Heinz Schöpf

Hundswand


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setze mich auf und stütze mich am Ellbogen ab. Hundsviehs Schnauze wandert von meiner Bauchfalte zur Achselhöhle und gräbt sich dort ein.

      „Hast du eine Ahnung, warum die alle talwärts ziehen? Ausgerechnet jetzt, zu Beginn des Sommers?“

      Leises Gurgeln. Ein lang gezogener Seufzer.

      „Sehnsucht nach den Jägern, oder was meinst du?“

      Hintereinander ein paar diskrete Niestöne, unterdrücktes Gelächter?

      „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rund und trägt Sandalen.“

      Ein Knurrton in meiner Achselhöhle.

      Gerade als ich „Reingelegt!“ rufen und Hundsvieh in den Hintern kneifen möchte, taumelt der Pfarrer vorbei, als Letzter in der Reihe.

      Genau so, nur ein bisschen abgezehrter, habe ich mir als Kind den Heiligen Franz von Assisi vorgestellt. Oder war es Noah? – Du lieber Himmel, es sieht wirklich so aus, als treibe da drüben Noah die Tiere des Waldes hinunter zu seiner Arche.

      Die Wolken haben sich zu gallertartigen Schirmen formiert, sie lassen sich mit der Strömung des Südwinds treiben wie riesige Quallen im blauen Ozean des Firmaments, die Lust verspüren, mit ihren Tentakeln nach mir zu greifen.

      Ich drücke Hundsviehs Körper fester an mich und flüstere in sein Fell.

      „Hast du eine Ahnung, was hier vor sich geht?“

      Keine Reaktion.

      „Gott sei Dank! Da bist du ja!“

      „Herr Pfarrer!“

      Hundsvieh beißt mir in den Oberarm.

       20

      Als der Pfarrer mich umarmt, springt Hundsvieh hoch, macht Männchen und schlingt seine Pfoten um unsere Hälse. Von einem Hochsitz aus präsentieren wir uns wohl als drei tanzende Fußballer, die Hundsviehs Siegestor bejubeln.

      Der Donner in unmittelbarer Nähe klingt wie frenetischer Applaus. Rührt daher meine Gänsehaut?

      Hundsviehs Pranken verweilen nur kurz auf unseren Schultern. Mir verpasst es eine sanfte, ja liebevolle Ohrfeige, den Pfarrer schlägt es mit einem kraftvollen Hieb zu Boden. Noch im Fallen gibt er unverständliches Zeug von sich. Es hört sich an wie „Gottseibeiuns.“

      Hundsvieh springt auf und davon.

      Über den Wipfeln sammeln sich Schwärme von Krähen, aus allen Himmelsrichtungen strömen sie herbei, ihr Geschrei klingt nicht nach ihrem sonst so verspielten, kecken Kraah-Kraah, es hat sich in ein Har-Har verwandelt, zu jenem zynischen Gelächter der Panzerknacker.

      Während ich versuche, den Pfarrer in die Sitzposition zu hieven, nehme ich ganz in der Nähe einen Chor unterschiedlichster Waldvögel wahr. Ich packe den Pfarrer unter den Achseln, ziehe ihn zur nächsten Fichte und lehne seinen Oberkörper an den Stamm. Erschöpft lausche ich den Vogelstimmen und versuche, sie den einzelnen Sängern zuzuordnen. Ein Stimmengewirr von Meisen und Grünfinken, von Gimpeln und Zilpzalpen, von Kuckucken und … das gibt es doch nicht … ich höre es ganz deutlich … von Ziegenmelkern. Was hat das Gezwitscher dieser unscheinbaren Vögel hier verloren, noch dazu um die Vormittagszeit?

      Der Pfarrer steht stöhnend auf und versucht, zu mir zu humpeln.

      „Werden wir abgeholt? Ich vernehme das Geräusch von Motorrädern.“

      „Nein, keine Motorräder. Der Gesang der Ziegenmelker. Gott sei Dank, dass Sie wieder wohlauf sind.“

      „Apropos. Hunger! Und Durst! – Ziegenmelker?“

      „Sie haben richtig gehört. Diese scheuen, kleinen Kerle, übrigens dämmerungs- und nachtaktiv.“

      „Schon so spät?“

      „Eben nicht.“

      „Seltsam.“

      „Finde ich auch.“

      „Klingt nach Problemen.“

      „Nein.“

      „Nein?“

      „Klingt nach Unheil."

