Heinz Schöpf

Hundswand


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kürzer zu treten, folglich artet jeder Schritt zu einer kleinen, schmerzhaften Expedition aus, die Knie knicken immerzu ein, der Oberkörper verweigert den aufrechten Gang, am besten wird sein, wenn du durchs Dickicht robbst, wie damals als Rekrut, erinnerst du dich?, lallt meine Zunge, ich verwünsche meine Entscheidung, eine Abkürzung genommen zu haben, sei nicht so weinerlich und lass dir Zeit, die zehn Minuten bis zur Almhütte werden wohl zu schaffen sein, und noch bevor mir eine passende Erwiderung einfällt, taucht mein geliebtes Kalb, mein Schaf, mein Trüffelschwein wie aus dem Nichts vor mir auf, wirft sich auf mich, legt mir seine Vorderpfoten um den Hals, drückt mir mit der Schnauze den Kehlkopf zu, hält meine Zunge im Zaum, schleckt mein Gesicht ab, wälzt mich hin und her wie einen Strudelteig, ein Déjà-vu: das Zuschlagen einer Wohnungstür, Schritte im Treppenhaus, die auseinander driften, die einen schwerfällig, gemessenen Schrittes, nach unten verhallend, die anderen leichtfüßig, barfuß, flink nach oben hüpfend, zu mir herauf, über die Schwelle, in die Dachmansarde. Sybille, wie lange ist das her, dass du mich fast umgebracht hättest vor lauter Liebe?

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      Ein Jäger auf seinem Hochstand, die zappeligen Finger an den Okularen seines Fernglases - endlich ist der Bildausschnitt scharf gestellt. Der Jäger traut seinen Augen nicht, denn was er zu sehen bekommt, beschämt und verstört ihn:

      Ein Mensch und ein Tier in liebevoller Umarmung.

      Ein feinsinniges Auge hingegen würde sofort erkennen, dass an dieser Liebkosung irgendetwas nicht stimmt, die ist um eine Nuance zu heftig, eine Spur zu gewaltvoll.

      Die Zähne des Hundes beißen sich im Nacken des Menschen fest.

      „Hundsvieh! Aua! Du tust mir weh! Lass los! Spinnst du? Pfui!“

      Erneutes Donnergrollen. Diesmal von den fernen Gipfeln herab.

       17

      Mir fehlt die Kraft, Hundsvieh in die Flanke zu treten, es bei den Ohren und Eiern zu packen und von mir wegzustoßen. Außerdem würde ich das auch in nüchternem Zustand nicht zu Wege bringen. Dafür mag ich es viel zu sehr.

      Dafür hasse ich es im Moment viel zu sehr.

      Soeben schnappt es nach meiner rechten Wade, ignoriert meinen Aufschrei, schüttelt mein Bein wie die Hyäne ihr Stück Aas, sobald ich auch nur ansatzweise versuche, mich aufzurichten und meinen Körper Richtung Almhütte zu drehen, es zwingt mich, in kleinen Etappen talwärts zu robben, und kaum dass ich versuche, in die Hocke zu gelangen, krallen sich seine scharfen Tatzen in meiner Kniekehle fest, ich sinke auf der Stelle zu Boden, seine Lefze schubst und drängt mich unaufhörlich weiter nach unten, in die Tiefe, bis ich nahe am Abgrund eines Steilhanges auf dem Rücken zu liegen komme, eine Hand klammert sich an einem Moospolster fest, die andere am Rucksack, dessen Riemen sich während meiner Rolle rückwärts offenbar von meiner Schulter gelöst haben, ich blicke zum Himmel und schaue den Wolken hinterher, die von den Berggipfeln zu mir herüber wandern, in der Hoffnung, dass sie meine düsteren Gedanken zerstreuen, stattdessen führen sie noch unheilvollere Gedanken mit sich: Du meine Güte, was machst du da unten eigentlich? Für wen veranstaltest du dieses Theater? Du könntest jetzt gemütlich auf der Terrasse deines Stammcafés sitzen, bei Cappuccino und Buttersemmel, entspannt die Tageszeitung lesend oder dich auf die letzte Schulwoche vorbereitend, und was tust du stattdessen? Liegst im feuchten Moos herum und lässt dir von einem Hund, ei-nem HUND minutenlang den Hals abschlecken.

      Ich schließe die Augen, atme tief ein und blase meine Luft zu den Wolken, diesen trügerischen Souffleusen, um ihre hässlichen Einflüsterungen zu zerstäuben, ich drücke die Lider zu, so fest ich kann, und versuche mir vorzustellen, dass es die Zunge von Magdalena ist, die sich an meinem Hals zu schaffen macht, es gelingt mir nicht, denn ein zaghaftes, fragendes Wu unterbricht mein Grübeln, ein einziges Wu, eine Silbe nur, die an mein Ohr dringt und eine ganze Geschichte in sich birgt:

