem vergifteten Atem an! Das wird nichts ändern. Du weißt nichts!«, schreit sie dem Sturm entgegen. »Und, macht es Spaß, ein Mädchen zu verhöhnen? Meinst du, das macht mir Angst? Ich habe schon ganz andere Dinge erlebt!«, brüllt sie wie von Sinnen weiter.
Da hält der Wind plötzlich inne und die Wogen glätten sich, bis das Meer ganz ruhig vor ihr liegt. Das Wasser reicht ihr mittlerweile bis zu den Oberschenkeln.
J.J. sieht sich verwirrt um.
»Was passiert hier?«, stottert sie verwirrt.
Plötzlich überkommt sie das eigenartige Gefühl, dass sie jemand beobachtet, kann jedoch niemanden entdecken. Der Strand ist menschenleer und es sind auch keine Fischerboote in der Nähe.
»Es ist das Meer! Ich kann es fühlen. Irgendetwas stimmt nicht«, flüstert sie.
Sie streicht sanft über die Wasseroberfläche und betrachtet verstört ihre nassen Finger. Das Wasser auf ihrer Hand verfärbt sich. Es wird schwarz!
Erschrocken tritt sie zurück und schleudert den Stein mit hasserfüllter Miene aufs Meer hinaus.
»Ich will dich nicht! Ich wollte dich nie! Lasst mich alle in Ruhe!«, schreit sie ihm nach.
Als der Stein die Wasseroberfläche berührt, setzt das Wasser sich wieder in Bewegung. So gewaltig und unerwartet, als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Um den Stein bildet sich ein gewaltiger Strudel, der ihn wildbrausend in die Tiefe reißt. Dann beginnt das Meer zu murmeln. Dunkle Worte dringen vom Meeresgrund, die J.J. zwar nicht versteht, deren Ursprung sie aber erahnen kann. Sie ist wie erstarrt. Mit aufgerissenen Augen beobachtet sie das Spektakel.
»Das darf nicht wahr sein!«, denkt sie entsetzt, als sich das Wasser um sie herum plötzlich wütend auftürmt und der Sturm mit brachialer, ungeheuerlicher Kraft zurückkommt. Das Mädchen hält sich die Ohren zu und presst den Mund fest zusammen, da diese Gewalt ihr buchstäblich den Atem raubt.
Im nächsten Augenblick zieht sich das Meer zurück, um sich unweit von ihr zu einer kolossalen Wasserwand aufzutürmen. Dann verdunkelt sich der Himmel. Schwarze, tief hängende Wolken schließen sich zu gewaltigen Armeen zusammen und schreiten entschlossen auf sie zu.
Mittlerweile ist es so stürmisch, dass sich J.J. nicht mehr auf den Beinen halten kann. Vor Angst gelähmt liegt sie im Schlamm und sieht dem monströsen Schauspiel zu.
»Hilfe. Ich brauche Hilfe!«, flüstert sie ängstlich, während sie schockiert auf die gigantische Wasserwand starrt, die unaufhaltsam auf sie zuwandert. Als dann auch noch riesige Blitze aus dem Wasser geschossen kommen, die krachend in den pechschwarzen Himmel fahren, ist sie sich endgültig überzeugt, dass dieses Phänomen nicht weltlicher Natur ist.
J.J. versucht aufzustehen, um zu fliehen. Aber der Sturm drückt sie immer wieder zurück. Da passiert etwas Ungeheuerliches.
Aus der Wasserwand löst sich ein gigantisches Relief, das mit immenser Geschwindigkeit auf sie zugerast kommt. Dem Mädchen bleibt vor Schreck fast das Herz stehen.
Während diese seltsame Welle auf sie zurollt, verformt sie sich zu einem bekannten Gesicht, das sie dämonisch angrinst. J.J. kann nicht glauben, was sie da sieht.
»Das muss eine Halluzination sein! Was hier gerade passiert, darf nicht sein«, stottert sie fassungslos. Es ist Sander, der Fährmann vom Traubenperlensee! Geformt aus Wasser schreitet der Dämon in ihre Richtung.
»Das ist die reale Welt! Kein Dämon darf sich hier ungerufen zeigen«, schreit sie ihm entsetzt zu, während sie verzweifelt versucht, vom Ufer wegzukriechen.
»Jezabel! Warum die Eile? Ich dachte, wir wären Freunde. Du kannst dich nicht ewig in der realen Welt verstecken! Es ist deine Bestimmung! Verstehst du das nicht? Je länger du dich hier verkriechst, um so mehr verblassen die Grenzen, weil andere deine Pflichten übernehmen. Es ist dein Schicksal, dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Du musst das große Ganze sehen. Auch die Unsrigen verzehren sich nach deiner Macht, dunkle Herrscherin. Die Zeit eilt!«
Die Stimme von Sander ist laut, aber genauso ruhig und betörend wie damals, als sie ihm beinahe die Seele ihrer Großmutter verkauft hätte.
Das Mädchen liegt auf dem schlammigen Boden und sieht mit aufgerissenen Augen auf den Wasserkoloss, der auf sie zugerollt kommt. Kurz bevor es das Mädchen erreicht, löst sich das Wassermonster plötzlich auf und schwappt als riesige Welle auf sie zu.
J.J. versucht verzweifelt aufzustehen, aber der Sturm