      „Du lieber Himmel.“

      „Sie sagen es.“

      „Ich fühle es.“

      „Ich auch.“

      Har-Har.

       21

      Und dann ging sie zu, die Wand, genau zwischen dem Pfarrer und mir.

       22

      Noch bevor ich auch nur irgendeinen Gedanken dingfest machen kann, spaziert Hundsvieh aus dem Gebüsch, vergnügt, entspannt, gut gelaunt, leckt an meiner Hand, betrachtet die reglose Gestalt hinter der Wand, abschätzig, respektlos, hebt sein Hinterbein und lässt sein Wasser ungeniert gegen die Wand prasseln, wie um sein, nein unser neues Revier abzustecken. Dann schaut es mich an.

       Das wäre nun also erledigt. Ich habe dich gewarnt. Nicht nur einmal. Du hast nicht begreifen wollen. Vergiss deine Vergangenheit, jetzt heißt es vorausschauen und vor allem Ruhe bewahren. Wir zwei benötigen ab nun Sinn und Verstand, letzteren vor allem du.

      Ich laufe los.

      Ich blicke kein einziges Mal zurück.

      Ich stolpere über Wurzeln und Steine, schlage mir die Füße an Dornen und Disteln wund, spüre den Schmerz nicht, nicht meinen Herzschlag, spüre nichts, renne und falle, stehe auf, schreie, bekreuzige mich, knie mich hin, schweige, wälze mich im Moos, ohrfeige mich, lache drauflos, weine, spucke auf eine Föhre, lecke an ihrer Rinde, zertrete wahllos Pilze, rupfe Grasbüschel aus, werfe sie in die Luft, fange sie mit dem Gesicht auf, ziehe an Farnen, greife nach einem Fichtenzapfen, schleudere ihn gegen den Stamm der nächstbesten Lärche, klaube einen Käfer auf, wirble auch ihn in die Höhe, fange ihn auf, bevor er seine Flügel streckt und davonfliegen möchte, specke ihn mit zwei Fingern wie einen Zigarettenstummel ins Gras, kümmere mich nicht mehr um ihn, laufe weiter, weine, weil ich mich so nicht kenne, so unbeherrscht, so grob, so herzlos, Marlen, he, das ist doch jetzt wohl nur ein Scherz, ich ziehe mir die Flipflops von den Füßen, schleudere sie gegen einen Felsen, trample auf ihnen herum, ergreife einen, lege ihn am Fuß eines Ameisenhügels ab, beobachte die Ameisen, wie sie darüber spazieren, als wär nichts geschehen, eine Golden Gate, Mädels, extra für euch, ha, ha, ich spucke auf euren Hügel, lege die flache Hand ganz nah an ihn heran, rieche daran, alles wie gehabt, meine Damen, eure Säure fährt mir ins Hirn, lasst euch nicht weiter stören, lasst euch von einer lächerlichen Wand nicht aus eurem Rhythmus bringen, ich renne barfuß weiter, Hundsvieh folgt mir auf Schritt und Tritt, es beäugt mein Tun, ich halte inne, um Luft zu holen, geh weg, lass mich alleine, bleib da, lass mich nicht im Stich, ich zerquetsche mit dem rechten Fuß die Ameisen, die meine linke Wade hinauf geklettert sind, ich weine, weil sie mir sofort leidtun, weine über mich, den ich so nicht kenne, der mir mit einem Mal so fremd ist, ich reiße mir die Riemen des Rucksacks von der Schulter, öffne nacheinander die Reißverschlüsse, krame in den Taschen herum, suche das Handy, endlich, aber was soll ich damit, wen anrufen, wer ist denn relevant, ich ärgere mich über das Wort relevant, das ist in diesem Moment einfach nicht, wie soll ich sagen, relevant, haha, ich Witzbold, sogar unter diesen Umständen noch humorvoll, ein Spaßvogel, ich raufe mir die Haare, also, wen bitte anrufen, jetzt sag ich auch noch bitte zu mir selber, also was bringt das, so ein Anruf, Polizei, lächerlich, Rettung, mir fehlt ja nichts, Feuerwehr, die haben allesamt Wichtigeres zu tun, nämlich zu sterben, wie der Pfarrer, seine Augen, wie die geschaut haben, dieser Blick, so verwundert, nein, stärker, so verblüfft, nein, trifft es auch nicht, so fassungslos,