      „Ich weiß, ich bin zu weit gegangen, aber anders hättest du es nicht kapiert: Halt dich von da oben fern. Lass den Pfarrer allein zu deinen Freunden gehen. Lass uns umkehren. Meinetwegen per Autostopp nach Hause, obwohl ich im Moment nicht weiß, wo mein Zuhause ist, also von mir aus nach Limone, da wolltest du doch unbedingt hin, nimm mich mit, aber glaub ja nicht, ich dränge dich wegen der versprochenen Hundedamen, die sind überall hübsch, nicht nur in Italien, mir ist egal wohin, nur nicht dort hinauf, vertrau mir, ein einzelner Hund hat gefühlsmäßig mehr drauf als alle Menschen zusammen, und wenn du endlich kapiert hast, was ich dir seit Minuten mithilfe meiner Zunge an deiner pochenden Halsschlagader mitteilen will, und mich durch ein Augenblinzeln informierst, dass du verstanden hast, lass ich von dir ab und du darfst aufstehen, als wäre nichts geschehen. Dein Pfarrer hat übrigens Reißaus vor mir genommen. “

      Ich muss herausfinden, ob mein Gehirn normal funktioniert oder ob ich deliriere. Hundsvieh leckt mir meinen Hals. Warum? Weil meine Haut schlicht und einfach salzig schmeckt. Punkt. Das Tier ist zornig und aggressiv, weil es Hunger und Durst hat und endlich seinen gefüllten Fressnapf vor sich stehen haben möchte. Nachvollziehbar.

      Es hat Heimweh nach seinem Herrchen. Einleuchtend. Hunde binden sich bekanntlich ein Leben lang an einen Menschen. Richtig?

      In diesem Punkt bin ich mir nicht so sicher, weil ich kein Hundekenner bin.

       Finde es einfach selber heraus! Dieses Wochenende bietet sich geradezu an dafür! Manuel den Hund abspenstig zu machen, ist die Herausforderung schlechthin! Zeig dem Herrn Doktor med, für wen sich das liebe Vieh bis zu eurer Abreise am Sonntagabend letztlich entscheidet! Brauchst bloß sämtliche Hebel deines bewährten pädagogischen Registers ziehen! Prahlst doch auch sonst ständig mit deinen methodisch-didaktischen Fähigkeiten in der Weltgeschichte herum! Bei Hunden funktioniert das wie mit Halbwüchsigen: ein Häppchen Waldorf hier, ein Häppchen Frontalunterricht dort – wirst sehen, das Vieh frisst dir aus der Hand! Und vergiss die Peitsche nicht!

      Ich kann das nicht glauben. Ich starre zum Himmel. Ich muss blinzeln. Hundsvieh lockert seine Umklammerung. Die Wolken haben sich allesamt in Luft aufgelöst. Wer ist das, der statt ihrer zu mir spricht? Mein Bruder, dieser spöttische Klugschwätzer? Würde gut zu ihm passen. Andrerseits: der hat sich noch nie für mein Leben interessiert. Also Fehlanzeige. Mein Direktor? Bitte, jetzt nicht auch noch in mein Privatleben hinein nörgeln. Danke, das hat Zeit bis Montag früh. Hundsvieh? Nie und nimmer. Hundsvieh würde nie Vergiss die Peitsche nicht sagen. Und überhaupt: Welch ein Schwachsinn, dieser Spruch, Nietzsche, Hinterwäldler, wie verfällt ein Mann deines Kalibers auf derart dämliche Ideen? Im Übrigen ist Hundsvieh ein Männchen, wenn du verstehst, was ich meine.

      Ich schließe die Augen. Alles dreht sich. Ich öffne sie. Ich muss abermals blinzeln.

      Hundsvieh hält Wort und lässt von mir ab.

       18

      Der Gedanke, dass der Hund ein echtes Blinzeln von einem falschen nicht zu unterscheiden vermag, bereitet mir größere Sorge als jener an die fremde innere Stimme mit diesem monotonen, gleichgültigen Singsang, die sich in meinem Gehirn einzunisten beginnt wie das Geplapper der Tonbandansagerin aus den Lautsprechern der U-Bahn-Station. Klingt sie deshalb so ironisch, fast hämisch?

      „Limone oder Waldheimat? Hast du denn eine Wahl?“, fragt sie mich. „Willst du im Ernst deine Freunde im Stich lassen? Und lässt es sich mit deinem Gewissen vereinbaren, den Pfarrer alleine und benebelt im unwegsamen Gelände umher irren zu lassen und einfach wegzusehen, wie er in Jesussandalen abstürzt und sich womöglich das Genick bricht? Apropos Pfarrer: Wo ist er eigentlich? Such ihn. Ohne deine Hilfe wird er die Hütte nämlich nie erreichen. Zumindest nicht im Diesseits. Ha.“

      Täuscht es mich, oder hat die Stimme dreimal hintereinander das Verb lassen verwendet? (Einem Schulkind hätte ich diesen sprachlichen Mangel sofort angekreidet.) Außerdem spricht sie viel zu undeutlich. Hat sie nun Waldheimat oder Wahlheimat gesagt? Und was soll das heißen, deine Freunde im Stich lassen? Die beiden kommen locker ohne mich zurecht. Wie